ADB:Köhler, Reinhold (Literaturhistoriker)

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Artikel „Köhler, Reinhold“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 317–318, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:K%C3%B6hler,_Reinhold_(Literaturhistoriker)&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:55 Uhr UTC)
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Köhler: Reinhold K., Litterarhistoriker, wurde in Weimar am 24. Juni 1830 als Sohn des Diakonus Dr. K., eines allverehrten milden Geistlichen geboren; seine märchenfrohe Mutter war eine Försterstochter aus der Nähe von Ilmenau, wo K. später gern Sommerrast gehalten und den Bergleuten ihre Sagen und Lieder abgefragt hat. Ostern 1848 von Sauppe rühmlich zur Universität entlassen, studirte er dreieinhalb Jahre in Jena, Leipzig und Bonn classische Alterthumswissenschaft, mehr der realen als der formalen Philologie zugewandt, durch Welcker, Jahn, Ritschl gefördert, von H. Rückert und Stark in mittelalterliche Dichtung und Kunst, von Diez auch ins romanische Gebiet eingeführt, als Schüler Lassen’s dem Sanskrit nicht fremd. 1851 starb sein Vater und ließ die Wittwe mit fünf Kindern in sehr engen Verhältnissen zurück. K. blieb fortan, seinen Zukunftsplänen still entsagend, daheim, arbeitete unermüdlich auf der Bibliothek und ertheilte Privatunterricht. Das Staatsexamen legte er im Mai 1852 in Berlin ab; die Doctorpromotion auf Grund einer gelehrten mythologischen und quellengeschichtlichen Studie über Nonnos erfolgte 1853 in Jena, wo man vergebens die Habilitation des wissenschaftlich und menschlich gleich hochgeschätzten Nachbars wünschte. Ein allen äußern Hemmnissen trotzender Ehrgeiz war diesem so kundigen wie bescheidenen Forscher fremd; er blieb an die Scholle gebunden und seit 1856 auf den zunächst recht subalternen Posten eines weimarischen Bibliothekars beschränkt. Erst neben L. Preller, der sein Verbleiben von Köhler’s Bestallung abhängig gemacht hatte, dann neben A. Schöll; mit beiden Chefs, dem Mythologen wie dem Goetheforscher, durch warme Freundschaft verbunden. Für ihn wurde die Bibliothek wahrlich keine Sinecure. Er that jede Arbeit mit Freuden, erklärte aber, seinen Abschied nehmen zu müssen, wenn an Schöll’s Stelle die Leitung nicht ihm, sondern einem Günstling des Großherzogs, den man versorgen oder fixiren wollte, etwa Goethes Enkel Wolf, übertragen würde. Er selbst war gar nicht weltläufig. Der einmal geäußerte Wunsch der Herrschaften, K. möge von Zeit zu Zeit über neue Erscheinungen Bericht erstatten, schreckte ihn so, daß er eher seinen Rücktritt anbot und nun von dem wirklich sehr wißbegierigen und gütigen, aber auf Formgewandtheit haltenden Carl Alexander bei der Neujahrscour oder andern raren Begegnungen kaum mehr vernahm als die stereotype Frage „Was macht die Bibliothek?“ Fünf Jahre schon stand er an der Spitze, ein weltberühmter Gelehrter, der willig selbst den Ausleihdienst vollzog, bis ihm der Titel „Oberbibliothekar“ ertheilt wurde. Für die Stadt blieb er immer der „Doctor Köhler“. Jedermann kannte und liebte ihn, wie er selbst mit seinem Weimar aufs innigste verwachsen war. Der beste Sohn und Bruder, hauste er mit der Mutter und zwei Schwestern – die beiden andern waren jung verstorben – in einer sehr einfachen, behaglichen Wohnung am Graben. Regelmäßige Spaziergänge und ein Vesperstündchen in der „Erholung“ unterbrachen den Tageslauf; ein paar kurze Urlaubswochen in Ilmenau oder Friedrichsroda, Ausflüge zur Kösener „Vogelweide“ mit Koberstein und jüngeren Germanisten, die wiederholte Theilnahme an Philologenversammlungen seine einförmigen Jahre. Er hat niemals die deutschen Grenzen überschritten und alle Weltreisen nur auf dem Papier gemacht. Man traf ihn in keiner Hausgesellschaft, aber er war keineswegs ein [318] vertrockneter Büchermensch, sondern trat, als Liszt und Dingelstedt widerstreitend glänzten, als Hebbel an der Ilm erschien, dem Verein „Neuweimar“ bei und schloß mit P. Cornelius brüderliche Freundschaft. Die lauterste Güte und Zuverlässigkeit mußte ihm jedes Herz gewinnen, und sein reiner Drang, all den Fragern nah und fern aus den Schätzen seines ungemein vielseitigen, gründlichen, präsenten Wissens mitzutheilen, fand mit geringen leicht verwundenen Ausnahmen weithin die dankbarste Erwiderung. Einen solchen Helfer hat es kaum je gegeben wie unsern „Doctor Allwissend“, der so leise zu bessern wußte und seine Ergänzungen beinah entschuldigend darbot. Gewissenlose Arbeiter, unsaubere Menschen hielt er sich schweigsam vom Leibe. Mitten in der täglichen Pflichterfüllung, am 11. October 1890, hatte er das Unglück niederzustürzen und einen Oberschenkel zu brechen. Von langem Siechthum erlöste ihn am 15. August 1892 ein sanfter Tod.

K. war ein außerordentlicher Gelehrter, aber weder ein Schriftsteller noch ein Mann neuer Gesichtspunkte, Combinationen und Hypothesen. In der classischen Philologie sicher geschult, nahm er besonnen seinen weiten Weg durch die Sprachen und Litteraturen, sammelnd, sichtend, erläuternd. Das ganze deutsche Gebiet war ihm geläufig. Eine Fülle einzelner Beiträge vom Mittelalter zu Hans Sachs, dessen Prosadialoge er herausgab, von den englischen Komödianten zu den Classikern und ins 19. Jahrhundert hinein liegt vor uns. 1862 wurde durch seine conservative Sorgfalt und Stilbeobachtung der echte Text Heinrich v. Kleist’s von aller Willkür Tieck’s und Schmidt’s befreit. Er schien zur Mitarbeit am Grimm’schen Wörterbuch berufen. Er hat zahlreiche Bausteine zur englischen und zur romanischen Litteraturgeschichte herbeigetragen, Shakespeare und Dante, besonders in ihrem deutschen Nachleben, Chaucer, Boccaccio und alle folgenden Novellisten genau gekannt. Auf dem Gebiete der sogenannten Volksbücher ist u. a. sein großer Artikel „Griseldis“ musterhaft. Stoffe, Motive, Formeln sind von ihm über die ganze Erde verfolgt worden. In der Detailkenntniß der prosaischen und der gebundenen Kleinepik stand er unübertroffen da, gab jedoch nur einmal einen abgerundeten Aufsatz heraus, „Ueber die europäischen Volksmärchen“ 1865, mit allgemeinen Fingerzeigen und besonderer Musterung eines gewanderten und gewandelten Märchens, sondern beschränkte sich darauf, in Uebersichten zu fremden Büchern oder in einer Menge eigener Sammelabhandlungen, Recensionen, Miscellen den Vorrath nach allen Seiten zu entfalten. Die zahllosen Gaben strotzen von Belehrung.

Diese Fülle zu vereinigen, war das edle Streben der nun auch dahingegangenen Schwestern Elise und Mathilde, die sich nicht begnügten, die Bücher und Collectaneen ihres geliebten Reinhold der großherzogl. Bibliothek zu überantworten, sondern auch dem sehr spärlichen Vermögen die Mittel zur Herausgabe seiner Schriften abrangen. Sie fanden in Johannes Bolte einen ebenso opferbereiten Helfer, der diese Pflicht der Pietät mit größter Arbeitskraft und einer der Köhler’schen ebenbürtigen Gelehrsamkeit rasch erfüllt hat.

„Aufsätze über Märchen und Volkslieder von R. K. … herausgegeben von J. Bolte und E. Schmidt“. Berlin 1894; „Kleinere Schriften von R. K. … herausgegeben von J. Bolte“. Drei Bände. Weimar und Berlin 1898 bis 1900. I. Zur Märchenforschung. II. Zur erzählenden Dichtung des Mittelalters. III. Zur neueren Litteraturgeschichte, Volkskunde und Wortforschung.