ADB:Usteri, Johann Martin
Salomon Geßner, den U. in manchem Lied gefeiert hat. Eine Zeit lang von der Siegwartweichlichkeit berührt, empfand er bald Ekel gegen die füßliche Empfindelei und geißelte sie in Versen, lieber noch in seinen seinen und witzigen Zeichnungen. Als Lehrling im Geschäft seines Vaters entsagte er seinen künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen durchaus nicht; oft weilte er im Herbst dichtend und zeichnend im Dorf Meilen am heiteren Zürcher See, machte auch im Sommer häufig Fußreisen, auf denen er die Geschichte oder Sage merkwürdiger Gegenden seiner Heimath näher kennen lernte. Sein Ruf als Zeichner war schon so verbreitet, daß Bodmer zu zweien seiner Schriften seine Kunst benutzte, zu den 1769 erschienenen „historischen Erzählungen“ wie zu den „Balladen aus dem Altenglischen“ (1780 und 1781). Von Bedeutung erscheint, daß er durch Bodmer, der, wie J. Grimm schon 1807 sagte, nach langer Zeit der Erste gewesen, der die altdeutschen Gedichte als Poesie betrachtete, früh in seiner Vorliebe für die altdeutsche Litteratur bestärkt wurde. Mehr um sich künstlerisch und menschlich als zum Kaufmann auszubilden, unternahm U. mit einem etwas älteren Vetter 1783 eine Reise nach Deutschland. Fast alle größeren Städte wurden besucht: durch Lavater und Geßner gut empfohlen, lernte er manchen bedeutenden Mann kennen. In Berlin erfreuten ihn D. Chodowiecki’s Arbeiten, dessen Einwirkung auf ihn als Künstler nicht zu verkennen ist. In Hamburg sah er Klopstock und besuchte Matthias Claudius. Ueber den Empfang bei Claudius berichtete er seiner ältesten Schwester: „Er ist ungefähr“, heißt es in dem Briefe, „von meiner Größe … hat eine Physiognomie, die Verstand und Witz verräth, ein feuervolles Auge und braunes Haar, das er ganz offen, wie unsere Bauern, trägt … Claudius ist arm, seine Schriften müssen ihn ernähren, und das ist gewiß eines der elendesten Handwerke!“ Daß Claudius auf ihn als Dichter nicht ohne Einfluß gewesen ist, zeigt manches Gedicht Usteri’s, besonders der „Morgengesang“.
Usteri: Johann Martin U., Dichter und Künstler, wurde in Zürich im April 1763 geboren. In behaglichen Verhältnissen aufwachsend, wurde er zu keiner strengen Pflichterfüllung genöthigt. In der Schule wenig strebsam, galt er für unbefähigt, denn er überließ sich ungestört seinen Kunstliebhabereien: er zeichnete viel, er sang, er dichtete. Seine künstlerische Begabung förderte der Vater, der als wohlhabender Kaufmann viele Kunstwerke sammelte, ebenso sein Oheim, der Zeichner Heinrich U. Im Zeichnen unterrichtete ihn besonders der Bildhauer Sonnenschein, später der mit dem Vater befreundete Dichter und MalerVon Bremen ging die Reise nach Brüssel und Holland; dann blieb er mehrere Wochen in Paris, wo er bei seiner Vorliebe für das Mittelalter und [391] seine Litteratur – ein Vorläufer Uhland’s und Grimm’s – Studien auf der Bibliothek machte, unter anderem auch die Zeichnungen des Manessischen Codex copirte. Nach einem Jahr des Aufenthalts in der Fremde kehrte er über Lyon nach der Vaterstadt zurück. Er hatte viel auf der Reise gelernt; bei seinem wunderbaren Gedächtniß und seiner lebhaften Phantasie konnte er noch nach Jahren das Gesehene in Bildern darstellen, als ob er eben erst Personen und Gegenstände vor Augen gehabt hätte. Die Reise hatte auch sein Selbstvertrauen gehoben; seine Forschungen in der Geschichte und in der Litteratur des Mittelalters vertieften sich. In der Stadtbibliothek auf der Wasserkirche sah man den jungen Kaufherrn oft vertieft in Handschriften, Chroniken, in alte Bücher und Zeichnungen, die für die Sitten- und Seelengeschichte der Vergangenheit von Bedeutung waren, und als Künstler wie als Dichter wußte er die Eindrücke zu gestalten. Von seinen Mitbürgern wegen seiner Güte und Tüchtigkeit geschätzt, wirkte er im stillen, ohne sich hervorzudrängen, für jeden gemeinnützigen Verein, wie später noch gezeigt werden soll. Besonders lieb war ihm die durch seinen Oheim Heinrich begründete Künstlergesellschaft. Das Malerbuch, in das jedes Mitglied Beiträge lieferte, zeugte von seiner lebendigen Mitwirkung. 1803 wurde er Vorsteher der Gesellschaft; auf seine Anregung bildete sich die allgemeine Schweizerische Künstlergesellschaft, die sich 1806 unter seinem Vorsitz zum ersten Male in Zofingen versammelte. Unter Usteri’s milder und harmloser Regierung (Worte Hegner’s) fühlte sich jeder wohl; er wußte, wie keiner nach ihm, die Gesellschaft zu beleben und jedem das Gefühl der Unabhängigkeit zu wahren.
Von den Schlägen des Geschicks blieb auch er nicht verschont. Nie war er mit ganzer Seele Kaufmann; als mit dem Beginn der Umwälzung in Frankreich sein Geschäft in immer größere Bedrängniß kam, entsagte er nach dem Tode der Eltern dem kaufmännischen Berufe. Der Verlust eines großen Theils seines Vermögens schmerzte ihn nicht sehr, den die Schätze seines Inneren entschädigten. Schlimmer war es, daß seine schöne Frau, die er schon 1786 geheirathet, viel kränkelte, ebenso seine Tochter, das einzige Kind seiner Ehe, die zwölf Jahre vor dem Vater (1815) starb. Nicht in der Biographie, aber in einem Briefe an Ulrich Hegner spricht Usteri’s treuer Freund David Heß von der „immer halb wahnsinnigen“ Frau des Dichters. Der im J. 1795 erfolgte Tod seines Bruders Paulus, eines nicht unbegabten Künstlers, der sanft und fest, dem älteren Bruder innig vertraut war, ergriff ihn tief. Aber mit großer Ruhe und stiller Gefaßtheit ertrug er jedes Mißgeschick. Reisen nach Württemberg mit seiner Gattin, häufige Fußwanderungen in seinem schönen Vaterlande erquickten ihn und gaben Kraft zu neuer Arbeit. Wiewohl keine politische Natur – nicht selten wird er mit dem Staatsmann und Schriftsteller Paul U., dem Sohn des mit Winckelmann befreundeten Leonhard U. verwechselt – empfand er doch die Geschicke seines Vaterlandes mit ganzer Seele. Die Zerstörungswuth der Franzosen in der Schweiz erfüllte ihn mit Unwillen: in Gedichten und in ernsten wie satirischen Zeichnungen machte er sich Luft. Als Obereinnehmer des Kantons Zürich war es ihm vergönnt, 1799 während der helvetischen Regierung die anvertraute Casse vor den Franzosen zu retten. Nach Einführung der neuen Verfassung wurde er 1803 Mitglied des großen Rathes, sieben Jahre später Sekelmeister des Stadtrathes; im J. 1815 in den kleinen Rath befördert, verwaltete er mehrere einflußreiche Aemter. Dabei wurde er der Kunst und Dichtung nie untreu. Zahlreiche Gedichte, mehrere Erzählungen, fast immer mit trefflichen Zeichnungen geschmückt, gab er den schweizerischen Taschenbüchern. Seine beiden bekanntesten Idyllen hat er bei Lebzeiten, trotz dem Drängen der Freunde, nie drucken lassen. Denn seine Bescheidenheit war so groß wie seine [392] Begabung. Den Verfasser des volksthümlichen Liedes „Freut euch des Lebens“, das U. für ein Fest der Zürcher Künstlergesellschaft 1793 gedichtet hatte, kannten die Zeitgenossen lange nicht. Zuerst in Zürich erschienen, wurde es im Göttinger Musenalmanach für 1796 (S. 27) mit der Melodie von Nägeli gedruckt, ohne daß der Verfasser genannt wurde. Erst 1819 hat der Dichter und Maler David Heß – vgl. auch seinen Brief an Ulrich Hegner vom 28. October 1818 – den Dichter dem Publicum genannt. Heß wurde nicht müde, dem Freunde seine Dankbarkeit zu bezeugen. In dem 1818 erschienenen Buch „Die Badenfahrt“ hatte er auf Usteri’s 1811 in den „Alpenrosen“ gedruckten kleinen Roman „Zeit bringt Rosen“, dessen Schauplatz Baden im Aargau ist, aufmerksam gemacht; seine Weihnachtsgabe[WS 1] „Die Rose von Jericho“ (1819) widmete er mit einem Gedichte U., dem Freunde alter Sagen, dem heiteren Sänger der Freude, dem edlen Meister der Künste. Und 1820 erzählte er in dem schönen Charakterbild „Salomon Landolt“, daß U. einer der liebsten Gesellschafter des originellen Landolt war, dem bekanntlich Gottfried Keller ein bleibendes Denkmal in seinem Landvogt von Greifensee gestiftet hat. Auch der Dichter der „Molkenkur“, konnte sich, wie er selbst in seinen Aufzeichnungen sagt, des häufigen Umgangs mit dem edlen und geistreichen U. rühmen. Von deutschen Dichtern stand ihm u. a. Ludwig Uhland näher, auch Matthisson, dem er 1819 eine sehr feine Tuschzeichnung mit Distichen widmete. Mit seinen Mitbürgern verkehrte er gesellig ohne Eitelkeit und ohne Ansprüche, wie mehrere Gelegenheitsgedichte in seinen Werken bezeugen; die „Gedichte für seine Zunft zur Waag“ findet man in einem 1854 zu Zürich erschienenen Schriftchen gesammelt. Der „Gesellschaft der Böcke“, die er schon 1808 durch das im Neujahrsblatt der Musikgesellschaft gedruckte Gedicht: „Der Friede mit den Böcken in Zürich 1446“ erfreut hatte, sang er fünf Jahre später ein Lied zum 11. Februar 1813 nach der Melodie des Schillerschen Reiterliedes. Die ihm näher Stehenden kannten seinen Werth; nicht so leicht Fremde. Seine Gesichtszüge waren nicht bedeutend; nur in den Mundwinkeln wies, wie Heß andeutet, ein leichtes Lächeln auf seinen feinen und geistreichen Humor. Ein etwas abschreckendes Bild von ihm ist bekannt: infolge einer örtlichen Entzündung wurden nämlich die die Augäpfel zusammenhaltenden Muskelbänder geschwächt und diese traten dadurch unnatürlich hervor. Die Sehkraft seiner einst milden blauen Augen litt zum Glück gar nicht. Erst gegen Ende des Jahres 1826 erlahmte auch sie, und es stellte sich die ihm von Jung-Stilling schon 1806 vorausgesagte Krankheit ein: die Hautwassersucht. Seine ruhige Heiterkeit verließ ihn aber so wenig, daß er noch im Winter vor seinem Todesjahr ein Dutzend „Kinderlieder“ für das Enkelkind seines Freundes Heß dichtete, die zu seinen besten Gedichten gehören. Im Frühjahr 1827 begab er sich mit der Gattin nach Rappersweil, dort hoffte er sich zu erholen und auch sein letztes Werk, die Hauschronik der Familie Meiß von Zürich, die treffliche Erzählung „Der Erggel im Steinhus“ (Steinhaus-Erker) ganz zu vollenden. Sein Zustand aber verschlimmerte sich. U. – so schrieb Heß an Hegner am 22. Juni – hat uns allen Angst gemacht, nicht bloß, weil es schien, daß er uns ganz entrückt werden sollte, sondern weil das noch Traurigere zu befürchten schien, er möchte sich selbst überleben. Davor bewahrte ihn der Tod. Schon am 29. Juli 1827 verschied er sanft. Die Leiche wurde über den sonnigen See nach der Vaterstadt gebracht, der er so selbstlos seine Kräfte gewidmet hatte.
Bald nach seinem Tode sammelte der treue Heß alles, was U. geschrieben und an Zeichnungen hinterlassen. „U. hat unsäglich viel gearbeitet“, schrieb er Hegner. „Ich freue mich wie ein Kind auf die Zeit, wo ich das Product seines ganzen Lebens vor Augen haben werde“. Wie viele Mühe ihm die Ordnung des Nachlasses gemacht hat, wie viele Verdrießlichkeiten er zu bestehen hatte, [393] ehe die Schriften des Freundes der Oeffentlichkeit vorlagen, das zeigt der Briefwechsel mit Hegner. Ludwig Uhland stand ihm mit seinem Rath zur Seite, durch Heß erhielt er Einsicht in Usteri’s reiche Volksliedersammlung. Erst Ende 1831 erschienen zu Berlin „Dichtungen in Versen und Prosa. Nebst einer Lebensbeschreibung des Verfassers, herausgegeben von David Heß“ III. Die Reihenfolge der Schriften ist in der zweiten Auflage (Leipzig 1853) wie in der dritten (Leipzig 1877) verändert. Leider sind den Dichtungen die in Kupfer gestochenen Zeichnungen Usteri’s nicht beigegeben worden. Heß hoffte sie später heftweise nachzuliefern. Das ist aber nicht geschehen. Und doch würden die Dichtungen dadurch viel an Reiz gewonnen haben. Denn U. zeichnete und dichtete zugleich; der bildende Künstler regte den dichtenden und dieser den bildenden an. Nicht bloß im „Vikari“ deuten viele Stellen auf die Ergänzung und Belebung durch Bilder hin. So verfuhren häufig die Dichter des 15. und 16. Jahrhunderts, für die U. eine besondere Vorliebe hatte. Er kannte das häusliche wie gesellige Leben der alten Zeit, besonders der Schweizer, gründlich, aber seine Dichtungen blieben immer doch Dichtungen, und nie drängt sich das gelehrte Wissen störend auf. Die alte Zeit war ihm so vertraut, daß er ihre Sprache unbefangen nachahmen konnte, auch die alte Schreibart in seinen Manuscripten öfter gebrauchte. So ließ sich selbst ein verdienter Forscher (Wendeler) eine Zeitlang täuschen und hielt Usteri’s Erzählung „Thomann zur Lindens Abenteuer auf dem großen Schießen zu Straßburg“, die er in Usteri’s Originalmanuscript kennen gelernt hatte, für die Schöpfung eines Zürchers aus dem 16. Jahrhundert. Wer Usteri’s durch Anschaulichkeit, Natürlichkeit und Treue des Colorits ausgezeichneten Erzählungen liest, in denen nur zu wenig die männliche Kraft und Derbheit der alten Zeit zur Geltung kommen, und die von ihm dazu ausgeführten Zeichnungen vor Augen hat, dem wird ein doppelter Genuß zu theil. Die Bilder muß man freilich jetzt in alten Taschenbüchern aufsuchen, wo die Erzählungen zuerst erschienen sind. So brachten die „Alpenrosen“ außer der erwähnten Erzählung „Zeit bringt Rosen“ im J. 1814 „Gott bescheert über Nacht“ und 1819 den eben erwähnten Thomann. In der selten gewordenen „Alruna“, einem „Taschenbuch für Freunde der Vorzeit“ findet sich im J. 1812 die Erzählung „Der Schatz durch den Schatz“ mit acht köstlichen lebensfrischen, von U. gezeichneten und von H. Lips gestochenen, Bildern. Sie enthält die Geschichte des nach mancher Kümmerniß und Gefahr zum Wohlstand und zum häuslichen Glück gelangten Goldschmids Hans Breidbach von Freiburg aus dem 16. Jahrhundert. Der Herausgeber des Taschenbuchs Ernst Müller hatte Grund genug, sich über das schöne Geschenk „unseres U.“ zu freuen, „der so viel ächten Sinn für altteutschen Geist, altteutsche Sitte hat, daß fast jeder Federzug von ihm den Charakter jener Zeiten an sich trägt“. U. wendet auch in Gedichten ältere Ausdrücke und Formen der Sprache an: so in der Ballade von der Gräfin Idda von Toggenburg (vgl. Grimm, Deutsche Sagen Nr. 513); in der zuerst in den „Alpenrosen“ 1820 erschienenen, mit einem Bilde geschmückten rührenden Klag der armen Frow Zwingli 1531; in der Ballade Graf Walraff von Thierstein, die Uhland’s Beifall fand; auch in der Briamel vom Schuldenbott und der vom Wyn: Noah gießt in vier Grübelein, in die Rebenschöße eingepflanzt sind, Affen-, Lamm-, Bären-, Schweineblut; in der letzten Strophe dann die Lösung oder Nutzanwendung (vgl. R. Köhler, Anz. f. dt. Alt. 1883, 9, 403). Sein kindliches, herzliches und harmloses, dabei sinniges Wesen tritt in den „Liedern in Schweizer-Mundart“ rein hervor. Die Kinderlieder, z. B. „Wagenfahrt“, „De Guggu“, „So wirds choh“, „Helgebuech“ (Bilderbuch) sind in ihrer Art ebenso trefflich wie ähnliche Hebels, mit dem man ihn aber nicht ohne weiteres vergleichen darf. Hegner [394] freute sich besonders an dem Gedicht „D’Störchli“: „unvergleichlich als poetisches Gemälde, als humoristische Darstellung und als vortreffliche Lehre; auch der Umzug ist ganz nach der Natur gemalt, man sieht alles lebendig vor sich.“ Auch andere Lieder in der Mundart sind reizvoll, z. B. „De verliebte Rechenmeister“, Sennelied: „Juhe! da obe“ und Berglied: „Uf Bergen, uf Bergen“. Diese beiden letzten erschienen zuerst 1815 und 1817 in den Neujahrsgeschenken der Zürcher Musikgesellschaft, für die er seit Ende des vorigen Jahrhunderts bis kurz vor seinem Tode eifrig beisteuerte. Dort begann er seit 1813 die „Schweizerreise“, die Erzählung mit Bildern und mehreren Gedichten schmückend, die sich auch in seinen Schriften finden. Die beiden Idyllen in Zürcher Mundart „De Herr Heiri“ und „De Vikari“ wurden in der Schweiz, besonders in Zürich noch besser gewürdigt als in Deutschland, denn man verstand jede Anspielung, man freute sich des Spottes über die philiströse Beschränktheit, das leere Scharinggeln (Complimentiren), das lächerliche Vornehmthun, über die Frau Basenweisheit und Affectation der Pfahlbürger. Greifbar stehen die Gestalten dieser dem komischen Epos verwandten Idyllen vor uns. U. geht dem Zwiespalt zwischen einfacher Natur und verderbter Convenienz nicht aus dem Wege: er beschönigt nicht und hier verlindert und verzierlicht er durchaus nicht, wie er es sonst wohl manchmal that. Seine beiden Idyllen, urtheilt Gervinus, neigen weit mehr zu der komischen Caricatur als zu der Elegie, die sonst leicht mit der Idylle verschmolzen wird. Von dem Hexameter meint Gervinus, daß er den Schweizeraccent deutlich abbildet, und „die Häufung der Daktylen, die verwickelten, in klarer Prosa abfließenden Perioden versinnlichen trefflich die geläufigen Zungen der Städterinnen; alles Eigenthümliche des Idioms bis auf die französischen Brocken ist genau beobachtet“. Aber auch sein Tadel ist nicht unberechtigt, daß bei aller Ergötzlichkeit einzelner Züge U. doch durch die Breite der Darstellung kleinstädtischer Leere und Geschwätzigkeit ermüdet. Uebrigens ist „De Vikari“ noch 1869 durch Heinrich Cramer getreu nach U. für die Bühne nicht ungeschickt bearbeitet worden.
Weniger selbständig und eigenartig ist U. in den hochdeutschen Gedichten; hier finden wir öfter den Ton Hölty’s, Bürger’s, Claudius’, obwohl von eigentlicher Nachahmung keine Rede sein kann. In Behandlung von Volkssagen und Balladen, die er sich selbst vorzusingen pflegte, ist er sehr geschickt, und seine Verse fließen leicht und ungezwungen, nur vermißt man zuweilen strenge Feile in einzelnen Wendungen. Wir heben hervor: „Der Kaiser und die beiden Blinden“ (zuerst Alpenrosen 1821); „Der Graf von Falkenstein“; „Der treue Hund und der Storch von Luzern 1613“ (zuerst 1815 und 1818 Zürcher Musikgeselischaft); „Struth Winkelried und der Drache“ (ebenda 1820). Da U. die Grenzen seiner Begabung kannte, zwang er sich nie zu einer ihm fremden Empfindung, zu einer seiner einfachen Natur nicht gemäßen Leidenschaftlichkeit und Erhabenheit. Darum ist sein Gedicht „Der Maler“ für ihn bezeichnend. Ein junger Maler, der mit reinem Gefühl der Kunst und der Natur lebt, hört seine Bilder schelten: man vermißt Tendenz und Geistescultur, er solle nach der „göttlichen Griechheit“ streben. Er verschlingt Jean Paul, studirt die Horen und findet das nicht Verstandene hoch erhaben. Aber seine „nordischen Helden mit griechischen Sitten“ gefallen nicht, er kommt in große Noth. Da malt er wieder, in Erinnerung an sein freundliches Dorf, mit Liebe und Verstand kleine Scenen, und was er malt, gelingt. Man rühmt ihn, bezahlt ihn und er thut den Schwur: fürder nur zu singen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Dieses in der Form an Goethe’s Legende und Künstlers Apotheose anklingende Gedicht gehört zu den „Künstlerliedern“, einer erfreulichen Gabe seiner Muse. Da wird das Künstlerschicksal ernst und humoristisch besungen; der gottbegnadete [395] Maler kommt zum Wort wie – vgl. Fritzens Lebensgang – der Pfuscher, der ohne Beruf sich zum Maler zwingen will. Die Lieder wurden zuerst in einer von U. für die schweizerische Künstlergesellschaft veranstalteten Sammlung gedruckt, für die er die werthvollsten Beiträge lieferte, Basel 1809 und zweite, vermehrte Auflage 1826. Wer das reizende kleine Büchlein, in dem sich auch Goethe’s Künstlerlied findet, mit den hübschen von Hegi und Lips gestochenen Zeichnungen Usteri’s und anderer einmal genauer betrachtet hat, wird es nicht leicht wieder vergessen.
Eine zusammenfassende Würdigung des Künstlers U. ist noch nicht versucht worden, und doch hat er auch als solcher, wie Heß richtig bemerkt, auf die Geschmacksrichtung seiner Vatetstadt und Zeit bedeutend gewirkt. Was die Stadtbibliothek, was die Künstlergesellschaft und andere Vereine in Zürich besitzen, müßte ebenso berücksichtigt werden, wie die Zeichnungen Usteri’s zu den Gedichten, die mit ihnen in Kalendern der Schweiz, in den „Alpenrosen“, den Neujahrsgeschenken der Musikgesellschaft erschienen. Sehr werthvoll sind die seit 1806 von ihm gezeichneten Bilder, die schweiz. Kriegsgeschichte betr. vom Auszug der Helvetier bis 1352, für die Neujahrsblätter der „Feuerwerkergesellschaft“ in Zürich, die seit dem 17. Jahrhundert besteht. Die Unternehmung, sagt Oberst D. Nüscheler im Neujahrsblatt dieser Gesellschaft 1849, wäre nicht zur Ausführung gelangt, wenn nicht der unvergeßliche U. diese mühevolle Arbeit übernommen und ebenso anziehend wie gründlich bis zu seinem Tode fortgesetzt hätte. U. hat – vgl. Heß an Hegner am 20. Januar 1829 – seit 1783 nicht weniger als 98 Zeichnungen zu den Neujahrsstücken verfertigt, dazu 22 Texte für die Feuerwerker und 10 für die Musikgesellschaft geschrieben und sich so auch um diese Institutionen ein nicht geringes Verdienst erworben.
Von Usteri’s anderen Zeichnungen, die der treffliche J. R. Schellenberg gestochen hat, sehe ich ab und erwähne nur zwei größere Werke. „Muttertreue wird täglich neu“ (Zürich 1803 und 1805, vgl. Alruna 1805), in 9 Blättern bestehend, fand großen Beifall durch die den Sinn der Handlung kräftig aussprechende Anordnung wie durch das reizvolle Kostüm der Scenen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wie er die französische Umwälzung in seinem conservativen Sinne betrachtete, zeigt der frei erfundene Bildercyklus „Das Vaterunser eines Unterwaldners“, 7 Blätter in 4° von Marquard Wocher in Tuschmanier geäzt und in Basel 1803, in Freiburg, in Frankfurt und Leipzig 1805 erschienen. Nach den sieben Bitten erscheint der Aelpler in verschiedenen Situationen. Das erste Blatt, wo er mit seinem Enkel den herrlichen Morgen freudig und dankbar begrüßt, ist besonders stimmungsvoll; im zweiten Blatt kehrt er auf seine Alp zurück, da er im Thal den Freiheitsbaum gesehen, im dritten wird seine Hütte von Verrätherhand angezündet: eine Scene des Jammers; im vierten wankt er, auf den Enkel gestützt, unter den Ruinen umher; im fünften betet er in den Ruinen der Capelle zu Stansstadt; im sechsten bezwingt er, an eine Eiche gelehnt, die Versuchung, sich an dem Unterwaldner zu rächen; im letzten fleht er angesichts der terroristischen Maaßregeln in Unterwalden: erlöse uns von allem Uebel. So reiht sich U. mit diesem Bildwerk denen an, die das Vaterunser in Dichtungen, ernst und parodistisch, benutzt haben.
- Wilhelm Scherer, J. Grimm 1885 S. 95. – David Heß, s. oben. – Jakob Bächtold, Jakob, Joh. Kasp. Schweizer 1884. Einl. S. 81, 99. – Briefw. zw. Heß und Hegner s. Zür. Taschenb. auf 1889 S. 1 ff., 1890 S. 152 ff. – Hegners Aufzeichnungen Zür. Taschenb. 1888. S. 28. – Hosäus, aus Matthisson’s Album, V. für Anhalt. Gesch. Dessau 1890, S. 685. – Gerviuus, V⁴, 69. – Mörikofer, Die schw. Litt. des 18. Jahrh., S. 526–532. – Goedeke, § 297, 263 vgl. § 335, 945 (ungenau). – R. M. Werner, [396] Viertelj. für Litteraturg., V. Band, S. 49. – Nagler, Künstlerlex. 19, 265 bis 266.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Weinachtsgabe