ADB:Wyß, Johann Rudolf der Jüngere

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Artikel „Wyß, Johann Rudolf der Jüngere“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 424–426, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wy%C3%9F,_Johann_Rudolf_der_J%C3%BCngere&oldid=- (Version vom 3. Oktober 2024, 16:43 Uhr UTC)
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Wyß: Johann Rudolf W., als Dichter der Jüngere genannt, wurde am 4. März 1782 in Bern geboren. Sein Vater, Johann David W., ein origineller und vielseitig gebildeter Mann, war Pfarrer am Münster. Schon als Knabe beschäftigte sich W. mit schriftstellerischen Versuchen der verschiedensten Art und sammelte aus Altersgenossen ein „litterarisches Kränzchen“, dem er philosophische Abhandlungen vortrug. Nach einigem Schwanken entschied er sich zum Studium der Theologie, pflegte aber auch als Student mit Vorliebe allgemein litterarische und historische Wissenschaften, so weit sich in jenen Jahren der Revolutionswirren in der Vaterstadt Gelegenheit bot. Im J. 1801 begab er sich nach Tübingen, 1802 nach Göttingen, wo er von Herbart angeregt wurde, und kehrte nach einer hauptsächlich zu dem Genuß der großen Kunstsammlungen angewendeten Reise 1803 nach Bern zurück, um sich nach bestandener Prüfung nochmals ins Ausland, [425] nach Halle, zu wenden. Ohne Lust zum geistlichen Amte und über seine Zukunft zweifelhaft, mußte er es als ein Glück betrachten, daß er jetzt infolge einer Neuwahl, 1805, zum Professor der Philosophie an der Berner Akademie ernannt wurde und damit einen Wirkungskreis erhielt, der ihm gestattete, in geordneter Amtsthätigkeit zugleich seinen Neigungen zu leben und diese zu allseitig fruchtbaren Anregungen für seine Umgebung zu gestalten. Er war kein Philosoph in der strengen Bedeutung des Wortes. Seine Aufgabe beschränkte sich beinahe ganz auf künftige Studirende der Theologie, welche in den unteren Klassen der Akademie in die Fächer der allgemeinen Bildung eingeführt wurden. Seine Richtung war ein praktischer Eklekticismus, in welchem französische Aufklärung und väterlicher Glaube, Kant und Schleiermacher sich begegneten zu einer schönen und edlen Lebensweisheit. Er eröffnete sein Lehramt mit einer lateinischen Abhandlung über Cicero’s Pflichtenlehre und mit einer Rede über das Verhältniß der Moral zur Religion. Geschätzt waren seine „Vorlesungen über das höchste Gut“, welche 1811 bei Cotta in Tübingen in 2 Bänden erschienen. Nach drei Seiten hat er überdies nachhaltig eingewirkt: als Dichter, als Geschichtsforscher und als Kunstfreund. Als Dichter war er weder großartig noch originell, zum Drama fehlte ihm das Pathos, zur epischen Poesie die schöpferische Einbildungskraft, mit Geist und Geschick behandelte er dagegen Gegenstände der Lyrik und der beschreibenden Dichtung. Seit dem Jahre 1811 gab er im Verein mit einigen Berner und Zürcher Freunden, Usteri, Hegner, Heß, Kuhn, Meißner und Johann Rudolf Wyß dem Aelteren, den sehr beliebten Schweizerischen Almanach „die Alpenrosen“ heraus, die bis zu seinem Tode in zwanzig Jahrgängen erschienen sind; 1815 veröffentlichte er „Idyllen, Volkssagen, Legenden und Erzählungen aus der Schweiz“ in 2 Bändchen. Einige seiner Lieder wußten den Gemüthston so sehr zu treffen, daß sie geradezu zu Volksliedern geworden sind und als solche länger leben werden als der Name des Dichters. Besonders bekannt ist das im J. 1811 zuerst als Gelegenheitsgedicht erschienene: „Rufst du, mein Vaterland“, welches seither die Bedeutung der schweizerischen Nationalhymne erhalten hat. W. hat auch Beiträge geliefert in Becker’s „Almanach zum geselligen Vergnügen“, in Jakobi’s „Iris“, in die in Zürich herausgekommene „Isis“ und in Cotta’s „Taschenbuch für Damen“, Seine „Reise ins Berner Oberland“, in 2 Bändchen, hat wol noch mehr als Haller’s „Alpen“ dazu beigetragen, die Schönheiten der schönsten Gegenden der Schweiz allgemein bekannt zu machen. Um die Geschichte hat sich W. Verdienste erworben nicht allein durch seine Bemühungen um die Erhaltung verschwindender Sagen und Legenden, sondern auch als Herausgeber der älteren Berner Chroniken aus dem 15. und 16. Jahrhundert, der Werke von Justinger (s. A. D. B. XIV, 758). Tschachtlan und Anshelm (I, 483[WS 1]), von welchen namentlich der letztere, bis dahin ungedruckt, in 6 Bänden, eine der wichtigsten Quellen der Schweizer Geschichte für die Reformationsperiode bildet. Den Anlaß zu diesen Arbeiten gab ihm sein Amt als Oberbibliothekar der Berner Stadtbibliothek. Als eifriger und verständnißvoller Kunstfreund, Mitglied der Schweizerischen und Mitstifter der Bernischen Künstlergesellschaft, war er auch glücklicher Sammler von Oelgemälden und Kupferstichen, und von ganz hervorragendem Werthe ist seine Sammlung von Handzeichnungen, meistens schweizerischer Meister des 16. und 17. Jahrhunderts, Entwürfe zu Glasgemälden, sogenannte „Scheibenrisse“, enthaltend, die damit vom Untergange gerettet worden sind. Sie sind seither in öffentlichen Besitz übergegangen. Eine ebenfalls von ihm angelegte handschriftliche Sammlung von älteren Volksliedern in 9 Bänden ist Eigenthum der Berner Stadtbibliothek. Endlich haben wir seine Betheiligung zu erwähnen an dem berühmten „Schweizer Robinson“, der eigentlich aus den belehrenden Gesprächen seines Vaters bei [426] Ausflügen und Spaziergängen entstanden ist. W. hat den harmlosen Niederschriften die gegenwärtige Gestalt gegeben, und einer seiner Brüder hat dieselbe mit Zeichnungen versehen (Prachtausgabe, Zürich 1841). Im Gegensatze zum englischen Vorbilde ist hier der Mensch nicht als alleinstehendes Individuum geschildert, sondern als Glied einer Familie. – Nach einem fast ungewöhnlich ruhig und still verlaufenden Gelehrtenleben ist der geistreiche Mann, eine auch äußerlich schöne und imponirende Erscheinung, erst 48 Jahre alt, am 21. März 1830 gestorben. Er war seit 1820 verheirathet und hat einen einzigen Sohn hinterlassen.

Schweizer. Museum, Bern. 1848, Nr. 2–5. – Lauterburg im Bern. Taschenbuch 1853. – v. Greyerz, Blüthenlese aus den sämmtlichen Werken von J. R. W. dem Jüngern, mit einem Lebensabriß des Verf. Bern 1872.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: A. D. B. I, 438