ADB:Bernoulli, Johann (Mediziner)

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Artikel „Bernoulli, Johann I.“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 473–476, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bernoulli,_Johann_(Mediziner)&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 09:48 Uhr UTC)
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Bernoulli: Johann B. I., Mathematiker und Mediciner, geb. 27. Juli 1667 zu Basel, † 1. Jan. 1748 ebendaselbst. Bruder des vorhergehenden, dritter Sohn des Rathsherrn Niclaus B. Ursprünglich vom Vater zum Kaufmann bestimmt, mußte er ein Jahr in Neufchatel in einem Handlungshause zubringen, dann aber war es nicht mehr möglich, den genialen Geist vom Studium abzuhalten. Der ältere Bruder Jakob ward sein Lehrer in der Mathematik. Auf dessen Anrathen studirte er außerdem Medicin und erhielt das Licentiat dieser Wissenschaft im Sept. 1690 nach Veröffentlichung seiner ersten Druckschrift über die Gährung. Unmittelbar darauf begab sich Johann B. auf Reisen. Genf, Lyon, Paris waren die Orte, wo er lernend und auch schon lehrend sich aufhielt. Als seine Schüler aus damaliger Zeit sind zu nennen Christoph Fatio de Duillier (älterer Bruder des in dem Leibnitz-Newton’schen Prioritätsstreite über die Erfindung der Infinitesimalrechnung vielerwähnten Niclaus F.), der Marquis de l’Hospital (Verfasser der „Analyse des infiniment petits“, Paris 1696, welche B. in einem vertraulichen Briefe an Leibnitz vom 8. Febr. 1698 als ein an ihm begangenes Plagiat bezeichnet, da er seinen Unterricht so ertheilt habe, daß [474] er das tägliche Pensum für l’Hospital ausführlich aufschrieb, und diese Blättchen habe l’Hospital dann herausgegeben), endlich Varignon. Im Dec. 1692 kehrte er, ein schon berühmter Mathematiker, nach Basel zurück, wandte sich wiederholt der Medicin zu und doctorirte darin im Frühjahre 1694. Schon damals sollte Johann durch Vermittelung von Leibnitz als Mathematiker an die Akademie zu Wolfenbüttel berufen werden. Durch seine in dieselbe Zeit fallende Verheirathung in Basel zerschlug sich die Anstellung. Dagegen kam er im Sept. 1695 als Professor der Mathematik und Physik nach Gröningen, wohin ihn Huyghens dringend empfohlen hatte. Er verblieb dort bis 1705. Alsdann nahm er seine Entlassung, um nach der Heimath zurückzukehren, wozu ihn theils der Wunsch seine sehr angegriffene Gesundheit wiederherzustellen, theils das Andringen seines Schwiegervaters veranlaßte, welcher ihm schon im Oct. 1703 den Basler Lehrstuhl der griechischen Sprache verschafft hatte. Das war ein damals nicht seltenes Verfahren, einen Gelehrten für eine Universität zu gewinnen, daß man ihm eine Professur gab, zu der er sich gar nicht eignete und deren Einkünfte er als Sinecure bezog, bis etwa ein für ihn passendes Fach frei wurde. Während Johanns Uebersiedelung starb Jakob B. Der gesammte Universitätssenat besuchte Johann in corpore, um ihn zu bitten, die erledigte Professur seines Bruders anzunehmen, die Regierung bewilligte ihm eine außerordentliche Zulage, und am 17. Nov. 1705 trat er die Stelle an, welche er 42 Jahre lang bis zu seinem Tode ausfüllte. Alle während der Zeit an ihn ergehenden Berufungen nach Leyden, Padua, Gröningen, Berlin schlug er beharrlich aus. Die Mitgliedschaft der meisten Akademien belohnte seine wissenschaftlichen Leistungen. Er gehörte der Pariser Akademie und zwar als auswärtiges Mitglied, deren es stets nur acht gibt, seit 1699 an, der zu Berlin seit 1701, zu London seit 1712, zu Bologna seit 1724, zu Petersburg seit 1725. Von der Pariser Akademie wurden überdieß zwei seiner Abhandlungen mit dem Preise gekrönt: die erste 1730 über die Ursachen der elliptischen Gestalt der Planetenbahnen, die zweite 1734 über die Ursache der verschiedenen Neigung der Planetenbahnen gegen den Aequator der Sonne, wobei er den Preis mit seinem Sohne Daniel B. theilen mußte. Unter den Schülern von Johann B. aus der eigentlichen Lehrperiode seines Lebens ist außer seinen Söhnen Niclaus, Daniel und Johann ganz besonders Leonhard Euler zu nennen, der einzige, auf welchen Johann B. nicht eifersüchtig gewesen zu sein scheint. Im übrigen bildeten Neid und Selbstsucht die häßlichen Grundzüge seines Charakters, aus welchen die seinen Lebenslauf verunzierenden Laster der Unwahrheit, sowie der Streitsucht ihren Ursprung nahmen. Schon in der Biographie des älteren Bruders mußte diese ungünstige Schilderung Johanns bei Gelegenheit des Streites beider Brüder, der in Johanns Gröninger Aufenthalt fällt und hier nicht weiter zu erwähnen ist, gegeben werden. Ebenso bezeichnend ist Johanns Benehmen in dem schon genannten Prioritätsstreit zwischen Leibnitz und Newton. Dieser Streit, begonnen durch die englischen Freunde Newton’s, geführt vor einem gleichfalls englischen Gericht (der Londoner Gesellschaft der Wissenschaften) unter mittelbarer, wenn nicht unmittelbarer Betheiligung Newton’s, hatte 1712 einen Urtheilsspruch zur Folge gehabt, welcher, gänzlich zu Ungunsten Leibnitzens lautend, von der Geschichte der Wissenschaft allerdings nicht bestätigt worden ist. Am 7. Juni 1713 schrieb Johann B. an Leibnitz seine Ansicht über die Ungerechtigkeit des gefällten Urtheils, schloß aber den Brief mit den engherzigen Worten: „Machen Sie von diesem Schreiben den richtigen Gebrauch, ohne mich Newton und seinen Landsleuten gegenüber zu compromittiren. Ich möchte nicht in diese Streitigkeiten verwickelt werden, geschweige denn undankbar gegen Newton erscheinen, der mich mit Beweisen seines Wohlwollens überschüttet hat.“ Leibnitz kehrte sich nicht an diese Mahnung. Er veröffentlichte [475] vielmehr Johanns Brief, freilich ohne Namensunterschrift als Brief eines Anonymus, diese Anonymität war aber sehr durchsichtig. Johann B. entblödete sich nun nicht am 5. Juli 1719 an Newton zu schreiben: „Ich beschwöre Sie und rufe zu Zeugen, was nur der Menschheit heilig ist, halten Sie sich überzeugt, daß Alles, was ohne Namen veröffentlicht wurde, mit Unrecht mir zugeschrieben wird.“ Bedürfte Johanns Charakteristik noch weiterer Belege, so könnten wir sie in dem Neide finden, welchen er selbst gegen den eigenen Sohn Daniel zu Tag treten ließ, als dieser sich 1734 die Hälfte des von der Pariser Akademie ausgeschriebenen Preises errang, in den Streitigkeiten mit der theologischen Facultät in Gröningen, in dem Streite mit Brook Taylor, in der von Selbstüberhebung strotzenden Autobiographie, welche zum Nachtheile historischer Wahrheit von den meisten späteren Biographen zu Grunde gelegt worden ist. Lohnender ist das Verweilen bei den wissenschaftlichen Leistungen Johanns, in Bezug auf welche keinerlei Meinungsverschiedenheit möglich ist. Johann B. ist ein Charakter von ab und zu bestrittener Widrigkeit, aber ein Kopf von unbestrittener Genialität. Die Arbeiten Johanns sind in den verschiedenen gelehrten Zeitschriften und in den Memoiren der Akademien seiner Periode zerstreut. Die meisten wurden aber schon während seines Lebens gesammelt und 1742 durch Gabriel Cramer, der sich somit in dieser Beziehung um beide Brüder gleiche Verdienste erwarb, in vier starken Quartbänden herausgegeben. An der Spitze befindet sich Johanns Portrait, ein geistvoller Kopf mit hoher Denkerstirne und sauer lächelndem Munde voll Eitelkeit und Schlauheit, der weit eher zu seinem Charakter stimmt, wie die Unterschrift aus der Feder Voltaire’s: Son Esprit vit la vérité, et son coeur connut la justice, il a fait l’honneur de la Suisse et celui de l’humanité. Sein wahrer innerer Mensch ist aber noch deutlicher aus dem Briefwechsel mit Leibnitz zu erkennen, der, durch einen Brief Johanns vom 20. Dec. 1693 ins Leben gerufen, bis zu Leibnitzens Tode fortgeführt wurde, der letzte Brief Johanns vom 11. Nov. 1716 hat sogar wahrscheinlich den am 14. Nov. Verstorbenen nicht mehr lebend angetroffen. Der ganze Briefwechsel wurde unter Mitwirkung von Johann B. 1745 bei den Verlegern seiner Gesammtwerke gedruckt, doch zeigt diese Ausgabe nicht wenige Lücken, da Johann die wahren und gewiß theilweise auch unwahren Anklagen gegen seinen Bruder, gegen l’Hospital und Andere, welche er Leibnitz gegenüber mit besonderer Betonung der Vertraulichkeit der Mittheilung auszusprechen pflegte, hier unterdrückte. In der von C. J. Gerhardt besorgten Ausgabe des Briefwechsels zwischen Leibnitz, Jakob B., Johann B. und Niclaus B. (Halle 1855 als Theil der Pertz’schen Ausgabe von Leibnitzens gesammelten Werken) sind diese Lücken mit Hülfe der Originalbriefe in der Bibliothek zu Hannover meistens ausgefüllt. Der Briefwechsel Johanns mit Leonhard Euler ist im zweiten Bande der von Fuß herausgegebenen „Correspondance mathématique et physique“ (Petersburg 1843) abgedruckt. Die Leistungen Johanns bewegen sich auf verschiedenen Gebieten, auf dem der Medicin, der Chemie, der Physik, besonders aber der reinen und angewandten Mathematik. Von den ersteren sei nur die Dissertation über die Gährung (1690) genannt, in welcher der experimentelle Nachweis geführt wird, daß die Kreide einen gasförmigen Bestandtheil enthalte, und die Spannung der bei Entzündung von Schießpulver entstehenden Gase zu berechnen versucht wird; die Abhandlung über die Ernährung (1699), in welcher die Ansicht vertheidigt wurde, der menschliche Körper erneuere sich etwa alle drei Jahre durch Neubildung und Aufzehrung der einzelnen Organe; die Arbeit über den leuchtenden Barometer (1700 und 1719), dessen Grund er in der Reibung des Quecksilbers gegen die Glasröhre fand. In der Mathematik hält es schwer, Johanns Verdienste zu schildern, ohne einen Abriß der gesammten höheren Analysis zu geben. Was man von Leibnitz gesagt hat, er habe die Samenkörner zu fast [476] allen späteren Entdeckungen in seinen Briefen und Abhandlungen niedergelegt, dasselbe gilt nahezu in gleicher Ausdehnung von Johann B. Mit etwas gutem Willen lassen sich bei ihm Ahnungen von allen möglichen neueren Forschungen auffinden. Aber auch ohne Dinge in ihn hineinlesen zu wollen, entdeckt man in seinen Schriften genug des wichtigsten historischen Materials. Von Johann B. ist die Definition der Function als „une quantité composée de quelque manière que ce soit d’une grandeur variable et de constantes“, während bis dahin nur Potenzgrößen mit diesem Namen belegt wurden; von Johann B. ist die Auswerthung solcher Brüche, deren Zähler und Nenner in Null übergeht, mittelst Differentiation; von ihm ist die Betrachtung der Rückkehrpunkte der Curven, die Untersuchung der Trajectorien, der Brachistochrone; er ist der Erfinder der Rechnung mit Exponentialgrößen, deren Name freilich Leibnitz angehört, während Johann B. den der precurrenten Größen vorgeschlagen hatte; er hat zuerst es gewagt, mit imaginären Größen zu rechnen; zwischen ihm und Leibnitz trat zuerst die allerdings erst später durch Euler richtig beantwortete Frage nach den Logarithmen negativer Größen auf; er und Leibnitz haben bereits die meisten Integrationsmethoden erfunden, deren man sich noch heute bedient, die der Theilung von Integralen, der Substitution neuer Veränderlichen, der Trennung der Veränderlichen in Differentialgleichungen; von ihm stammt die sogenannte Bernoulli’sche Reihe zur Entwickelung von Functionen u. s. w.

Vgl. die Gedächtnißreden in der Histoire de l’académie royale des sciences pour 1748 (Paris 1752) und in der Histoire de l’académie royale des sciences et belles lettres, année 1749 (Berlin 1751); die Selbstbiographie in Grunert’s Archiv der Mathematik und Physik, Bd. 13, Litterarischer Bericht; Merian, Die Mathematiker Bernoulli (Basel 1860).