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Artikel „Unruh, Hans Victor von“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 312–315, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Unruh,_Hans_Victor_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 06:31 Uhr UTC)
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Unruh: Hans Victor v. U., deutscher Parlamentarier, besonders bekannt geworden durch die Rolle, die er im J. 1848 als Präsident der preußischen Nationalversammlung gespielt hat, geboren am 28. März 1806 in Tilsit, † am 4. Februar 1886 in Dessau, entstammte der berühmten, früher polnischen, bereits seit Jahrhunderten aber mit Preußen verwachsenen Soldatenfamilie. Sein Vater, der 1814 bei Chateau-Thierry im Kampfe gegen Napoleon durch den Leib gestochen wurde, starb 1834 als preußischer Generalmajor. Schon mit dem 17. Jahre verdiente U. sich sein Brot selbst. Zu seinem Berufe erwählte er das Baufach. Lange Zeit war er im Dienste der Regierung in Schlesien als Ingenieur thätig und gewann währenddessen einen tiefen Einblick in das Wesen der preußischen Bureaukratie. Der Eindruck, den er empfing, war keineswegs sehr günstig und blieb nicht ohne Einfluß auf seine spätere politische Haltung. In den Jahren 1835–39 wurden die Vorarbeiten für die oberschlesische Eisenbahn von ihm geleitet. 1839 zum Regierungs- und Baurath in Gumbinnen ernannt, kam er 1843 zur Regierung nach Potsdam, um 1844 einen mehrjährigen Urlaub anzutreten und bald darauf endgültig aus dem Regierungsdienste, in dem er zwanzig Jahre gestanden hatte, zu scheiden. Er hatte sich allmählich einen Ruf als Techniker erworben. In seiner praktischen Thätigkeit und auf ausgedehnten Studienreisen in England und anderweitig hatte er ausgezeichnete Fachkenntnisse gesammelt. Er übernahm jetzt zunächst die technische Oberleitung der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahn und gehörte auch dem Directorium dieser Gesellschaft an. Nach Eröffnung der Bahn trat er in das Directorium der Magdeburg-Wittenberger Eisenbahn und siedelte aus diesem Anlaß im Herbst 1846 nach Magdeburg über. Am politischen Leben hatte er sich bis dahin nicht betheiligt. Wohl aber scheint er sich auf seinen Reisen in England bestimmte politische Ansichten gebildet zu haben. Die dortige Verfassung galt ihm als das Muster einer solchen. 1848 war er Zeuge der Vorgänge in Berlin am 13.–16. und am 20.–21. März. Als die Wahlen zur preußischen Nationalversammlung (zum Zwecke der Vereinbarung einer Verfassung) ausgeschrieben wurden, ergriff er, weil er überall der größten Unklarheit begegnete, als ein Mann, der zum mindesten über die in Rede stehenden Fragen nachgedacht hatte, wiederholt in den Wahlversammlungen das Wort. So wurde er bekannt und von den Gemäßigt-Liberalen Magdeburgs, denen sich in Ermangelung eines geeigneten Candidaten die Conservativen anschlossen, als Abgeordneter nach Berlin geschickt. Gegen ihn unterlag der Candidat der Radicalen, der Rabbiner Philippson. So wurde er „kopfüber“ in die Politik geworfen. Durch seine Familienbeziehungen war er mit vielen der politischen Persönlichkeiten bekannt, so mit Schön, Stolberg, Bodelschwingh, den Auerswalds. Anfangs schloß er sich dem linken Centrum an, d. h. dem linken Flügel der Gemäßigt-Liberalen; durch das dictatorische Wesen des Nationalökonomen Rodbertus, der diese Partei führte, sah er sich jedoch veranlaßt, dem Centrum beizutreten, d. h. sich ein wenig mehr nach rechts zu wenden. Offenbar spielte hier etwas persönlicher Ehrgeiz hinein, weil er ungern die zweite Rolle spielen wollte. Schon in der ersten Berathung der Versammlung ergriff er als Vorsitzender der Wahlprüfungscommission das Wort. Das Auftreten des Prinzen von Preußen in der Versammlung unterzog er im Gespräch, später auch öffentlich, einer höchst ungebührlichen Kritik, die nur von einer großen Verständnißlosigkeit für preußisches [313] Wesen eingegeben sein konnte. Vielgenannt wurde sein Name zuerst, als er im September zu dem berüchtigten Antrage Stein, der Ausschluß aller conservativen, sog. reactionären Elemente aus dem Heere verlangte, das Wort nahm und einen milderen Standpunkt geltend machte, der allerdings auch noch weit davon entfernt war, die Institution der preußischen Armee richtig zu würdigen. Sein sicheres, besonnenes Wesen imponirte; und so wurde er am 17. October bei den vierwöchentlich vorzunehmenden Präsidentenwahlen zum ersten Vicepräsidenten gewählt. Er erhielt unter den vier zu wählenden die meisten Stimmen. Kurze Zeit darauf (am 26. October) legte der der Rechten angehörige Oberbürgermeister Grabow infolge eines Zwischenfalls das Präsidium nieder und war, zweifellos im Hinblick auf die drohende Krisis, nicht zu bewegen, seinen Entschluß zu ändern. Am 28. October wurde nun U. mit wenigen Stimmen Mehrheit gegen einen noch mehr links gerichteten Abgeordneten, zum Präsidenten der Versammlung erkoren. Es war, als wenn sein Name ein böses Omen für die neu beginnende Zeit sein sollte. Denn die folgenden Wochen sind die unruhigsten und traurigsten gewesen, welche die preußische Parlamentsgeschichte zu verzeichnen hat. An Unruh’s Namen knüpfen sich daher die unerfreulichsten Erinnerungen, weil er für die bedauerlichen Vorkommnisse jener Zeit vielfach verantwortlich gemacht wurde. Moltke schrieb damals seinem Bruder von der „Bande in der Singakademie“, wo die Versammlung zuerst tagte, und Roon erfand das Wort von der „verbrecherischen Fraction U.“. Jedoch hat man U. ohne Frage viel Unrecht gethan. In doctrinären englisch-constitutionellen Auffassungen befangen, hat er sich offenbar verrannt und durchaus unrichtig gehandelt. Es wird auch nicht zu leugnen sein, daß er sich in die von ihm gespielte Rolle durch einen gewissen Ehrgeiz drängen ließ. Nicht nur Gegner, wie der Kreuzzeitungsredacteur Wagener und Leopold v. Gerlach, sondern auch der unparteiische General v. Brandt und der U. politisch sehr nahe stehende Banquier Milde, hatten diesen Eindruck von ihm. Nur ein ehrgeiziger Mann konnte überhaupt die Führerrolle, wie er sie gehabt hat, so lange ausdehnen. Freilich hat er sich stets mit einer gewissen Nervosität gegen eine solche Annahme vertheidigt und formelle Uebertreibungen des Cabinetsraths Niebuhr verwickelten ihn deswegen in einen acuten Zwist. Die Gerechtigkeit aber verlangt, daß man bei ihm die Ueberzeugungstreue und ebenso die Geschicklichkeit, mit der er die Massen, sowohl was die Bürgerwehr als die Versammlung anbetrifft, zu zügeln und einen Widerstand mit den Waffen zu verhindern wußte, anerkennt. Mit einer bewundernswerthen Ruhe hat er die Sitzung am 31. October geleitet. Nur ein einziges Mal verlor er die Haltung, als er dem zum ersten Mal vor einer parlamentarischen Körperschaft erscheinenden Ministerpräsidenten Grafen Brandenburg am 9. November bei Verlegung der Versammlung nach Brandenburg a. H. gereizt ins Wort fiel. Falsch war es nun, daß er dieser Verlegung widersprach, unzulässig, daß er mit seinen Parteigenossen, „dem Club Unruh“, dagegen demonstrirte, ungesetzmäßig, daß er zum „passiven Widerstande“ aufforderte (dies geflügelte Wort verdankt ihm seine Entstehung), d. h. seine Anhänger (das war die Mehrheit der Versammlung) zum Fernbleiben von Brandenburg veranlaßte, unberechtigt, aufreizend und verwirrend endlich, daß er, allerdings nur dem Drängen seiner Parteigenossen nachgebend, den Antrag auf Steuerverweigerung zum Beschluß erheben ließ. Noch kurz vor Zusammentritt der Versammlung in Brandenburg suchten verschiedene Führer der deutschen Nationalversammlung, wie Gagern und Simson, auf ihn einzuwirken, um ihn zu einem Entgegenkommen gegen die Regierung zu bestimmen, jedoch vergeblich.

Bei den Wahlen zur zweiten Kammer Anfang 1849 wurde er wiedergewählt, unterlag aber bei der Präsidentenwahl gegen Grabow. In den Berathungen [314] über Annahme der Kaiserkrone brachte er einen Antrag auf deren unbedingte Annahme ein, blieb damit indeß in der Minderheit. Auf seinen Antrag wurde dann im April die durchaus gecechtfertigte Verhängung des Belagerungszustandes über Berlin für ungesetzlich erklärt. Daraufhin erfolgte (am 27.) die Auflösung auch dieser Versammlung. Bei den nächsten Wahlen wurde U. nicht wiedergewählt und verschwand infolgedessen 14 Jahre aus dem parlamentarischen Leben. Er legte seine politischen Erlebnisse in einer sehr sachgemäßen Schrift nieder: „Skizzen aus Preußens neuester Geschichte“, die zwar einen ziemlich radicalen Standpunkt entwickelt und in der natürlich die jener Zeit anhaftende Unklarheit über das Wesen des Constitutionalismus und die Bedürfnisse Preußens zu Tage tritt, die aber Zeugniß von seinem ehrlichen Charakter, seinem redlichen Wollen und von scharfer Beobachtungsgabe ablegt und darum eine wichtige Quelle für jene Zeit bildet. Das Anschwellen der hochconservativen Richtung in den nächsten Jahren trieb ihn völlig der Opposition in die Arme und bestimmte ihn eine Schrift zu schreiben, betitelt: „Erfahrungen aus den letzten drei Jahren“, in der er schonungslose Kritik an den Mittelparteien, denen er bisher selbst angehört hatte, übte. In der Folgezeit widmete er sich vornehmlich seinem Berufe als Techniker. Unter anderen übernahm er die Leitung der Continentalgasgesellschaft in Dessau. Sein Name gehörte zu den politisch übelberüchtigsten jener Zeit, sodaß das ministerielle Ungeschick eines v. d. Heydt ein gutes Werk zu verrichten glaubte, wenn er die materielle Existenz Unruh’s, als dieser in Berlin die Leitung einer Actiengesellschaft (Wagenfabrik) übernehmen wollte, schädigte. Aus jener Zeit, Ende der 50er Jahre, stammte das Wort König Friedrich Wilhelm’s IV.: „Ach, mein Gegenkönig von 48; nun ich habe nichts dagegen, daß er Potsdam erleuchte“. Es bedurfte erst der Dazwischenkunft des Botschafters v. Bismarck, mit dem U. aus der zweiten Kammer (1849) bekannt war und der an dem selbständig denkenden Techniker Gefallen fand, um ihn vor den Chikanen der Regierung zu schützen. Ungefähr zu derselben Zeit (1859) wurde U. von Bennigsen und Schulze-Delitzsch aufgefordert, an der Gründung des Nationalvereins theilzunehmen. U. ging darauf ein und sein Name ist einer der ersten unter dem ersten Programm des Nationalvereins (14. August 1859). Die Geheimbundspläne des Coburgers lehnte er ab. Im nächsten Jahre betheiligte er sich an der Gründung der preußischen Fortschrittspartei, trat jedoch erst zu Anfang 1863, wieder von Magdeburg entsandt, in das Abgeordnetenhaus, dessen Mitglied er von nun an bis zum Jahre 1879 blieb. Er gehörte hier anfänglich zu den schroffsten Gegnern der Bismarck’schen Politik und hatte, ohne häufig das Wort zu nehmen, wie er denn mehr zu den Parlamentariern gehörte, die durch Verhandlungen wirken, was er schon 1848 gezeigt hatte, im Februar und December des Jahres mit Bismarck und Roon äußerst scharfe Auseinandersetzungen wegen der Polenpolitik und der dänischen Frage. Er gehörte zu den Verwaltern des Nationalfonds für politisch Verfolgte der Opposition. Unter seiner Führung lebten sozusagen die Zeiten der Steuerverweigerung wieder auf. Die gewaltigen Erfolge der Regierungspolitik bekehrten ihn indeß. Der großartigste parlamentarische Sieg, der vielleicht je erstritten worden ist, den der Frontwechsel der radicalen Liberalen im J. 1866 andeutet, erstreckte sich auch auf U. Bismarck erlebte die Genugthuung, den geistvollen Ingenieur in sein Lager schwenken zu sehen. Freilich lebte der alte Adam des doctrinären Liberalismus immer wieder in U. auf, wie er denn stets zum linken Flügel der Nationalliberalen zu rechnen war. 1867 trat er in den Norddeutschen Reichstag, 1870 war er parlamentarisch, zusammen mit seinem alten Gegner Wagener, und in Volksversammlungen für die Verwirklichung des Einheitsgedankens thätig und Mitglied der Abordnung des Reichstags nach Versailles; auch in den deutschen [315] Reichstag zog er alsbald ein, wieder von seinen Magdeburgern gewählt, und hat diesem von da ab bis 1879 als angesehenes Mitglied angehört. Eine Zeit lang (1863–1867) bekleidete er im Abgeordnetenhause wieder das Amt eines Vieepräsidenten. Ihm verdankt die Abstimmungsform des „Hammelsprungs“ ihre Einführung. 1875 bis 1880 schrieb er, angeregt von Sybel und Bennigsen Lebenserinnerungen nieder, in denen sich ein ehrlicher Charakter, ein präcises Urtheil und feines Beobachtungstalent auf das klarste widerspiegeln. Während er die Darlegungen in seinen „Skizzen“ im allgemeinen aufrecht erhalten konnte, sah er sich in seinen Memoiren genöthigt, seine zweite politische Denkschrift selbst einer vernichtenden Beurtheilung zu unterziehen. Lange Jahre stand er in Berlin an der Spitze einer 2000 Arbeiter beschäftigenden Fabrik für Eisenbahnbedarf, derentwegen er große Reisen nach Petersburg, Paris und anderswohin unternahm. In den sechziger Jahren kaufte er sich im Teltower Kreise (Dahlewitz), später im Rothenburger Kreise in der Lausitz (Zoblitz) an. Er starb am 4. Februar 1886 in Dessau unter Hinterlassung mehrerer Söhne.

Stenographische Berichte der verschiedenen Parlamente. – H. V. v. Unruh, Skizzen aus Preußens neuester Geschichte. Magdeburg 1849. 3. Auflage (auch 1849). IV u. 188 S. – H. V. v. Unruh, Erfahrungen aus den letzten 3 Jahren. Ein Beitrag zur Kritik der politischen Mittelparteien. Magdeburg 1850. 2. Aufl., ebenda 1851. 190 S. – Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart. Herausg. von Richard Fleischer. 6. Jahrgang. S. 1–33 (October 1881): Erinnerungen aus meinem Leben von Hans Victor v. Unruh. – Deutsche Revue u. s. w. 19. Jahrg. 1894. April–December: H. v. Poschinger, Erinnerungen aus dem Leben von H. V. v. Unruh (soll vervollständigt in Buchform erscheinen). – Die Gegenwart. Encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte u. s. w. Leipzig 1850. (4. Band S. 576–634.) Preußen zur Zeit der Nationalversammlung. – Dieselbe 1852. (7. Band S. 473 ff.) Preußen seit 1849 bis Ende 1850. – H. Robolsky, Der deutsche Reichstag 1867–1892. Berlin 1893. – H. v. Brandt, Aus dem Leben des Generals der Infanterie Dr. H. v. Brandt. 3. Theil. Berlin 1882. – Roon, Denkwürdigkeiten. – Leop. v. Gerlach, Denkwürdigkeiten.