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Artikel „Nicolai, Friedrich“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 580–590, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nicolai,_Friedrich&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 13:19 Uhr UTC)
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Nicolai: Christoph Friedrich N., der jüngste Sohn des Buchhändlers Christoph Gottlieb N. († 1752), wurde zu Berlin am 18. März 1733 geboren. Schon 1738 verlor er seine Mutter; seine erste Erziehung leitete somit fast ausschließlich der Vater, ein rechtlicher, strenger, religiöser Mann der alten Zeit, still, sparsam und in der Durchführung seiner Grundsätze oft pedantisch, aber angesehen als strebsamer Geschäftsmann und geachtet als Verleger hervorragender germanistischer Werke und gesuchter Schulbücher. Am Joachimsthal’schen Gymnasium zu Berlin und an der Schule des Waisenhauses zu Halle erhielt N. seinen ersten gelehrten, ganz unmethodischen, nur auf geistlose Sprachkenntniß und äußerlichen Gedächtnißkram abzielenden Unterricht; aber bald ekelte ihn dieser ebenso an, wie die pietistischen Religionsübungen in Halle schon jetzt in ihm den Widerwillen gegen jegliche fromme Schwärmerei erregten, den er zeitlebens durch Wort und That bewies. Privatstudien in lateinischen Schriftstellern, die er aus Mangel an den nöthigen Büchern nicht weit ausdehnen konnte, und die heimliche, bald jedoch verrathene und verhinderte Lectüre der „Bremer Beiträge“, durch die er auf den Rath seines älteren Bruders seinen Geschmack für das Verständniß Homers vorbilden wollte, gaben ihm in seiner geistigen Einöde nur wenig Trost; er bequemte sich daher gern dem Willen des Vaters, der ihn zur Erlernung des Buchhandels bestimmte und 1748 nach Hause zurückrief, damit er zunächst ein Jahr lang die neugegründete Berliner Realschule besuche. Die Naturwissenschaften sowie die technischen und praktischen Studien, die hier getrieben wurden, zogen N. auf das lebhafteste an; er dünkte sich in eine neue Welt versetzt. Sein Beobachtungstrieb und seine Aufmerksamkeit auf menschliche Beschäftigungen aller Art wurden geweckt, sein Denken durch einen gründlicheren Unterricht in der Mathematik geordnet und geklärt, aber auch durch den von ihm bis ins höchste Alter ungemein verehrten Lehrer Berthold seine litterarische Bildung erweitert und vertieft, sein deutscher Stil gebessert, sein religiöses Gefühl, welches die hallische Pietisterei erstickt oder erkältet hatte, an der Betrachtung der Natur neu entfacht.

Jetzt empfand er es doppelt schmerzlich, als er 1749 die Schule und den [581] geliebten Lehrer verlassen und in eine Buchhandlung zu Frankfurt a. O. als Lehrling eintreten mußte. Doch gestaltete sich sein Loos besser, als er erwartet hatte. Die trockenen, mitunter auch beschwerlichen Geschäftsarbeiten nahmen kaum die Hälfte des Tages in Anspruch; die andere Hälfte konnte er den Wissenschaften widmen. Mit eiserner Beharrlichkeit, die keine Mühe oder Entbehrung scheute, gab er sich den mannigfachsten, intensiv, aber ziemlich regellos und unsystematisch betriebenen Studien hin. Er setzte sich mit Zuhörern Baumgarten’s, der an der Frankfurter Hochschule lehrte (unter ihnen besonders mit Johann Samuel Patzke), ins Benehmen und gelangte so zur Kenntniß der Wolffischen Philosophie, deren „ungemeine Ordnung, Deutlichkeit und Bestimmtheit“ ihn dauernd fesselte; er ließ sich von dem Epigrammatiker Johann Joachim Ewald, der damals als Hofmeister in Frankfurt weilte, in die englische und neuerdings in die von ihm früher vernachlässigte griechische Sprache und Litteratur einführen; er durchstöberte den Laden seines Lehrherrn und die Bibliotheken einzelner Professoren und erwarb sich dabei ein namhaftes bibliographisches Wissen; er betrieb fleißig für sich die politische und die gelehrte Geschichte. Er las mit Entzücken Homer und Milton, schrieb Gedichte von Pope, Thomson und anderen englischen Autoren ab, machte sich durch die Lectüre aller möglichen Zeitschriften mit den neuesten Werken der deutschen Litteratur bekannt und knüpfte durch Ewald’s Vermittlung mit Kleist, dessen „Frühling“ er zu seiner Uebung ins Englische übersetzte, einen Briefwechsel an.

Allein durch seine Rückkehr in das väterliche Geschäft (1752) wurde seine Muße außerordentlich beschränkt: nur die Morgen- und Abendstunden behielt N. von nun an für das Studium frei. Gleichwol arbeitete er jetzt sein erstes (anonymes) Werkchen aus, die „Untersuchung, ob Milton sein verlornes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe“ (1753), eine warme, ausführliche, auf Douglas’ Schrift gestützte Vertheidigung Milton’s und seiner deutschen Nacheiferer, voll Bitterkeit gegen die unehrlichen Verleumdungen Lauder’s und Gottsched’s. Wenn sich N. hier noch unbedingt zur litterarischen Partei der Schweizer stellte, so erhob er sich gleich darauf selbständig über beide streitende Parteien in den „Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland“ (1755). Lessing’s Kritik und Lessing’s Stil war jetzt das Muster, welches er mit Glück und Geschick nachbildete. Auf Lessing’s Bahnen wandelnd, sprach er über Gottsched und seine Schildknappen das heftigste Verdammungsurtheil aus und legte die Mängel der Form und des Inhalts in den schweizerischen Dichtungen bloß, erkannte Klopstock’s unbestreitbare Größe an, wies aber seine geistlosen Nachahmer ebenso wie seine und Bodmer’s einseitigen Bewunderer entschieden ab und erkannte richtig Wieland’s wahre Natur unter der Maske frommer Schwärmerei, in welcher der Schüler Bodmer’s damals noch stak. Wie Lessing empfahl er gegenüber der Tyrannei des französischen Geschmacks eine sorgfältigere Pflege des englischen Dramas. Vor allem aber forderte er eine gründliche, scharfe und unabhängige, von allem Parteiwesen freie Kritik in der schönen Litteratur Deutschlands.

Während des Drucks dieser „Briefe“ wurde N. noch 1754 mit Lessing, der vielen als der Verfasser derselben galt, und durch ihn bald darauf (1755) mit Moses Mendelssohn bekannt. Mit dem letzteren verband ihn zunächst der gleiche Eifer für speculative Bestrebungen, mit Lessing der Sinn für Gelehrtengeschichte und das Interesse an der englischen Litteratur. Gemeinschaftlich mit ihm plante er ein burleskes Heldengedicht nach dem Vorbilde des „Hudibras“ zur Verspottung Gottsched’s und Schönaich’s. Für Lessing’s „Theatralische Bibliothek“ stellte er ziemlich unselbständig eine Reihe äußerlicher Daten zu einer „Geschichte der englischen Schaubühne“ zusammen. Durch Lessing’s Abreise nach Leipzig (im Herbst [582] 1755) wurde das Verhältniß zwischen ihm und N. nicht gelockert, wol aber das Band zwischen diesem und Mendelssohn fester geknüpft. Dazu trug auch die Herausgabe einer neuen Zeitschrift durch N. bei, für die sich Mendelssohn als fleißigster, ja beinahe einziger Mitarbeiter bemühte, während Lessing einen Leipziger Verleger dafür gewann und als Censor und Corrector thätig war, aber nur gelegentlich eine Kleinigkeit beisteuerte, der „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste“ (seit 1757). Was N. in den „Briefen“ von der Kritik gefordert hatte, Gründlichkeit, Schärfe und Unparteilichkeit, suchte er hier mit seinen Freunden zu leisten. Er zog aber neben der Poesie auch die übrigen Künste und die gesammte ästhetische Wissenschaft in den Bereich seiner Betrachtung, ließ den Blick wiederholt auf die französische, englische und italienische Litteratur abschweifen und nahm neben ausführlichen Recensionen auch selbständige kritisch-ästhetische Aufsätze auf. Sein eigner bedeutendster Beitrag war die „Abhandlung vom Trauerspiel“, mit welcher er die Zeitschrift eröffnete. Lessingischen Winken verdankte er auch hier manche Anregung; so versuchte er über die herkömmlichen Ansichten von dem Wesen und Zweck der Tragödie nach verschiednen Seiten hinauszuschreiten. Aber dazu nicht kühn und stark genug, blieb er auf halbem Wege zwischen dem Alten und dem Neuen stehen, knüpfte unselbständig ohne einen festen philosophischen Grund und Halt an die französischen Theoretiker (du Bos, Brumoy) und ihre deutschen Nachfolger (besonders Johann Elias Schlegel) sowie an die praktischen Muster der französischen oder französisirten deutschen Bühne an und überließ es wieder Lessingen, seine Behauptungen, die sich alle aus dem Grundsatze herleiteten, daß das Trauerspiel heftige Leidenschaften erregen, nicht aber reinigen solle, zu berichtigen und in veränderter Weise fortzubilden und so von ihnen zu den neuen Ideen zu gelangen, welche er damals schon im Briefwechsel mit den Freunden andeutete und nach zehn Jahren in der „Hamburgischen Dramaturgie“ öffentlich verkündigte.

Im März 1757 konnte sich N. aus der seiner Familie gehörigen Buchhandlung zurückziehen, da sein ältester Bruder dieselbe ganz übernahm, und sich völlig seinen Studien widmen; aber schon bald (im Herbst 1758) zwang ihn der Tod dieses Bruders, in das Geschäft wieder ein- und zwar an die Spitze desselben zu treten. Nun ging es nicht mehr an, daß er die Redaction der „Bibliothek“ weiter führte; er vermochte Christian Felix Weiße dazu, dieselbe vom fünften Band an zu übernehmen. In seinem eignen Verlag aber ließ er seit dem 4. Januar 1759 allwöchentlich die „Briefe die neueste Litteratur betreffend“ erscheinen, welche in frischerer, schneidigerer und freierer Weise die „Bibliothek“ fortsetzten, sich aber auf die Kritik der jüngsten litterarischen Arbeiten in Deutschland beschränkten. Lessing, seit 1758 wieder in Berlin, und Mendelssohn waren die hauptsächlichen Verfasser, denen sich später Abbt, Resewitz, Grillo, Sulzer anschlossen; N. trat anfangs nur gelegentlich als Lückenbüßer ein und wurde erst nach Lessing’s Abgang 1760 zu rühriger Mitarbeit veranlaßt. Er besprach Schriften zur Aesthetik, zur Kunst- und Gelehrtengeschichte, später vorwiegend auch Werke der schönen Litteratur. Aber nur selten hatte er es mit bedeutenden Autoren zu thun, meist mit unreifen Anfängern, geistlosen Nachahmern, unfreien Uebersetzern. Im Stil und Ton seiner Recensionen zeigte er sich abhängig von Lessing; auch in der Sache wiederholte er öfters nur breiter und plumper, was dieser schärfer schon zuvor gesagt hatte. Durch Tiefe der Auffassung zeichneten sich seine Kritiken selten aus; ein geistiger Fortschritt über den Standpunkt der „Briefe“ von 1755 und der „Bibliothek“ war darin kaum wahrzunehmen.

Nach dem Schluß der „Litteraturbriefe“ begründete N. 1765 auf ähnlichen Principien ein neues kritisches Organ, das aber die gesammte schönwissenschaftliche [583] und gelehrte Litteratur Deutschlands umfassen sollte, die „Allgemeine deutsche Bibliothek“. Trotz den zahlreichen, untereinander so verschiednen Mitarbeitern, deren Zahl von 40 allmählich bis auf 154 stieg, wußte N. als Redacteur überall geschickt zu vermitteln, stets die Einheit des Tones und der Tendenz stramm durchzuführen und so das ungeheure, bis 1806 fortgesetzte und auf mehr als 250 Bände anwachsende Werk zum Producte seines Kopfes zu machen, zu dem maßgebenden Organe deutscher Aufklärung, das allen feindlichen Zeitströmungen, auch den Bedrückungen durch die Censur unter Friedrich Wilhelm II., Widerstand leistete. Bei der grundsätzlich festgehaltenen Anonymität aller Recensionen mußte er als Herausgeber fast immer allein die Verantwortung tragen und die Angriffe der Gegner aushalten. Während des ersten Jahrzehntes, als Heyne und Kästner lebhaften Antheil an der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“ nahmen und Herder und Merck als Kritiker schönwissenschaftlicher Werke für sie in hervorragender Weise thätig waren, galt ihr Ansehen ziemlich allgemein unangetastet. Dann aber, als N. sich mißbilligend gegen alle neueren Bestrebungen in unserer schönen Litteratur wie in der Philosophie wandte, betrachtete man seine Zeitschrift, deren Verfasser er beinahe nur aus älteren, durch amtliche Würde oder litterarische Autorität ausgezeichneten Männern bereits überholter Perioden wählte, hauptsächlich als Organ des Rückschritts und der parteiischen Opposition. Die schöne Litteratur wurde jetzt meist kürzer abgethan, dem ganzen Werke dagegen mehr ein gelehrtes Gepräge aufgedrückt. Den breitesten Raum nahmen die theologischen und philosophischen Artikel ein. Namentlich von den ersteren, aber auch von den schönwissenschaftlichen und sonstigen Recensionen hat N. selbst eine ansehnliche Anzahl verfaßt, alle Beiträge der übrigen Mitarbeiter aber als Redacteur geprüft und – oft sehr bedeutsam in Bezug auf den Stil oder den Inhalt – corrigirt.

Sein Buchhändlergeschäft, anfangs mit Schulden belastet, blühte bei diesen großen Unternehmungen erfolgreich auf, so daß sich bei seiner eignen Mäßigkeit bald sein Vermögen beträchtlich vermehrte. Schon am 12. December 1760 hatte er sich einen Hausstand gründen können: er heirathete Elisabeth Makaria, die hübsche, sorgsam erzogene Tochter des ehemaligen königlichen Leibarztes und Professors Dr. Samuel Schaarschmidt. In glücklicher Ehe gebar sie ihm acht Kinder, deren keines, ebenso wenig wie sie selbst († 1793), ihn überlebte. Zahlreiche Freunde und Freundinnen verkehrten gern in seinem gastlichen Hause. Er verstand es, Geselligkeit im schönsten Sinne zu pflegen und bei seiner Liebe zur Musik und bildenden Kunst wie zur Poesie Anregung aller Art zu gewähren. Die schönen Seiten seines Charakters traten bei näherem Umgang mit ihm hell hervor, seine Heiterkeit, sein zwangloser Anstand, sein Freimuth und seine Offenheit gegen Freunde, seine Verträglichkeit und bescheidene Einfachheit im Leben, während seine Schriften von diesen Eigenschaften wenig verriethen, seine Dienstfertigkeit und wohlthätige Milde. Bisweilen brauchte er diese letzteren Tugenden freilich auch als Lockmittel für seine litterarischen Zwecke. Denn er benutzte jede Gelegenheit, seinen Einfluß immer weiter auf die ganze litterarische Welt auszudehnen, als Buchhändler und Verleger, als Gesellschafter, der auch am Tisch hochstehender Staatsmänner gern gesehen wurde, als Schriftsteller. Seit 1755 hatte er der von dem Professor Müchler gestifteten gelehrten Gesellschaft einige Jahre lang angehört, bis sie sich auflöste; von 1756 an bis zu seinem Tode war er eines der thätigsten Mitglieder, zuletzt (seit 1797) Senior des von dem Schweizer Johann Georg Schultheiß 1749 gegründeten Berliner Montagsclubs; Jahre lang (von 1783 bis kurz vor 1799) nahm er regelmäßigen Antheil an den Zusammenkünften der geheimen Mittwochgesellschaft, deren Mitglieder, stets [584] auf zwölf beschränkt, sich meistens aus den höchsten Beamtenkreisen zusammenfanden.

Auch durch diese Vereine wurde N. auf schriftstellerische Arbeiten der verschiedensten Art und Form hingelenkt. Mehrere Entwürfe zu biographischen und litterar- oder kunstgeschichtlichen sowie zu natur- und moralphilosophischen Werken, zu Trauerspielen, Operetten, Romanen ließ er unvollendet. Dafür gab er fremde Schriften mit Anmerkungen oder Widerlegungen heraus, schrieb Vorreden dazu oder brachte Zusätze und Einschiebsel darin an; zu verschiednen gesinnungsverwandten Zeitschriften steuerte er wissenschaftliche Aufsätze, Anekdoten, Notizen bei; geschäftig nahm er überallher Anlaß, Bücher und Büchlein auf den Markt zu bringen. Von 1759 bis 1763 gab er in sechs Bänden eine „Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freien Künste“ heraus, lauter Uebersetzungen ästhetischer Aufsätze von größerem oder kleinerem Umfang aus antiken und modernen Sprachen, meistens aus dem Englischen und aus dem Französischen, ein sehr verdienstliches, wenn auch keinen Aufwand von selbständiger Geisteskraft erforderndes Unternehmen. Seinen früh verstorbenen Freunden Kleist und Abbt errichtete er 1760 und 1767 biographisch werthvolle, durch die Wärme des Tons und die Billigkeit des Urtheils ansprechende „Ehrengedächtnisse“. 1797 folgte sein „Leben Justus Mösers“, aus gründlicher Kenntniß der Quellen geschöpft, liebevoll und sorgfältig dargestellt, zugleich mit einer sehr schätzenswerthen Ausgabe von Möser’s vermischten Schriften; daran schlossen sich 1806, 1807 und 1810 Gedächtnißschriften auf Johann Jakob Engel, Wilhelm Abraham Teller und Johann August Eberhard, ursprünglich zum Vorlesen in der Berliner Akademie der Wissenschaften bestimmt, in welche N. 1798 aufgenommen worden war (1781 schon in die Münchener, 1804 auch in die Petersburger Akademie). Die Topographie und Geschichte seiner Vaterstadt und ihrer Umgebung zog ihn in immer stärkerem Maße an. Seine in sechs Jahren mit Hilfe mehrerer Mitarbeiter vollendete „Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam“ (1769) schwoll in der zweiten Auflage (1779) zu zwei, in der dritten (1786) zu drei Bänden an. Halb Reisehandbuch, halb Adreßkalender, brachte das Werk ausführliche Mittheilungen von allem, was man über die beiden Städte zu wissen brauchte, von ihrer Geschichte, ihren Straßen, Plätzen und Gebäuden, ihren Einwohnern, den staatlichen Anstalten und Stiftungen, den Religionsparteien, Gelehrten, Künstlern, Handwerkern und Handeltreibenden daselbst, von den ankommenden und abgehenden Posten, von der Taxe für Miethskutschen und Wirthshäuser. Dazu gesellte sich 1778 ein kleineres Schriftchen ähnlicher Art über Stadt, Schloß und Umgegend von Reinsberg. Nach dem Tode Friedrichs II. gab N. sechs Hefte Anekdoten von ihm und einigen Personen seiner Umgebung heraus (1788–1792), meistens sicher verbürgte Einzelgeschichten aus dem Leben des großen Königs, welche, so unbedeutend auch vieles darin war, doch unser Bild von Friedrichs persönlichem Charakter vielfach vervollständigen. Namentlich ließ es sich N. angelegen sein, irrige oder unwahre Ueberlieferungen über den verstorbenen König zu berichtigen, und zu diesem Zwecke veröffentlichte er 1791 und 1792 sogar zwei Bände „Freimüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters v. Zimmermann Fragmente über Friedrich den Großen“. Ueberhaupt zog ihn die brandenburgische Geschichte mächtig an: er stellte mannigfache Studien darüber an, verschaffte sich durch befreundete hohe Staatsbeamte Zutritt zu den königlichen Archiven und legte die Ergebnisse seines Forschens in kleineren Aufsätzen für Zeitschriften und in selbständig gedruckten Abhandlungen nieder („Nachricht von den Baumeistern, Bildhauern, Kupferstechern, Malern, Stuccaturern und andern Künstlern, welche vom 13. Jahrhunderte bis jetzt in und um Berlin sich aufgehalten haben“, 1786, [585] durch Erweiterung des Anhangs zur „Beschreibung von Berlin“ entstanden). Auch sonst erregten allerhand culturhistorische Fragen seine Wißbegierde oder vielmehr seine Neugier. Er untersuchte die Geschichte der falschen Haare und Perrücken (1801) wie der Pumphosen und Reifröcke (1807), grübelte über den Ursprung der Gewohnheit, jemand in den April zu schicken (1803), kümmerte sich um Etymologie, Sprachen- und ältere Litteraturgeschichte (Forschungen über das Keltische). 1782 schrieb er einen „Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß, nebst einem Anhange über das Entstehen der Freimaurergesellschaft“. Herder’s übereilte und stellenweise beleidigende Zweifel an der Stichhaltigkeit seiner wissenschaftlich begründeten und vielfach zutreffenden Vermuthungen (im „Deutschen Mercur“) bestimmten N., sogleich einen zweiten Theil des Buches in einem flegelhaften und anmaßenden Tone gegen den ungenannten Kritiker folgen zu lassen. Etwas gelinder verfuhr er mit seinen Gegnern 1787 in seinen Anmerkungen zu Lavaters „Rechenschaft an seine Freunde“ und zu P. J. M. Sailer’s „Märchen“, wieder gröber 1788 mit Lavater und namentlich mit dem Oberhofprediger Johann August Stark in seiner „Oeffentlichen Erklärung über seine geheime Verbindung mit den Illuminatenorden“, welcher sich in den beiden folgenden Jahren noch zwei stattliche Broschüren von ähnlichem Inhalte anschlossen. und endlich 1806 mit dem russischen Hofrath Johann Gottlieb Gerhard Buhle, an dessen historisch-kritische Untersuchung er einen dicken Band von „Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freimaurer“ anknüpfte.

Aufklärung, Kampf gegen Aberglauben und Schwärmerei war der Zweck aller dieser Schriften und Schriftchen. Am schärfsten trat diese Tendenz in den theologischen Artikeln der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“ hervor. In ihnen wurde das neumodische, aus Philosophie und Religion äußerlich zusammengeleimte Christenthum gepredigt, von dem Lessing nichts wissen wollte, der rationalistische Protestantismus, der in Berlin seinen Hauptsitz und seine bedeutendsten Verfechter hatte. Denselben Bestrebungen diente Nicolai’s erster, litterarisch wichtigster Roman, „Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“ in drei Bänden (1773–1776). Ursprünglich als eine Satire auf Klotz und seine Genossen entworfen, wurde er in der Ausführung zu einem breit umfassenden Gemälde des kirchlichen Lebens in Deutschland. Die einzelnen Züge des Bildes waren getreu nach der Natur gezeichnet; nur die Häufung so vieler Züge that der Realistik des Ganzen Eintrag. Alle Spielarten von Priestern führte N. in seinem Werke vor, herrschsüchtige und unduldsame Orthodoxe, scheinheilige Pietisten, Schwärmer und Heuchler aus verschiednen protestantischen Secten und Religionsparteien. Aber seine Absicht ging viel weiter. Er zog das gesammte gesellschaftliche und litterarische Treiben Deutschlands in den Bereich seiner Darstellung. Er kämpfte gegen die Gleichgültigkeit und Herrschsucht der Großen, gegen dummen Ahnenstolz und die Nachäffung französischer Unsitte beim deutschen Adel, gegen hartherzige Reiche und indolente Genußmenschen, aber auch gegen niederträchtige Hofmeister und engsinnig beschränkte Zunftbürger; er eiferte gegen die Schäden des deutschen Buchhändlerwesens und Schriftstellerthums, gegen die handwerksmäßigen Büchermacher und Uebersetzungsmanufacturen; er spottete über Schwärmereien jeder Art, patriotisch-nationale sowol wie litterarische und künstlerische, und versetzte so der Physiognomik Lavater’s, der volksthümlichen Sprache der Kraftgenies, den unwahrscheinlichen Erfindungen und Motiven in den herkömmlichen Romanen, den Trugschlüssen einer hochmüthigen, aber nicht sicher begründeten Wissenschaft gelegentliche Seitenhiebe. Es fehlte in diesem etwas düster schattirten und leise carikirten Bilde nicht an lichten Stellen: arme Bauern, schlecht bezahlte Schullehrer und selbst darbende[WS 1] Druckereiarbeiter wurden [586] als mildherzig, dürftige Landpfarrer als duldsam, bieder-derbe Officiere als edelmüthige Schützer und Rächer der bedrängten Unschuld gepriesen. Dem mittleren, wohlhabenderen Bürgerstand hingegen scheint N. derartig menschenfreundlichen Sinn weniger zugetraut zu haben. Wie er die einzelnen Vorgänge und Situationen in seinem Romane genau nach dem Leben abschilderte, so bildete er auch die zahlreichen Personen, die er auftreten ließ, meistens nach lebenden Modellen. So übertrug er Charakterzüge von Lessing und Goeze, von Johann Georg Jacobi und Riedel und mehreren andern auf seine Romanfiguren; öfters freilich nur Ansichten und Aeußerungen von ihnen. Auf die Meinungen seiner Personen kam es ihm mehr an als auf ihr Leben und Thun; darum gelang es ihm trotz seinem Streben nach Realistik nur selten, wahre, lebendige Menschen von Fleisch und Blut zu gestalten. Was er zeichnet, sind oft mehr Typen als Charaktere, bald zu farblos, bald sachte an die Caricatur streifend. Das culturgeschichtliche Interesse des Werkes ist überhaupt größer als sein künstlerischer Werth. Sein dichterischer Gehalt ist verschwindend gering. Im Aufbau erinnert es vielfach an die abenteuerlichen Reiseromane aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. N. wirthschaftet mit den Motiven, die schon in diesen historisch-moralischen Sammelwerken regelmäßig begegnen, mit Entführungen, Raubangriffen, Duellen, Verwundungen, Schiffbrüchen, Unglücksfällen, Verfolgungen und Nachstellungen aller Art; ein Lotteriegewinnst, damals schon durchaus nicht mehr ein neuer Kunstgriff, führt die glückliche Lösung herbei. Bei der Verbindung dieser Motive war N. um die Wahrscheinlichkeit lange nicht so ängstlich besorgt wie bei der Ausmalung der einzelnen Scenen. Aeußerlich knüpfte er den Roman an Thümmel’s „Wilhelmine“ an. Von englischen Mustern schwebte ihm besonders Sterne’s „Tristram Shandy“ und Goldsmith’s „Vicar of Wakefield“ vor; aber auch Fielding’s Einfluß ließ er auf sich wirken, und einzelne Stellen arbeitete er geradezu als parodierende Nachahmungen Richardson’s aus. Die Leser nahmen das tendenziös lehrhafte Werk mit dem größten Beifall auf; Kaiserin Katharina II. von Rußland bewies dem Verfasser dafür durch außerordentliche Ehrenzeichen und mannigfache bibliographische Aufträge unverhohlen ihre Bewunderung.

Aber gerade während der Roman erschien, verfeindete sich N. rasch hintereinander mit den bedeutendsten Führern der jüngeren Litteratur in Deutschland, 1773 mit Hamann, 1774 mit Herder, 1775 mit Goethe durch seine eilfertig niedergeschriebene, nüchterne und matte, aber im Grunde harmlose Parodie „Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes“. In demselben Jahre gab es Reibereien mit Wieland, bis es endlich 1779, als N. den von Pistorius übersetzten Roman „Memoirs of John Buncle“ gegen Wieland’s Spöttereien (im „Deutschen Mercur“ 1778 und 1779) grob vertheidigte, zum öffentlichen Bruch zwischen beiden kam. Herder und Bürger empörte N. durch seinen „feinen kleinen Almanach voll schöner, echter, lieblicher Volkslieder, lustiger Reihen und kläglicher Mordgeschichten“, von welchem er zwei Jahrgänge 1777 und 1778 herausgab. Indem er aus alten Liederdrucken, namentlich aus den „Bergreihen“ (Nürnberg 1547), schöne Volkslieder und plumpe Pöbellieder zusammenstellte, die alterthümliche Sprache und Rechtschreibung derselben übertreibend nachäffte, sowie in das begeisterte Lob, das ihnen ihre neuesten Verehrer spendeten, mit vollen Backen einstimmte, wollte er diejenigen verspotten oder bekehren, welche in den Volksliedern die höchste und echteste Poesie erblickten; aber auch hier machte seine unverständige Parodie nicht blos das falsche Uebermaß, sondern auch das unleugbare Verdienst jener litterarischen Richtung lächerlich. 1779 zerwarf er sich mit Voß, bald darauf auch mit Jung-Stilling, Lavater und Friedrich Heinrich Jacobi.

[587] Widerspruch von allen Seiten (am gröbsten von Aloys Blumauer), aber nicht minder dankbare Zustimmung erntete N. ein, als er eine Reise durch Deutschland und die Schweiz, die er 1781 mit seinem ältesten Sohn unternommen hatte, seit 1783 in zwölf dicken Bänden, deren vier letzte erst 1795 und 1796 erschienen, weitschweifig beschrieb. Und doch schilderte er darin nur den ersten Theil seiner Reise, die Fahrt von Berlin durch Thüringen und Franken nach Wien und von da durch Baiern und Schwaben bis an die Grenze der Schweiz. Nicht über seine eignen Erlebnisse unterwegs, wol aber über die Städte, welche er besuchte, ihre Einwohner und Einrichtungen (namentlich über Wien) berichtete er so ziemlich in derselben, alles Wissenswerthe erschöpfenden Weise wie einst bei seinem Buch über Berlin und Potsdam, nur nicht mit derselben leidenschaftslosen Objectivität. Während er mit seiner ungemein scharfen und raschen Beobachtungsgabe zahllose, werthvolle und werthlose, topographische, culturhistorische, litterarische, sprachliche, statistische Bemerkungen in seinem Reisewerk anhäufte und dasselbe so zu einem Compendium seines gesammten Wissens und Denkens erweiterte, verfolgte er zugleich immer noch den besonderen Zweck, „hierarchische Unterdrückung, Bigotterie und Aberglauben unverrückt zu bestreiten und die Rechte der Vernunft und der Freiheit zu denken aufs freimüthigste zu vertheidigen“. Ueberall kämpfte er gegen die Anschauungen des Katholicismus, gegen das Treiben der Mönchsorden, namentlich der Jesuiten an; sein Eifer gegen alle Zeichen von Unduldsamkeit sprach sich selbst oft recht unduldsam aus. Aber er machte zuerst wieder auf die Bedeutung der beiden christlichen Secten aufmerksam, welche sich gegenseitig zu unterschätzen angefangen hatten; er wies besonders wieder auf die Gefahren hin, welche dem Protestantismus von Seiten der römischen, speciell der jesuitischen Mission drohten.

In den letzten, unverhältnißmäßig breit gedehnten Bänden dieses Reisewerks suchte N. jeden Anlaß hervor, um seine Polemik gegen Kant’s Philosophie und deren Anhänger unterzubringen. Ohne den Scharfsinn Kant’s und sein Verdienst um die Aufweckung der „in ihrer vermeinten allgemein geltenden Weisheit sicher schlummernden“ Speculation zu leugnen war er, dem die bloße Erfahrung als Grund alles Wissens und Denkens erschien, von vornherein ein Gegner der Transcendentalphilosophie und wollte namentlich zu dem freilich oft thörichten Gebahren der vorlauten Schüler Kant’s, welche seine Theorie praktisch im Leben zu verwirklichen suchten, nicht stille schweigen. Im Eifer der Polemik schoß er jedoch auch hier bald neben dem Ziele vorbei, bald über dasselbe hinaus. In seinem künstlerisch unbedeutenden zweibändigen Roman „Geschichte eines dicken Mannes, worin drei Heirathen und drei Körbe nebst viel Liebe“ (1794), den er auf eine Wette mit Bode hin rasch entwarf und nach dem Muster der humoristischen biographischen Romane in der englischen Litteratur bildete, stellte er die dummen Streiche und mißlichen Zufälle eines leichtsinnigen, unthätigen und geistig beschränkten Gesellen als Folgen seiner Pflege der kritischen Philosophie hin und glaubte damit Kant’s System, das in Wirklichkeit an jenen Albernheiten und Trivialitäten völlig unschuldig war, auf praktische Weise so gründlich widerlegt zu haben, daß er es theoretisch hier nicht noch umständlich zu bestreiten brauchte. Erst vier Jahre später suchte N. sowol theoretisch als praktisch die Lehre Kant’s und seiner Schüler, unter denen er vor allem Fichte auf das schärfste angriff, zu widerlegen, wieder in einem biographischen Reiseroman nach Art des „Nothanker“ ohne dichterischen Werth, in dem „Leben und Meinungen Sempronius Gundiberts, eines deutschen Philosophen“ (1798). Er ging diesmal näher auf die Streitfrage ein und machte die kritische Philosophie wenigstens nicht für Dinge verantwortlich, die in gar keinem Bezug zu ihr standen; aber die Waffen, mit denen er für die gesunde Vernunft und die Erfahrung gegen [588] die reine „vonvornige“ Philosophie kämpfte, waren ebenso plump und stumpf wie vorher. Er riß einzelne Sätze und Schlagwörter der neuen Schule aus dem Zusammenhang heraus, travestirte sie oder machte sie durch falsche Anwendung lächerlich, tüftelte innere Widersprüche aus dem Kantischen System heraus, wollte gewisse Wahrheiten desselben schon in den Schriften älterer Denker klarer ausgedrückt wissen und verwarf alle systematische Schulphilosophie gegenüber praktischer Weltweisheit und Moral, glaubte aber dumm-stolz mit derartigem Nörgeln oder principiellen Verneinen die befehdeten Lehren selbst zu nichte zu machen.

Seine geistlose Polemik brachte ihm Spott und Schmach von allen Seiten. Für die Angriffe auf die „Horen“ in den Schlußbänden seiner Reisebeschreibung rächte sich Schiller durch satirische Anmerkungen, Fabeln und die bissigsten Xenien des Musenalmanachs auf 1797. Goethe stand dem Freunde einmüthig zur Seite und dichtete damals die Spottverse im „Faust“ auf Nicolai’s Bericht über ein neues Heilmittel für Gespensterseherei und auf seine Jesuitenriecherei. Der grausam Gezüchtigte antwortete sogleich herzlich schwach in seinem „Anhang zu Friedrich Schiller’s Musenalmanach für das Jahr 1797“ mit dem Vorwurf der Ungerechtigkeit und Pöbelhaftigkeit. Auf sein eigenes, von vielen Gelehrten anerkanntes Verdienst pochend, bekrittelte er kindisch-unverständig die Werke seiner Gegner, die er gleichwol auf der nächsten Seite wieder als Früchte des echten Genies unterwürfig lobte, suchte die Leser plump gegen ihre Kritik überhaupt aufzureizen, haschte klatschsüchtig nach Anekdoten, welche den Charakter Goethe’s erniedrigten und ersetzte durch Grobheit und hämische Malice den Mangel an triftigen und stichhaltigen Vertheidigungsgründen.

Auch Kant schwieg nicht länger zu seinen Angriffen. Zuerst fertigte er N. in der Vorrede zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ (1797) nur mit einer kurzen, kräftigen Bemerkung ab. Als dieser aber 1798 die ihm zum Verlag übersandten, von mehreren Verfassern herrührenden „Neun Gespräche zwischen Christian Wolff und einem Kantianer“ mit einer umfangreichen Vorrede begleitete, worin er neuerdings seine Zweifel über Kant’s Lehrsätze auskramte und eine Reihe von Widersprüchen in seinem System sowie von sinnlosen Thorheiten bei seinen Anhängern aufwies, behandelte ihn Kant in zwei öffentlichen Briefen „Ueber die Buchmacherei“ (1798) verächtlich als völlig unwissenden, zu philosophischen Urtheilen unfähigen Bücherfabrikanten, der nur auf den größten und schnellsten Absatz seiner Verlagsartikel hinarbeite und nach gleichen Grundsätzen seine litterarischen Gehilfen arbeiten lasse. Darauf verfaßte N. die Vertheidigungsschrift „Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard und Fichte“ (1799), eine unausstehlich weitschweifige, vielfach schönfärbende Geschichte seines Geistesgangs, die gleichwol den unparteiischen Leser von seinem genügenden Verständniß für speculative Dinge nicht überzeugt, zugleich eine neue, aber herbere und dünkelhafte Verurtheilung der kritischen Philosophie, deren Begründer er einer groben Inconsequenz zwischen seiner Lehre und seinem Leben anklagte. Noch viel rücksichtsloser verfuhr N. in dem Schlußabschnitt des Buches gegen Fichte, in dessen „Ichphilosophie“ er nur ein leeres Spiel mit Begriffen und neuen, unbestimmten Terminologien, nur tiefsinnige Seichtigkeit, Leidenschaft und Rechthaberei, Dünkel und Unduldsamkeit wahrnahm. Aus dem Vertheidiger ward er hier zum Angreifer, der zwar die Härte nicht billigte, mit welcher der Staat gerade damals den des Atheismus beschuldigten Denker verfolgte und seine Schriften verbot, der sich nichtsdestoweniger aber keinen Augenblick bedachte, die beißendste Lauge seines Spottes über die Spitzfindigkeiten und Schwärmereien, über die Mönchsmoral und das praktische Unwissen jenes absurden „Tropfes“ auszugießen.

[589] Zunächst würdigte Fichte den schimpfenden Gegner keiner Antwort. Dagegen fielen eben jetzt die Romantiker über N. her, längst gereizt durch seine wiederholten Sticheleien auf August Wilhelm und Friedrich Schlegel, namentlich durch den in Titel und Form an Schleiermacher’s „Vertraute Briefe über die Lucinde“ erinnernden Roman „Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**“ (1799). Nach der alten Schablone und aus denselben Motiven, die er früher schon mehrfach verwendet hatte, stellte N. hier eine schlecht gebaute Geschichte in Briefen zusammen, welche die praktische Untauglichkeit und Gefährlichkeit der freien Moral der Romantiker nachweisen, zugleich aber ihre Verehrung der Kantischen Philosophie, der Böhmischen Theosophie und der Goetheschen Dichtung rügen sollte. Dafür verfolgten die beiden Brüder Schlegel und mit ihnen nun auch Tieck, der sein Talent eine Zeit lang in Nicolai’s Diensten geübt hatte, den unverbesserlichen Tadler bei jeder Gelegenheit mit bitterem Hohn. Durch erneute, mitunter wohlgezielte Angriffe auf Fichte und die Romantiker, mit denen jetzt auch Schelling getroffen wurde, zog sich N. die sackgroben Erwiderungen des letzteren und nun auch Fichte’s zu, welcher 1801 in seiner von A. W. Schlegel zum Druck vermittelten Schrift „Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur Litterargeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts“ den Gegner als „das vollendetste Beispiel einer radicalen Geisteszerrüttung und Verrückung“ ohne Rücksicht auf seine Person zum bloßen Gegenstand einer historisch-philosophischen Untersuchung machte, gleich als ob derselbe längst todt sei und es sich nur darum handle, diesen in seiner Eigenart einzigen und merkwürdigen Narren aus Principien zu construiren. Natürlich setzte N. auch dieser ausgezeichneten, obgleich absichtlich einseitigen Charakteristik, die in ihrer vernichtenden Derbheit ohne Gleichen in unserer gesammten Litteratur ist, eine nachdrückliche Selbstvertheidigung entgegen, die zwar im einzelnen manchen Vorwurf Fichte’s richtig abwehrte, im ganzen aber unwirksam bleiben mußte. Solange die „Allgemeine deutsche Bibliothek“ bestand (bis 1806), ließ er durch kein Mittel in der Welt sich mundtodt machen, sondern setzte den Kampf gegen die romantische Schule unbeirrt mit seinen Parteigenossen bald heftig schmähend, bald in würdigerem Tone fort. Den Groll auf Fichte bewahrte er lange unvermindert; als dieser 1805 zum Mitgliede der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen war, hintertrieb er seine Aufnahme durch eine ausführliche, schriftliche, mit aller Ruhe, aber entschieden abwehrende Erklärung. Auch noch in der Vorrede zu seinen gesammelten „Philosophischen Abhandlungen“ (2 Bde., 1808) sowie in den meisten dieser großentheils zuerst in der Berliner Akademie vorgelesenen Aufsätze holte er bei jedem Anlaß zu feindlichen Streichen auf die Transcendentalphilosophie und ihre Vertreter aus.

Seine geistige Bestimmtheit und Rührigkeit ließ nicht nach, obwol die bis dahin fast ungeschwächten, durch regelmäßige Lebensweise und ständige Badereisen nach Pyrmont frisch erhaltenen Kräfte seines Körpers jetzt allmählich abnahmen. 1805 verlor er infolge eines heftigen Katarrhalfiebers das rechte Auge. Die nächsten Jahre brachten über seine Vaterstadt schweres Kriegsunglück. Obgleich N. persönlich viel darunter litt, unterstützte er doch in hochherziger Weise die städtische Kasse durch ein beträchtliches freiwilliges Darlehen. Dafür begleitete ihn die Theilnahme und Achtung seiner Mitbürger bis an seinen Tod, der trotz seines hohen Alters unvermuthet am 6. Januar 1811 erfolgte. Ansehnliche Vermächtnisse an städtische und staatliche Anstalten sicherten ihm auch im Grabe noch ein ehrenvolles Andenken bei allen, die er sich in Freundschaft verbunden oder zu Dank verpflichtet hatte; für seinen litterarischen Ruhm war er mindestens um zwei Jahrzehnte zu spät gestorben.

[590] Jördens, Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, IV, 32–64. Leipzig 1809. – Friedrich Nicolai’s Leben und litterarischer Nachlaß, herausgegeben von L. F. G. v. Göckingk. Berlin 1820. – Die größeren Werke über Lessing. – Gustav Rümelin, Reden und Aufsätze, neue Folge, Freiburg i. Br. und Tübingen 1881, S. 407–442. – Jakob Minor, Lessing’s Jugendfreunde (Kürschner’sDeutsche Nationallitteratur“, Bd. 72), S. 275–323, der erste vortreffliche Versuch einer litterarhistorischen Darstellung von Nicolai’s gesammtem Leben und Wirken.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: selbstdarbende