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Artikel „Kuhn, Adalbert“ von August Leskien in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 335–336, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kuhn,_Adalbert&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 18:48 Uhr UTC)
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Kuhn: Franz Felix Adalbert K., geb. am 19. November 1812 zu Königsberg in der Neumark, † am 5. Mai 1881 in Berlin, gehörte zu den bedeutendsten Vertretern der von Bopp begründeten indogermanischen Sprachwissenschaft. Schon auf dem Joachimsthal’schen Gymnasium in Berlin, das er von 1827–1833 besuchte, trat seine Neigung zu ausgedehnteren Sprachstudien, als die Lehrgegenstände des Gymnasiums boten, hervor; er lernte schon als Schüler die Anfangsgründe des Sanskrit und setzte dies Studium, nachdem er 1833, um Philologie zu studiren, die Universität Berlin bezogen hatte, als Schüler Bopp’s fort, trieb aber neben Sanskrit und klassischer Philologie in eingehender Weise auch germanistische Studien. 1837 promovirte er mit der Dissertation „De conjugatione in μι linguae sanscritae ratione habita“ und trat, zunächst als Probandus, beim Köllnischen Gymnasium in Berlin ein; an dieser Anstalt war er bis an sein Lebensende thätig; 1841 wurde er zum ordentlichen Lehrer, 1856 zum Professor, 1870 zum Nachfolger E. F. August’s im Directorat ernannt. 1872 hatte ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften zum Mitgliede gewählt, zu einer Thätigkeit als Universitätslehrer, die er sich von jeher gewünscht hatte und die seiner wissenschaftlichen Begabung und ausgezeichneten Arbeitskraft mehr Raum zu umfassenderen wissenschaftlichen Arbeiten gegeben hätte, ist ihm leider der Weg nicht eröffnet worden. Kuhn’s Verdienste um das vergleichende Studium der indogermanischen Sprachen und Völker liegen nach drei verschiedenen Seiten: er war der erste, der den seit Ende der dreißiger Jahre allmählich zugänglich gewordenen Rigveda für die vergleichende Grammatik ausbeutete, während dieselbe vorher auf das classische Sanskrit angewiesen war (dahin gehört namentlich die große Abhandlung „Sprachliche Resultate aus der vedischen Metrik“ im 3. und 4. Bande der „Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung“ und eine große Anzahl kleinerer und größerer Aufsätze in diesen „Beiträgen“ wie in der „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“). Weit bedeutender noch und Kuhn’s bedeutendste wissenschaftliche Leistung überhaupt ist die Begründung einer ganz neuen Disciplin, der vergleichenden Mythologie und, was eng damit zusammenhängt, der vergleichenden Culturgeschichte der indogermanischen Völker auf Grundlage der vergleichenden Sprachforschung. Noch während seiner Studienjahre erschien 1835 J. Grimm’s deutsche Mythologie: das großartige Werk regte ihn wie andere zunächst zur Erkundung und Erforschung der Spuren uralten Volksglaubens in den noch erhaltenen Sagen, Märchen und Gebräuchen an. K. sammelte als Student und später in seinen Ferienwanderungen eifrig und mit großem Erfolg aus dem Munde des Volkes „Märkische Sagen und Märchen“ (Berlin 1843); „Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche“ (zusammen mit Schwartz, Leipzig 1848); „Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen“ (in 2 Bdn., Leipzig 1859). Die Kenntniß der ältesten indogermanischen Ueberlieferung [336] im Rigveda und die Beherrschung der etymologischen Resultate der vergleichenden Grammatik, verbunden mit glücklicher Combinationsgabe und zugleich mit scharfem kritischem Urtheil, setzten ihn aber in den Stand, über den germanischen Kreis hinauszugehen. Schon 1845 hatte er in dem Programm „Zur ältesten Geschichte der indogermanischen Völker“ (erweitert noch einmal erschienen im 1. Bande von Weber’s Indischen Studien) das Bild des ältesten erreichbaren Culturzustandes unseres Sprach- und Völkerstammes gegeben, das seitdem gültig geblieben ist. Sein Hauptwerk aber, die Grundlage aller bisherigen Arbeiten über die vergleichende Mythologie, ist: „Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie der Indogermanen“ (Berlin 1859). Das Buch berührt weit mehr Mythen als der Titel angibt und was seitdem an sicheren Resultaten auf diesem Gebiete hinzugekommen, ist wenig im Vergleich zu dem von Kuhn’s Scharfsinn und sicherer Methode Gefundenen. Ihn bewahrte namentlich seine sichere sprachwissenschaftliche Kritik und seine Scheu vor dem blos Geistreichen, aber nicht Erweisbaren vor Combinationen, wie sie von anderen später vielfach geliefert und von ernsterer Wissenschaft verworfen sind. Kuhn’s letzte Schrift „Ueber Entwicklungsstufen der Mythenbildung“ (in den Abhandlungen der Berliner Akademie von 1873) ist eine Methodologie der Mythenforschung, deren Hauptgrundsatz ist: „die Grundlage der Mythen ist auf sprachlichem Gebiete zu suchen, Polyonymie und Homonymie sind die wesentlichsten Factoren derselben.“ – Ein ganz außerordentliches Verdienst um die Sprachforschung erwarb sich endlich K. durch die Gründung und Leitung der „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen“, die er 1852 mit Theodor Aufrecht begann, vom 3. Bande an allein fortführte. Als Ergänzung dazu gab er von 1858 an zusammen mit Schleicher die „Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung auf dem Gebiete der arischen, keltischen und slawischen Sprachen“ heraus; 1875 wurden beide Zeitschriften verschmolzen zu der „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen“ und K. zugleich in der Redaction von jüngeren Kräften unterstützt. Diese Zeitschriften, lange Jahre die einzigen auf diesem Gebiete, wurden von K. mit musterhafter Einsicht und Unparteilichkeit geleitet, sie haben durch das Zusammenhalten der Arbeiter und Ausgleichen der Gegensätze den raschen Fortschritt der vergleichenden Sprachwissenschaft ganz wesentlich mit bedingt, und auf ihnen beruhte zu einem großen Theile das Ansehen, zu welchem sich diese Disciplin gegen heftig widerstrebende Anschauungen siegreich durchkämpfte. – Während seiner langjährigen Lehrthätigkeit hat K. namentlich durch die unbeirrbare Wahrhaftigkeit und Sicherheit seines Wesens, durch seine Gabe zu rascher Auffassung der Individualität des Schülers und sein Interesse für die Entwicklung des Einzelnen vorzüglich gewirkt.

Vgl. N. Hocker in der Illustrirten Zeitung Nr. 1112, 22. October 1864, S. 279 f. J. Schmidt in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung XXVI, S. V ff. O. Hoffmann in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen, Januar 1882, S. 89 ff. K. Bruchmann in Bursian’s Biographischem Jahrbuch für Alterthumskunde, 1881, S. 49 ff. K. Prantl in den Sitzungsberichten der philosophisch-philologischen und historischen Klasse der kgl. bair. Akademie der Wissenschaften zu München, 1882, 1. Bd., S. 391 ff. und H. Pröhle’s Aufsatz, Adalbert Kuhn und die märkischen Volksgebräuche, in der Sonntagsbeilage Nr. 24 zur Vossischen Zeitung, 12. Juni 1881.