ADB:Haller, Albrecht von (Mediziner)

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Artikel „Haller, Albrecht von“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 420–427, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Haller,_Albrecht_von_(Mediziner)&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:31 Uhr UTC)
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Haller: Albrecht v. H., (1708–77), wurde den 8. October 1708 in Bern geboren; er stammte aus einem wohlangesehenen Geschlechte, das, seit der Reformation in Bern niedergelassen, zwar nicht zu den eigentlich patricischen Familien gehörte, aber Antheil hatte an der Stadtregierung. Albrechts Vater war ein geschätzter Rechtsgelehrter, der 1705 einen Ruf nach Utrecht erhalten, aber ausgeschlagen hatte; 1712 wurde derselbe Landschreiber zu Baden im Aargau. Die Mutter, Anna Maria Engel, starb früh und wurde durch eine Stiefmutter ersetzt. Die Erziehung des Knaben blieb meistens Hauslehrern überlassen, die ihn wenig anzuziehen wußten; dieser selbst entwickelte sich indessen außerordentlich früh, Lernbegierde und Fleiß, Verstand und Gedächtnißkraft zeichneten ihn gleicher Maßen aus und trieben ihn zu eigener Arbeit an, so daß er schon im 10. Altersjahre mit den alten Sprachen vollkommen vertraut war. Auch der Sammeleifer, sowie die Neigung zu dichterischen Versuchen gab schon in diesen Jahren sich kund. Im J. 1721 starb auch der Vater und Albrecht trat in Bern in das Gymnasium, kam aber bald nach Biel zu einem gelehrten Arzte, Dr. Neuhaus, und erhielt von diesem die Richtung auf die Naturwissenschaften; er entschloß sich zum medicinischen Studium und bezog noch 1723 die Universität in Tübingen. Er fand die Verhältnisse nicht günstig. Duvernois, Professor der Botanik und Anatomie, war der einzige der dortigen Lehrer, welcher auf ihn Einfluß übte. Im März 1725 vertheidigte H. vom öffentlichen Lehrstuhle herab die Ansicht Duvernois’, daß ein von dem Breslauer Arzt Coschwitz beschriebener angeblicher Speichelgang unter der Zunge vielmehr blos eine Zungenvene sei, ein Gegenstand, der später H. auch den Stoff lieferte zur Doctordissertation. Bei dem genannten Lehrer hatte er Vorlesungen über Boerhave’s Institutionen, ein damals vielgeschätztes Compendium der Physiologie und allgemeinen Pathologie, gehört, und war so sehr von diesem Werke eingenommen, daß er beschloß, bei Boerhave in Leyden selbst seine Studien fortzusetzen. Im Mai 1725 kam er dort an und wurde der eifrigste Schüler dieses damals berühmtesten Arztes. Die größten späteren Leistungen Haller’s sind auf die hier erhaltenen Anregungen zurückzuführen. So fing er an, zum Zweck der Commentirung der Boerhave’schen Physiologie die ganze damalige physiologische Litteratur mit staunenswerthem Fleiße zu excerpiren; die Frucht dieses Fleißes waren die von 1739–44 gedruckten Commentare zu den Vorlesungen seines Meisters. Diese Commentare übertreffen die Institutionen selbst quantitativ ungemein, ragen aber auch nach ihrem Inhalte vor dem Commentirten hervor. Außer Boerhave hat in Leyden auch B. Albinus bedeutenden Einfluß auf H. ausgeübt; er gab ihm als Director des anatomischen Theaters Gelegenheit zur Leichensection. Der botanische Garten, damals einer der reichsten Europa’s, bot die Möglichkeit zu mannigfaltigen Beobachtungen und nährte die Vorliebe auch [421] für diesen Zweig der Wissenschaft. Nach einer Reise durch das nördliche Deutschland erwarb sich H. 1727, noch im 19. Jahre, den Doctorgrad und begab sich erst nach London, dann nach Paris. Von hervorragenden Männern, deren Anleitung er genoß, deren Freundschaft er gewann, werden genannt an ersterem Orte Hans Sloane, Cheselden, Douglas und John Pringle, in letzterer Stadt neben den beiden Jussieu vorzüglich Winslow und der Chirurg Le Dran, in dessen Hause er wohnte und bei dessen Operationen er Zeuge sein durfte. Auf der Rückreise hielt sich H. noch einige Zeit in Basel auf und an dieser damals einzigen Schweizer Universität fand er zuerst Anlaß, sich in selbständigem Lehrvortrage zu versuchen. Zugleich ergab er sich hier, von dem großen Bernoulli angeregt, mit Leidenschaft dem Studium der höheren Mathematik. Mit seinem vertrautesten Freunde, dem als Naturforscher ebenfalls ausgezeichneten Johannes Geßner aus Zürich, machte H. noch vornehmlich zur Kräftigung seiner Gesundheit, die erste größere Schweizerreise. Die Eindrücke dieser Reise sprach H. aus in dem berühmtesten seiner Gedichte, den „Alpen“, mit welchem er eine ganz neue Bahn betrat und sich in einen entschiedenen Gegensatz stellte zu der bisher in Deutschland üblichen beschreibenden Dichtung. Er ist der Erste gewesen, der die erhabene, großartige Natur des Hochgebirges poetisch zu erfassen suchte und die an Contrasten so reiche Schönheit derselben seinen Zeitgenossen darstellte; zugleich der Erste, welcher der tiefen Abneigung des ganzen Zeitalters Ausdruck gab gegen die überfeinerte Kultur, und der eben so tiefen Sehnsucht nach einem der verderblichen Bildung entflohenen Leben, nach dem goldenen Zeitalter, wo Sitteneinfalt und daher auch Sittenreinheit herrscht. Mit der Heimkehr nach Bern, 1729, begann für H. überhaupt die Zeit der dichterischen Production. Die früheren Versuche zwar, „Hirtenlieder, Tragödien und epische Gedichte“, verbrannte er; doch nur, um mit gereifterem Geschmacke sie durch Besseres zu ersetzen. Es entstanden die Gedichte: „Ueber den Ursprung des Uebels“, „Ueber Vernunft, Aberglauben und Unglauben“, „Ueber die Ewigkeit“, „Ueber die Falschheit menschlicher Tugenden“ etc., deren Titel schon verrathen, daß H. fast ausschließlich das Lehrgedicht pflegte; er war in erster Linie ein ernster Denker, und darin lag sowol die Schwäche als der Vorzug seiner Poesie. Er riß die deutsche Dichtung aus den früheren Trivialitäten heraus und gab ihr wieder einen würdigen, bedeutenden, die tiefsten Interessen der Menschen berührenden Inhalt; damit im Zusammenhang verlieh er aber auch der Form und der Sprache wieder neue Würde und neue Kraft. Im J. 1732 wurde die erste Sammlung seiner Poesien gedruckt, und in Kurzem hatte H. als Dichter Berühmtheit erlangt; 1734 erschien bereits die zweite Auflage und bis 1768 waren – die Uebersetzungen mit eingerechnet – im Ganzen 14 legitime und 7 Nachdrucksausgaben verbreitet. Mit der Rückkehr nach Bern hatte H. auch seine Thätigkeit begonnen als praktischer Arzt und versah gleichzeitig, nachdem er die Professur der Beredsamkeit und Geschichte umsonst nachgesucht, die Stelle des Bibliothekars der städtischen Bibliothek. Um das Amt eines Spitalarztes bewarb er sich ohne Erfolg, doch ruhten seine wissenschaftlichen Arbeiten nicht, und endlich wurde ihm sogar gestattet, öffentliche Vorträge zu halten über Anatomie. Vorzüglich fruchtbar aber waren diese Jahre für Haller’s botanische Studien, indem er seine Mußestunden hauptsächlich der Erforschung der nächsten Umgebungen Berns zuwandte, die kleineren und größeren Reisen beschrieb und seine Beobachtungen sammelte und veröffentlichte. Dem Ruhm des Dichters kam bald derjenige des Gelehrten gleich, und im J. 1736 wurde H. an die neu errichtete Universität Göttingen berufen. Nur zaudernd nahm er den Antrag an, und das erste Begegniß in Göttingen war der Tod seiner Gattin, der in der berühmten Trauerode besungenen „Marianne“; aber bald zeigte es sich, daß H. hier die ihm [422] entsprechende Wirksamkeit und daß die neue Universität den Mann gefunden hatte, der ihr die richtige Bedeutung zu geben vermochte. Es war ihm der Lehrstuhl der Anatomie, Medicin, Botanik und Chirurgie übertragen; die Zahl seiner Zuhörer mehrte sich von Jahr zu Jahr; sein Vortrag wurde als ungekünstelt und verständlich gerühmt; seinen Gegenstand wußte er in klarer, fast freundschaftlicher Weise dem Bildungsgrade seiner Schüler anzupassen, die Fähigeren unter ihnen verstand er zu eigener wissenschaftlicher Arbeit anzuregen. Göttingen verdankte ihm die Errichtung eines anatomischen Theaters, einer damit in Verbindung stehenden Zeichenakademie, einer Entbindungsschule und des botanischen Gartens, den wesentlichsten Antheil an der Stiftung der Akademie oder Gesellschaft der Wissenschaften und an der Begründung und Herausgabe der „Gelehrten Anzeigen“. In allen diesen Bestrebungen kam ihm vorzüglich die Gunst des Curators der Georgia Augusta zu Statten, des Ministers Freiherrn v. Münchhausen. Wie als Lehrer, war H. auch hier als Entdecker und Schriftsteller thätig. Es gibt kein Gebiet der wissenschaftlichen Medicin, auf dem er nicht eingreifend gearbeitet hätte. Er entdeckte den Grund der Hirnbewegung im Einfluß der Athmung auf die Füllung der Hirnvenen und kannte auch schon die circulatorische Hirn- und Rückenmarksbewegung; er schloß, auf Versuche an Thieren gestützt, auf die geringere Wichtigkeit des Kleinhirns im Verhältniß zu der höheren des Großhirns. Die bedeutendste seiner Leistungen in der Physiologie war aber die genaue Durchprüfung sämmtlicher Körpertheile auf Empfindung und Bewegung oder, wie er es nannte, auf Sensibilität und Irritabilität, in 190 eigenen und 377 fremden Experimenten. Nicht weniger eingehend beschäftigte er sich mit Untersuchungen über die Bildung der Knochen, mit der Lehre von der Zeugung und Entwicklung (vas aberrans Halleri – Fretum Halleri) und im Anschluß hieran namentlich mit dem Studium der Mißgeburten. In mehreren Monographien schilderte er die Anatomie der Respirations-Muskulatur. Von Zeit zu Zeit stellte H. seine Leistungen in größeren Werken zusammen. Die anatomischen Arbeiten sind meistentheils in den „Icones anatomicae“ niedergelegt, einem in 7 Fascikeln von 1745–54 erschienenen Prachtwerk, welches an Inhalt sowol, wie an Vollendung der zum großen Theil das Gefäßsystem darstellenden Tafeln alles damals vorhandene übertraf. Einen kurzen Grundriß, in welchem H. seine physiologischen Ansichten zum Gebrauch der Studirenden zusammenstellte, bildeten die 1747 herausgegebenen „Primae lineae Physiologiae“, welche außerordentlichen Beifall fanden und bald ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt wurden. „Die Göttingerzeit von 1736–53 wird für die Geschichte der Wissenschaft ewig denkwürdig bleiben“, erklärt ein Fachgenosse im Gebiete der Physiologie. Trotz alledem konnte H. seine Vaterstadt nicht vergessen. Mancherlei unangenehme Beziehungen zu seinen Collegen verbitterten dem etwas empfindlichen Manne den sonst so reichen und fruchtbaren Aufenthalt. Einen Ruf nach Oxford hatte er 1747, einen anderen nach Utrecht 1749 abgelehnt. Im gleichen Jahre suchte Friedrich II. den berühmten Gelehrten nach Berlin zu ziehen, aber auch diese glänzenden Anerbietungen zauderte H. anzunehmen. Im J. 1753 dagegen reiste er nach Bern, wo er unterdeß (1745) zum Mitglied des souveränen Rathes ernannt worden war und entschloß sich plötzlich zum Bleiben. Vorerst erhielt er nur ein untergeordnetes Amt als sogenannter „Rathhaus-Ammann“, das des Gelehrten wenig würdig war. Seine Beobachtungen setzte er indessen weiter fort. Da das zu den anatomischen Studien nöthige Leichenmaterial ihm fehlte, ergab er sich mit um so größerem Eifer den physiologischen Untersuchungen. So vervollständigte er die Versuche über die Reizbarkeit, beobachtete die Entwickelung des Hühnchens im Ei und kehrte zu dem Lieblingsgegenstand seiner Jugendarbeiten, dem Studium [423] der Blutbewegung und Athmung, zurück. Eine Anzahl der geschätztesten Schriften verdanken dieser Zeit des zweiten Aufenthaltes in Bern ihre Entstehung. Bald machte man denn auch von Göttingen aus, wo sein Verlust lebhaft empfunden wurde, den Versuch, H. zur Rückkehr in seine Lehrthätigkeit zu bewegen. Gleichzeitig suchte König Georg II. ihn nach England zu ziehen und im J. 1755 wurde in Berlin eine Berufung nach Halle betrieben. Die tief gegründete Anhänglichkeit an die Vaterstadt und der entschiedene Wunsch, seinen Kindern in Bern eine Zukunft zu bereiten, ließen H. die glänzendsten Anerbietungen ablehnen. Endlich gelang es ihm nun auch ein Amt zu erhalten, das seinen Neigungen einigermaßen entsprach und seiner Thätigkeit ein freies Feld eröffnete. Im J. 1748 fiel ihm nämlich die gesuchte Stelle des Salzdirectors zu in dem damals einzigen schweizerischen Salzwerke zu Roche im bernischen Waadtland. Seine daherigen Beobachtungen hat er in einer eigenen, von der Regierung ausgezeichneten und auf Staatskosten gedruckten Schrift niedergelegt, „Beschreibung der Salzwerke von Aelen“, welche ein neues Zeugniß gab von der Allseitigkeit seines Geistes, indem sie sich theils mit dem technischen Verfahren der Salzgewinnung befaßte, theils Untersuchungen enthielt aus dem Gebiete der Mineralogie. Mit besonderem Eifer verlegte sich H. zudem auf die allgemeinen Verbesserungen im Anbau des Landes und in dessen Verwaltung. Während einiger Jahre hatte er auch noch die Functionen des Landvogts oder Gubernators zu Aelen zu versehen: der Dichter und Naturforscher verwandelte sich in einen Techniker und Landökonomen, in einen rechtskundigen Administrator und Richter. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten wurden auch hier fortgesetzt, indem er namentlich die feinere Anatomie des Auges, die Bildung der Knochen und die vergleichende Anatomie des Hirns der Vögel und Fische ins Auge faßte. Ein großes Verdienst erwarb er sich insonderheit durch die Anordnung trefflicher hygienischer Maßregeln während einer Epidemie und durch energisches Einschreiten gegen die Verbreitung der Rinderpest. In Roche schrieb H. auch eine kleine Schrift meteorologischen Inhalts. Nach Ablauf der Amtsdauer, 1764, kehrte H. wieder nach Bern zurück. Hier war sein Ansehen bedeutend gestiegen, man hatte erkannt, daß er nicht blos ein gelehrter Theoretiker sei, daß seine praktische Tüchtigkeit hinter seinem umfassenden Wissen nicht zurückstehe. Schon früher hatte er dem Schulrath, dem akademischen Senate und dem Sanitätsrath angehört, jetzt wurde er auch Mitglied des Oberehegerichtes und des Appellationsgerichtes und einer Landesökonomie-Commission; er gab die Anregung zur Einrichtung eines philologischen Seminars und eines botanischen Gartens; ihm verdankte man den Bau eines städtischen Waisenhauses; er war einer der Stifter und Förderer der vielverdienten bernischen „Oekonomischen Gesellschaft“, welche damals als ein Muster in Europa galt. Nur der sonderbar complicirten Wahlart, bei welcher auch das Loos in Anwendung kam, ist es zuzuschreiben, daß H. nicht auch der obersten Regierungsbehörde der Republik angehörte. Gerne aber machte man auch in Staatsgeschäften Gebrauch von seiner überlegenen Einsicht und seiner diplomatischen Gewandtheit, so besonders in den Jahren 1768–70, als Frankreich durch den projektirten Bau einer neuen Stadt am Genfersee die schweizerischen Grenzen bedrohte. Doch aus diesem mehr praktischen Treiben sehnte H. sich nach wissenschaftlicher Production und befriedigte dieses Bedürfniß durch eine rege litterarische Thätigkeit, welche uns die staunenswerthen Schätze seines Wissens überliefert hat. 1768 erschien, als Erweiterung eines früheren Werkes, die classische „Historia stirpium indigenarum Helvetiae inchoata“, 3 Bde., in welcher, nach einem eigenen System geordnet, 2486 Pflanzenarten in kurzen, präcisen Sätzen beschrieben werden. Er gab eine neue verbesserte Ausgabe seiner früher zerstreuten kleineren Werke heraus; er stellte [424] die Excerpte, die er seit seinen Jugendjahren aus medicinischen, chirurgischen und anatomischen Werken gemacht hatte, zu seinen berühmten „Bibliotheken“ zusammen. 1771–72 erschien die „Bibliotheca botanica“, 1774–77 die „Bibliotheca anatomica“, 1775 die „Bibliotheca chirurgica“ und 1776 die „Bibliotheca medicinae practicae“. Das erstgenannte Werk ist die vollständigste bis zum J. 1776 reichende anatomisch-physiologische Litteraturgeschichte, welche wir besitzen. Mit der Schilderung der ältesten Anfänge dieser Wissenschaften bei den Griechen beginnend, gibt es zunächst eine Uebersicht ihrer Entwickelung im Alterthum. Es werden darin alle hierher gehörenden Schriften angeführt, ihre wichtigsten Ausgaben aufgezählt und ihr Inhalt kurz, aber im Nothwendigsten vollständig, wiedergegeben. Die Bibliothek, welche in dieser Weise mehr als 7000 Autoren behandelt, erschöpfte ihren Gegenstand so sehr, daß seither nicht einmal der Versuch gemacht worden ist, Besseres oder auch nur Aehnliches zu leisten. Die „Bibliotheca chirurgica“ und die „Bibliotheca medicinae practicae“ blieben beide unvollendet und kommen an Werth der ersteren nicht gleich, immerhin zeugen auch sie von der großartigen Belesenheit des Verfassers auf diesen Gebieten. Im Ganzen sollen es circa 52000 Werke sein, welche H. so zum Erstaunen seiner Zeitgenossen ausgezogen, besprochen und beurtheilt hat. Das größte Werk, welches Haller’s Weltruhm dauernd begründet hat, ist sein Handbuch der Physiologie, die 1759–66 in Lausanne erschienenen „Elementa physiologiae corporis humani“. Dieselben enthalten nicht nur eine vollständige Schilderung des gesammten physiologischen Wissens jener Zeit, eine Schilderung, welche eine große Menge neuer, von H. gefundener Thatsachen enthält; sondern sie geben auch in ihren Anmerkungen eine vollständige Litteraturübersicht, so daß es leicht ist, bei allem, was H. darin angibt, sofort auf seine Quellen zurückzugehen. Noch einmal wurde von König Georg III., als Kurfürst von Hannover, der Versuch gemacht, den gefeierten Lehrer für Göttingen zu gewinnen. Unter den vortheilhaftesten Bedingungen wurde ihm die Stelle des Kanzlers der Universität angeboten, und der König wandte sich direct an die Republik Bern mit der Bitte, H. seiner amtlichen Verpflichtungen zu entlassen (Mai 1770). Die Regierung sah sich umgekehrt bewogen, den berühmten Mitbürger zu fesseln und stellte ihn mit ganz ausnahmsweisen Vergünstigungen auf Lebenszeit an die Spitze des gesammten Sanitätswesens. Das Gefühl zunehmender körperlicher Schwäche trug mit dazu bei, ihn zur Ablehnung des Rufes zu bestimmen. Die letzten Lebensjahre Haller’s waren nebst diesen fortgesetzten wissenschaftlichen Arbeiten und amtlichen Beschäftigungen vorzüglich der ausgebreiteten Correspondenz mit Freunden und Fachgenossen gewidmet; und mehr als jemals kehrten seine Gedanken zurück zu den Fragen allgemein-politischer, moralischer und religionsphilosophischer Natur, wie er sie schon in seinen ersten Lehrgedichten behandelt hatte. In einer Art von Romanen besprach er jetzt die Vorzüge und Nachtheile der verschiedenen Staats- und Verfassungsformen; 1771 schrieb er den „Usong“, 1773 den „Alfred, König der Angelsachsen“ und 1774 „Fabius und Cato, ein Stück römischer Geschichte“. H. war von Jugend an ein nicht blos ernster, sondern ein streng religiöser Charakter gewesen; als Dichter, wie als Naturforscher war er stets von Bewunderung erfüllt von der Weisheit und Allmacht des Schöpfers. In Göttingen hatte er mit Eifer die Begründung und den Bau einer eigenen reformirten Kirche für seine Glaubensgenossen betrieben und durchgeführt; von seinem Interesse für die Heidenbekehrung zeugt eine eigene Schrift; das offene Auftreten der englischen Deisten und französischen Philosophen veranlaßte ihn, auch als Vertheidiger des Glaubens an die positive Offenbarung aufzutreten in einer Reihe von Schriften, in welchen die Vernunftmäßigkeit der Lehren des Christenthums und die Unentbehrlichkeit religiöser Ueberzeugungen [425] für das sittliche und gesellschaftliche Leben des Menschengeschlechtes dargethan wurde. Die „Briefe über die vornehmsten Wahrheiten der Offenbarung“, von 1772, wurden viel gelesen und haben noch heute nicht alle Bedeutung verloren. Gegen das Ende seines Lebens nahm die Beschäftigung mit diesen Fragen Haller’s Geist immer ausschließlicher in Anspruch, und unter dem Eindruck körperlicher Schmerzen steigerte sich der hohe Ernst seines Wesens zeitweise bis zu grübelnder Selbstquälerei und zu religiöser Melancholie. H. starb den 12. December 1777; nachdem noch einige Monate vorher (den 17. Juli) der junge Kaiser Joseph II. auf seiner Durchreise durch die Schweiz ihm die Ehre eines Besuches in seiner Wohnung erwiesen hatte. Eine Anzeige seines Todes im „Deutschen Museum“ erklärte: „Deutschlands Männer gestehen, daß man seit Leibnitzens Tod keinen empfindlicheren Verlust erlitten“. Im J. 1734 war H. von der Akademie zu Upsala zu ihrem Mitgliede erwählt worden, 1739 folgte diejenige von Leipzig, 1743 London, 1747 Stockholm, 1751 die kaiserl. Gesellschaft naturae curiosorum in Wien und die Akademie von Bologna, 1752 die académie de chirurgie, 1754 die académie des sciences in Paris, 1759 die Akademie von Florenz und Baiern, 1764 Zürich und Haarlem, 1765 Celle, 1772 Edinburg, 1773 Padua und Kopenhagen, 1776 Kärnthen und die societé royale de médecine in Paris, und 1777 Petersburg und Hessen-Homburg; Präsident der Göttinger Akademie war er auch in Bern bis zu seinem Tode geblieben. Im J. 1749 hatte ihn der Kaiser in den Adelsstand erhoben. Der König von Schweden verlieh ihm den Nordsternorden. Mit allen bedeutenden Männern der Zeit stand er in brieflichem Verkehre; Voltaire und Linné hatten seine Freundschaft gesucht. Die in den J. 1724–77 an ihn gerichteten Briefe sind gesammelt im Besitze der Berner Stadtbibliothek und füllen nicht weniger als 64 Bände; es sind im Ganzen 13 202 Briefe, geschrieben von 1209 Correspondenten; davon einzig über 1600 von dem berühmten Londoner Arzte Woerlhof und gegen 500 von dem treuen Gönner Minister v. Münchhausen. Die Zahl der Werke Haller’s beträgt 199; ein von ihm selbst herrührendes Verzeichniß seiner Schriften, mit Einschluß der durch ihn herausgegebenen, zählt 626 Nummern; unübersehbar ist die Menge der Recensionen, Vorreden und kleinern Abhandlungen in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ und anderen Zeitschriften wissenschaftlichen oder gemeinnützigen Inhaltes. Die Größe Haller’s liegt in seiner von ganz Wenigen erreichten Vielseitigkeit, die beinahe über alle Gebiete des Wissens sich verbreitete, und zugleich in der Gründlichkeit, mit welcher er alles erfaßte, was er betrieb. Ein erstaunliches Gedächtniß, von welchem fast Unglaubliches erzählt wird und ein ebenso seltener Arbeitsfleiß gestatteten ihm, eben so groß zu sein als Lehrer, wie als Schriftsteller, als Beobachter und als Experimentator, in der Kenntniß dessen, was die Anderen vor ihm gewußt und gesagt hatten, wie in der Neuforschung und in der Mehrung des Wissens. Die geistige Ausrüstung, die er empfangen hatte und die Anwendung, die er davon machte, ermöglichten ihm, in der Geschichte, wie in der Sprachenkunde, in der Litteratur, wie in der Mathematik, in der Theologie und in der Philosophie, ja selbst in Specialitäten, wie in der Bibliographie und Numismatik nicht minder bewandert zu sein, wie in seinem eigentlichen Lebensberufe, der Medicin und den Naturwissenschaften; sie erlaubten ihm, mit dieser Universalität des Gelehrten auch noch die Pflichten eines praktischen Beamten und eines gemeinnützigen Bürgers zu erfüllen und ein Dichter zu sein. Haller’s Bedeutung als Naturforscher beruht nicht sowol auf einer einzelnen epochemachenden Entdeckung, die er gemacht, als vielmehr darauf, daß er alles vor ihm Geleistete gesammelt, das Falsche und Unbrauchbare ausgeschieden, den Zusammenhang genial verbunden und die vorhandenen Lücken durch eigene Arbeit möglichst ausgefüllt [426] hat. Vor allem gilt dies von der Physiologie. „H. ist quantitativ als der productivste physiologische Schriftsteller anzusehen, qualitativ aber, durch seine Bedeutung für die Entwickelung der Wissenschaft, auch bis heute als der wichtigste. Denn erst durch ihn wurde die Physiologie zur selbständigen Wissenschaft erhoben“ (Valentin). Als Botaniker wurde H. unter seinen Zeitgenossen nur von Linné übertroffen. Ganz ähnlich ist Haller’s Stellung in der Geschichte der deutschen Litteratur: der Einfluß, den er ausgeübt hat, beschränkt sich nicht auf den ästhetischen Werth seiner eigenen Gedichte, „er ist vor allem aus den zahlreichen Anregungen ersichtlich, welche Haller’s tiefe, gedankenreiche Poesie den an poetischem Talent ihn weit überragenden Dichtern der Folgezeit und selbst den Classikern noch gegeben hat“ (Hirzel). – H. war drei Mal verheirathet und hatte 11 Kinder, von denen ihn 8 überlebten. Von der ersten Gattin, Marianne Wyß von Bern, hatte er eine Tochter, Marianne, und einen Sohn, Gottlieb Emanuel (s. u.); die zweite Gattin, Elisabeth Bucher von Bern, starb im ersten Wochenbette sammt ihrem Kinde; die dritte, Sophie Amalie Christina Teichmeyer, Tochter eines Hofraths in Jena, hinterließ er als Wittwe mit noch 3 Söhnen und 3 Töchtern. Der zweite Sohn hieß Rudolf Emanuel (s. u.), der dritte, Johann Karl (geb. 1749), war Offizier in französischem Dienste und wurde 1781 im Duell erschossen; der jüngste, Albrecht (geb. 1758), war Kriegsrathsschreiber, Mitglied des Großen und später des Kleinen Rathes; 1816 war er Oberamtmann zu Interlaken und starb 1823, nachdem er, ausgezeichnet als Botaniker, ein Jahr zuvor die schweizerische naturforschende Gesellschaft präsidirt hatte.

Das Leben des Herrn v. Haller von J. G. Zimmermann, Zürich 1755, bespricht selbstverständlich nur die erste Hälfte von Haller’s Leben, ist aber für diese die Quelle aller folgenden Biographen geblieben. – A. v. Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, herausgegeben von J. G. Heinzmann, Bern 1787, 2 Bde. – Haller’s Correspondenz; davon gedruckt die Briefe von und an Voltaire in Bd. III der Kleinen Schriften, 1772. Eine Anzahl weiterer wurde abgedruckt von Dr. R. Wolf in den Mittheilungen der bernischen naturforschenden Gesellschaft; die übrigen Briefe an Haller, gesammelt in 64 Bänden nebst Register auf der Berner Stadtbibliothek. – Kurze Lebensbeschreibung des Herrn v. Haller seit 1753–76, von ihm selbst verfaßt, Manuscript im Besitz des Herrn v. Haller in Solothurn. – Vgl. Katalog der Haller-Ausstellung v. 12. Decbr. 1877, Bern, mit einem vollständigen chronologisch geordneten Verzeichniß der sämmtlichen Schriften Haller’s. – Größere Biographien Haller’s von Cuvier in der Biogr. universelle. Vol. XIX., 1817, übersetzt und mit Zusätzen vermehrt von J. R. Wyß, in der 12. Ausgabe von Haller’s Gedichten, Bern 1828. – A. de Haller, Biogr. etc., Lausanne 1840, 2me édit. Paris 1845 (von Herminie Chavannes). – Förster und Seiler in Ersch und Gruber’s Encyklop. 2. Sect. Bd. I. 1827. – Rud. Wolf, Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz, 2. Cyclus, Zürich 1859. – Henle, Göttinger Professoren, 1872. – A. v. Haller, Denkschrift, herausgegeben von der damit beauftragten Commission auf den 12. Decbr. 1877, Bern 1877. (A. v. Haller’s Lebenslauf von Dr. Blösch; seine Bedeutung als Dichter von Prof. Ludw. Hirzel; seine Leistungen im Gebiete der medicinischen Wissenschaften, von Dr. Ad. Valentin; seine botanischen Leistungen von Prof. L. Fischer; seine Thätigkeit in mineralogisch-geognostischer Richtung, von Prof. J. Bachmann.) Festrede auf A. v. Haller, gehalten bei der hundertjähr. Gedächtnißfeier von Prof. K. G. König. Bern 1877, nebst einer großen Anzahl anderer bei dem nämlichen Anlasse erschienener Schriften. – Eine sehr fleißige [427] Zusammenstellung der Haller betreffenden Litteratur findet sich im Berner Taschenbuch, Jahrgang 1853. – Ueber Bildnisse, Büsten und Statuen siehe obigen Katalog der Haller-Ausstellung.