ADB:Burckhardt, Jacob (Kulturhistoriker)

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Artikel „Burckhardt, Jakob“ von Carl Neumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 381–391, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Burckhardt,_Jacob_(Kulturhistoriker)&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 17:51 Uhr UTC)
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Band 47 (1903), S. 381–391 (Quelle).
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Burckhardt: Jakob B., geboren in Basel am 25. Mai 1818, † ebenda am 8. August 1897, nimmt unter den großen Geistern des 19. Jahrhunderts in Deutschland insofern einen abgesonderten Platz ein, als er fast unberührt von dem jähen Wechsel des Zeitgeistes, den man als Abfall von Goethe und die Hinwendung zu politischer und wirthschaftlicher Bethätigung bezeichnen kann, die Tradition des deutschen Humanismus fortsetzte und solchergestalt wie eine Brücke zwischen dem achtzehnten Jahrhundert und möglichen Umformungen der Zukunft erscheint. Zog ihn in der Zeit der Herrschaft Hegel’s [382] und Schelling’s seine Abneigung gegen systematisches Philosophiren und die angeborene Kraft intuitiver Anschauung zu dem „großen Dilettanten“ Goethe, so trieb ihn ein starkes sittliches Gefühl zu Schiller. Als Berliner Student schrieb er am 21. März 1842: „morgen sind es zehn Jahre, seit Goethe gestorben ist, da geh’ ich zu Bettina“. Als Professor hat er in Basel 1859 die Festrede zu Schiller’s hundertster Geburtstagsfeier gehalten, und mag also zu den im neunzehnten Jahrhundert immer seltener gewordenen Naturen gezählt werden, für die die Freundschaft Schiller’s und Goethe’s eines der größten Erlebnisse deutscher Geschichte geblieben und ein Stück eigenen inneren Lebens geworden ist. Wie B. vor unserer Erinnerung steht, ist er indessen selbst erst ungefähr mit seinem dreißigsten Lebensjahr geworden, und seine Jugend zeigt Züge, die bis zur Unkenntlichkeit in dem später angelebten Charakter vermischt und fast durch Gegensätzliches ersetzt worden sind.

Auf den Wunsch seines Vaters, der Geistlicher war, begann er mit dem Studium der Theologie, wandte sich aber bald historischen und philologischen Vorlesungen zu, da er denn schon früh in der Geschichtschreibung seine eigentliche Begabung zu erkennen meinte. Nach fünf Baseler Semestern ging er für drei Jahre nach Berlin, um schließlich mit fertig mitgebrachten Arbeiten in Basel den Doctorhut zu erwerben (25jährig, Mai 1843). Die wissenschaftliche Grundlage gab ihm die Berliner Universität, wo er in Ranke’s Seminar arbeitete und die Lehre von Boeckh und Jac. Grimm genoß. Seinem Ingenium mochte indessen am meisten die Persönlichkeit Franz Kugler’s verwandt sein, bei dem die Pflege künstlerischer Gaben, der Poesie und Musik, die ernste Wissenschaft der Geschichte und Kunstgeschichte verklärte. Fand er in Kugler’s Haus Freunde wie Geibel und Heyse, so entdeckte er sein eigentliches Temperament erst in einem Sommersemester in Bonn, das die Berliner Studien unterbrach. In Bonn gewann er die Freundschaft Gottfried Kinkel’s, der damals Privatdocent der Theologie war, sich aber bald zu kunstgeschichtlichen Vorlesungen wandte. Um ihn und seine Braut Johanna schaarte sich ein Kreis dichterisch gestimmter Gemüther, die auch B. in den Bann rheinischer Sangeslust und jugendfrischen Humors zogen. Unvergessen und von B. selbst als „einer der besten Bissen in seinem Leben“ bezeichnet blieb ein Ausflug in die Eifel, wo in der Felseneinsamkeit unter nächtlichem Sternenhimmel bei Fackelschein: Was ist des Deutschen Vaterland? gesungen wurde. Ein Ausflug nach Belgien, der das Büchlein: „Die Kunstwerke der belgischen Städte“ (1842) hervorbrachte, beschloß den Bonner Sommer; aber auch nach Berlin zurückgekehrt, hielt B. leidenschaftlich an seinem Bonner Glück fest und betheiligte sich weiter an den poetischen Wettkämpfen der dortigen Freunde. Seine leichte Production von Gedichten, Dramen, Novellen, Operntexten überschätzte B. nicht; er wußte früh, daß diese Belletristik nicht sein Beruf sei; auch als er später in der Basler Zeit zwei Gedichtsammlungen veröffentlichte, die eine „Ferien“ (1849) hochdeutsch, die andere: „E Hämpfeli Lieder“ (1854) im alemannischen Dialekt, worunter sich sehr schöne und tiefempfundene Stücke finden, hat er die Bändchen nachher selbst aus dem Buchhandel zurückgekauft. Uebrigens lebte er in Berlin ohne Theilnahme für das Großstädtische; er ging gern ins Theater, vermied aber die salonmäßige Geselligkeit; er beklagte den „kalten Berliner Wind“, genau wie ihm später in Paris die Herzlosigkeit und der Lärm mißfiel oder in London die Hetze und der „grenzenlose Trubel“. „Man muß das“, sagte er später in seiner contemplativen Art, „allegorisch nehmen, wenn das Ewige in einem solchen Lärm von Zeitlichkeit und Augenblick zu stecken pflegt.“ In einem aber stärkte ihn Berlin und Bonn; er überwand Mißtrauen und Empfindlichkeit, die jedem Schweizer von den engen [383] Kantonen her angeboren sind, und fühlte sich als guter Deutscher. Trotz der großen Enttäuschungen der Regierungsanfänge Friedrich Wilhelm’s IV. und dem Nahen der Revolution, Momente, die B. sehr richtig beurtheilte, hielt er es für „ein Majestätsverbrechen, an Deutschland zu verzweifeln“. Germania war ihm in Bonn leibhaft erschienen: „ich erkenne die Mutterarme unseres großen gemeinsamen deutschen Vaterlandes, das ich anfangs verspottete und zurückstieß; auf mich hat Deutschland seine Güter ausgeschüttet und mich an sein warmes Mutterherz gezogen. Und daran will ich mein Leben setzen, den Schweizern zu zeigen, daß sie Deutsche sind … Was mich an Deutschland fesselt, ist die frohlockende Gewißheit, daß auch ich zu dem Stamm gehöre, in dessen Hände die Vorsehung die goldenste reichste Zukunft, das Geschick und die Cultur einer Welt gelegt hat.“ In Bonn trug B. das altdeutsche Barett, er sprach nur hochdeutsch und er konnte sich nichts anderes denken, als daß Deutschland im Mittelpunkt seiner Sehnsucht und „ein Kapitel aller schönen Erinnerungen“ bleiben werde. Die Schriftstellerei seiner Anfänge zeigt die nämlichen Züge. Sie beginnt mit Aufsätzen des Basler Studenten über schweizerische Kirchenbauten; dann folgt ähnliches über Kirchen am Rhein; die großen Eindrücke der Kölner Malerschule und der altflämischen Kunst haben den „Cicerone für Belgien“ ins Leben gerufen. Das Büchlein über Konrad von Hochstaden (1843) ist die Biographie des Gründers des Kölner Doms. Alle diese Stoffe sind nicht Burckhardtisch im späteren Sinn, sie entsprechen jener deutschpatriotischen Durchgangsphase, in deren Dienst B. seine Gaben stellen zu sollen meint, „um dem Volk (!) einen Zugang zu seiner Vorzeit zu eröffnen“. Der Form nach zeigen sie die strenge Methode der deutschen Schule, die exacten quellenmäßigen Belege, die Gewissenhaftigkeit des chronologischen Gerüstes; im „Hochstaden“ fehlt nicht die Discussion über die Entstehung der Kölner Stadtverfassung. Sein Specimen der deutschen Seminarreife war auch die Dissertation: „Quaestiones aliquot Caroli Martelli historiam illustrantes“. Ueberall stößt man auf den Preis germanischen Geistes, germanischer Kunst, deutscher Treue und Freundschaft. Als tapferen Rankeschüler finden wir B. nach seinem Doctorexamen in den Sommermonaten 1843 in Paris, wo er zwar 1–2 Stunden täglich im Louvre, und die Abende in den Theatern zubringt, die Hauptzeit aber in der Bibliothèque Royale sitzt, um aus diplomatischen Relationen Excerpte für die Schweizer Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und dann insbesondere für den Armagnakenkrieg zu sammeln; denn das vierhundertjährige Jubiläum der für Basel glorreichen Schlacht bei St. Jakob an der Birs stand vor der Thüre. Dieses Arbeiten aus handschriftlichem Material hatte B. schon in Berlin begonnen, und die letzten Spuren solcher Thätigkeit begegnen in dem 1850 erschienen „Andreas von Krain“, der zum Theil aus dem Basler Archiv geschöpften Lebensgeschichte eines Abenteurers aus dem 15. Jahrh., der im Dienst der römischen Curie Bankerott machte und dann aus Rache das Baseler Concil zu erneuern strebte, schließlich aber im Gefängnis des Baseler Spalenthors sich mit einem Strick erhängte. Der Art der Arbeit nach wie in der geschichtlichen Auffassung ist dieses kleine Buch der Abschluß von Burckhardt’s erster Periode. Wie in Paris vom grenzenlosen Hochmuth der Franzosen, so erklingt hier ein Ton von welscher Tücke und Falschheit, wozu der fromme ehrliche Deutsche den Contrast bildet. Die großen Pläne, mit denen sich B. trug, das Mittelalter neu darzustellen oder seiner Heimath eine Geschichte des alten Alemanniens zu widmen, sind nicht über Ansätze hinausgediehen. Es kam ganz anders. Seine Zukunft lag weder auf der Bahn der deutschen Geschichte noch in der Richtung von Schnaase’s Kunstgeschichte.

[384] Noch in Berlin war B. ganz kurze Zeit Hauslehrer beim Grafen Perponcher gewesen: es erwies sich aber als eine für ihn unmögliche Sache. 1844 habilitirte er sich in Basel und las sogleich vierstündig Geschichte und zweistündig Kunstgeschichte. Auch begannen alsbald Vorlesungen für die Oeffentlichkeit, theils einzelne Stunden, theils Cyklen, was sich dann fast ein halbes Jahrhundert lang so fortsetzte, und schon von Anfang an die Aufmerksamkeit und den Beifall der Basler Regierung soweit erweckte, daß B. bereits 1845 den Titel eines außerordentlichen Professors erhielt. Aber leben konnte er davon nicht, und so sehen wir ihn im nächsten Jahr die Stellung aufgeben und einer Aufforderung Franz Kugler’s nach Berlin folgen, der ihn, vielbeschäftigt wie er seit der Berufung ins Ministerium war, mit der Neuherausgabe seines „Handbuchs der Kunstgeschichte“ und der „Geschichte der Malerei“ betraute. Auf dem Titelblatt der neuen Auflagen steht denn auch der Name des Dr. Jakob Burckhardt mitgenannt; der Zwang, das Gesammtgebiet der Kunstgeschichte durchzuarbeiten war ein sehr wohlthätiger. Vielleicht, ja sicher hätte Kugler’s Freundschaft eine aussichtsreiche Berliner Anstellung ausgewirkt; aber es scheint, daß so wenig jetzt wie später (als man 1872 nach Ranke’s Abgang B. mit Waitz das Erbe dieser Professur anbot) Burckhardt’s Ehrgeiz nach dieser Richtung strebte; man brauchte ihm nur in Basel 1848 einen sehr bescheidenen Lehrauftrag, und nicht einmal an der Universität, sondern an den Oberclassen des Gymnasiums anzubieten, um ihn sofort zugreifen zu sehen; das unbesoldete Extraordinariat der Universität und öffentliche Vorträge nahm er dazu auf seine willigen Schultern. In Basel war er Italien näher. Schon den Sommer 1846 hatte er im Süden und in Rom zugebracht; von Berlin aus ging er für den Winter 1847/48 abermals nach Rom; er näherte sich seinem dreißigsten Lebensjahr; von den großen Stoffen, die er bezwungen hat, trat der erste, das absterbende Heidenthum und Constantin der Große in seinen Gesichtskreis. Wer will sagen, wie weit die gewaltige Predigt Roms von Menschengröße und menschlicher Vergänglichkeit, wie sie einst Gibbon und Byron vernommen, hier mitgewirkt hat? Es begannen die drei Lustren der Veröffentlichung von Burckhardt’s Meisterwerken, seine zweite Periode (1853–67). Was diesen großen Aufschwung in Burckhardt’s Dasein erzeugte, kann nur andeutungsweise mitgetheilt werden. Seine Freunde trauten ihm nicht zu, daß er die Sorgen einer Ehe auf sich nehmen wolle; aber doch faßte ihn in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre eine große Leidenschaft, von der die Gedichte ein schmerzensreiches Zeugniß ablegen. Er rang sich über die unerwiderte Neigung hinaus, und es kam so, wie eines der Dialektgedichte vorhersagt:

„Und solls nit sy und trag i’s ohne Ghül (Geheul)
So zwing i in der Welt no viel.“

Er hat noch viel gezwungen, und der verhaltene Affect gab seinen Kräften einen neuen Schwung. Seine Seele fand ihren Inhalt und ihre Tröstung in allem Großen der Geschichte, in allem Schönen der Kunst, und dieses ganz persönlich leidenschaftliche, sympathetische Verhältniß zu den Dingen brachte jene tieferregte und glühende Farbe hervor, die B. von da ab eigen wird. Er hat nicht mehr einen Beruf und daneben viele anderen Interessen: Reichthum der Geschichte und Schönheit der Kunst werden ihm ein inneres, ihn völlig ausfüllendes Erlebnis. Schreibt er selbst dem frühen Verlust der Mutter das erste Erwachen von Unsicherheit über das Glück des Lebens zu, so verstärkte sich jetzt diese Richtung bedenklicher Betrachtung und hielt der Jugendlust und Heiterkeit des Gemüths, die ihn von den Zeiten, da er „ein böser Bube“ war, nicht im Stiche gelassen, seinem kühnen Arbeitsmuth und [385] dem genialen Muthwillen ein fühlbares Gegengewicht. Mit seinem alten Freund Picchioni, dem er später die „Kultur der Renaissance“ gewidmet hat, hielt er eng zusammen: es war ein ehemaliger italienischer Carbonaro und Ingenieur, jetzt Extraordinarius an der Universität in Basel, „der von der Eitelkeit menschlicher Dinge ein langes Lied zu singen weiß, aber jung und muthwillig bei 60 Jahren“. Mit einem Gemisch von genialer Forscherkühnheit und herbem Ernst der Auffassung ging jetzt B. an seine großen Probleme. Er stand auf dem Boden des alten Goethe, der zu Eckermann gesagt hatte: nur Cultur und Barbarei seien ihm Gegenstände von Bedeutung. Das Zwischenstadium eines national befangenen Interesses hatte keinen Reiz mehr für ihn; die Höhenpunkte menschheitlicher Cultur hielten seinen Blick fest. Warum mußte die antike Welt vergehen? Diese Schiller’sche Frage und die andere, welcher Anstrengungen es bedurft hat, eine moderne Cultur zu erzeugen, sie wiesen seinem Studium die Wege und fanden ihre Lösung in zwei großen Büchern: „Die Zeit Constantins des Großen“ (1853); „Die Kultur der Renaissance“ (1860). Mit ihnen hat B. den Deutschen die größten Meisterwerke des culturgeschichtlichen Stils geschenkt. Merkwürdig, wie früh er seine Begabung für diesen Stil erkannt hat; schon 1842 äußert er brieflich: „Episches gelingt mir schwer; meine Figuren sind Staffage. Mit meiner geschichtlichen Forschung steht es ebenso: der Hintergrund ist mir die Hauptsache, und ihn bietet die Culturgeschichte, der ich auch hauptsächlich meine Kräfte widmen will“.

Schon im „Konrad von Hochstaden“ versteht er, aus den Wundergeschichten des Cäsarius von Heisterbach charakteristische Züge für das Leben der Zeit zu sammeln; die Art, wie Albertus Magnus eingeführt wird, deutet auf das was kommen sollte. Im „Andreas von Krain“ finden sich diese Ansätze gesteigert wieder; schon zeigt sich im Stil der unbefangene Goethe’sche, leicht ironische Ton. Aber Niemand wußte damals, wie Burckhardt’s vielseitige Begabung ihren Schwerpunkt finden würde, und noch 1850 charakterisirte ihn Kinkel als einen Virtuosen des Genusses, der die ganze moderne Culturwelt zu seiner Bereicherung ausbeute. „Er weiß alles; er weiß, wo am Comersee die süßesten Trauben reifen und sagt Ihnen zugleich aus dem Kopf, welches die Hauptquellen für das Leben des Nostradamus sind. Er schreibt eine lateinische Abhandlung über Kriegszüge des Karl Martell in der Eifel, von denen bisher keine sterbliche Seele etwas wußte; dann setzt er sich aufs Sopha, raucht ein Dutzend feine Manillacigarren und schreibt, gleich ins Reine, eine poetisch-phantastische Erzählung der Liebschaft eines Kölner Kurfürsten mit der Tochter eines Alchymisten.“ Jetzt dagegen, da die Reihe seiner großen culturgeschichtlichen Arbeiten begann, eine ungeheure Concentration, eine künstlerische Gliederung voll straffer Logik, eine geregelte Fülle des Wissens, eine gleichmäßig empfundene Darstellungsart, die jede schulmäßige Gewohnheit und Schaustellung abgestoßen hat. Alle Bücher Burckhardt’s sind von da ab Essais, obwohl er nur die Cultur der Renaissance ausdrücklich einen „Versuch“ genannt hat; d. h., sie erstreben nach keiner Seite irgendwelche Vollständigkeit; sie isoliren nach bestimmten Gesichtspunkten ihr Thema und rücken es in die Auffassung der vom Autor gewollten Beleuchtung. Ueber allen waltet die dem schaffenden Künstler eigene Subjectivität. Der „Constantin“ ist keine Geschichte des Kampfes zwischen Heidenthum und Christenthum, und die „Kultur der Renaissance“ keine Geschichte Italiens vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Das erste Buch schildert lediglich die Zersetzung des Heidenthums und das von Constantin anerkannte Christenthum erscheint am Schluß als deus ex machina, um die wirren Conflicte zu lösen; das Werden des [386] Christenthums parallel zu schildern, lag für B. außerhalb seiner Aufgabe. Ebensowenig ist im zweiten Buch auf die Fortwirkung mittelalterlicher Kräfte Bedacht genommen; nur die neue Cultur ist in helles Licht gerückt. Immer sind es die B. am Herzen liegenden Probleme, die herausgearbeitet werden; gegenüber der historischen Wirklichkeit zeigen sie nur eine Hauptseite der Dinge, wie auch ein plastisches Kunstwerk nur auf eine Ansicht berechnet zu sein pflegt. Die Fülle der historischen Anschauung hat an sich etwas Befriedigendes und Fesselndes; aber auch die Theorie, der Grundgedanke macht sich geltend, obwol ihn der Verfasser eher verschleiert als enthüllt. Im „Constantin“ ist es die Ansicht, daß nicht Barbarenthum und nicht Christenthum die alte Welt getödtet hätten: aus sich selbst sei sie an Verkümmerung und Umbildung der alten Lebensinstincte gestorben. Constantin ist nicht der Mann der Vorsehung mit dem Heiligenschein, sondern der kühle Rechner und politische Arzt, der Leben erhielt und rettete, wo noch Lebendiges vorhanden war. In der „Renaissance“ werden die Italiener als das erste moderne Volk proclamirt, die das Mittelalter und seine mannichfache Bindung abgestreift und dem Individualismus der Neuzeit Raum gegeben haben. Diesem Individualismus verdankt die moderne Cultur das kostbare Gut der Freiheit, und die Begleiterscheinung sittlicher Anarchie constatirt B., indem er ihr furchtlos ins Auge sieht. An diesem Punkt trennte er trotz aller Mahnungen der Zeitgeschichte seine Wege von denen Schnaase’s, den die Renaissance abstieß. Ueber diesen Punkt und verwandte Probleme wird die Zukunft entscheiden. Rein stilistisch betrachtet, ist die „Kultur der Renaissance“ weitaus reifer als der „Constantin“. Wo der Hintergrund, das culturgeschichtlich Zuständliche, die Hauptsache ist, verträgt der Vordergrund nur Staffagefiguren; im „Constantin“ aber ist erstens der Maßstab dieser Figuren zu groß, und er wächst zweitens durch den Umstand, daß sie in Handlung gesetzt werden, sodaß der erzählende Stil mit dem reflectirend beschreibenden sich kreuzt, ohne ein harmonisches Gleichgewicht hervorzubringen. In der „Kultur der Renaissance“ sind diese Schwierigkeiten mit vollkommener Künstlerschaft bemeistert; alles ist in wohlbedachter Proportion, und das Zusammenspiel des Allgemeingesetzlichen mit dem Persönlichen ist unübertrefflich. Die stilistische Sicherheit und Höhe, die B. erreicht hat, mag auf starken Anlagen und unablässiger Selbsterziehung beruhen; indessen zog sie fortdauernden Gewinn aus seiner Beschäftigung mit Kunstwerken, in deren Seele er viel tiefer eindrang, als die meisten „Kunsthistoriker“, die sich berufsmäßig mit Kunst abgeben, aber, wenn sie die Feder in die Hand nehmen, schreiben wie Banausen. In immer steigendem Maaße wandte B. seine Zeit und sein Interesse der Welt des Schönen zu. Hatte er diese Studien anfänglich „principlos und bequem“ getrieben, auch sich vorwiegend mit der Architektur beschäftigt (wie die meisten, die von der Historie herkommen, da die Architektur die repräsentativere und wenigst willkürliche unter den bildenden Künsten ist), so zog sein Kunstbedürfniß nun immer weitere Kreise. Denn die Kunst nahm nicht in seinem Wissen, sondern in seinem Herzen und im Athem seines Lebens eine entscheidende Stelle ein. Seine Reisen wurden Wallfahrten, und als sein „Cicerone, eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens“ 1855 erschien, nannte er ihn selbst das „Stationenbuch“, gleichsam das Buch der Etappen auf dem Weg zum Heil der schönheitsdurstigen Seele. Ein wahres Glücksgefühl und die reinste Stimmung spricht aus jeder Seite dieses Buches: es war noch das altmodische Italien, das B. sah, das päpstliche Rom und das bourbonische Neapel mit der Musik von Rossini und Donizetti; noch war das Kloster von S. Maria degli Angeli in Lugano nicht in ein Hotel du Parc verwandelt, und der Vetturin [387] pflegte noch an einer Biegung der Via Cassia den Peitschenstil umzudrehen umd mit dem Griff auf die am Horizont aufsteigende Peterskuppel zu deuten. Die stimmungslose Eisenbahn hat B. zeitlebens kräftig gehaßt. Was seinen Kunststudien das unterscheidende Merkmal gab, war, daß er sie weniger als Mann der kühlen Wissenschaft, denn als Kunstfreund und leidenschaftlicher Liebhaber betrieb. Wissenschaftliche Gerechtigkeit lag seiner lebhaften Empfindung fern; es war zu viel echtes Gefühl in ihm, als daß er alles und jedes gleich „reizvoll und interessant“ hätte finden mögen. Da aber seine Natur dabei ehrlich und selbstlos war, so hat er mehr als einmal früher ausgesprochene Urtheile nach wiederholtem Sehen widerrufen. Sein Haupterfolg war, daß er der Kunst der italienischen Renaissance Bahn brach, auch in diesem Punkt den Spuren Goethe’s folgend; er liebte in Goethe’schem Sinn das Harmonische und Reife, nicht wie wir heute das Problematische, Halbreife oder gar Archaische. Und so waren die antike Plastik des vierten Jahrhunderts, unter den Neueren Giotto, Raphael seine Lieblinge; dagegen entsprachen Donatello, Michel Angelo, Bernini weniger seiner Neigung, obwol er die Gabe hatte, überall Schönheitswerthe herauszufühlen. Wie er in kurzer Zeit ganz Italien (mit wenigen Auslassungen) in sich aufgenommen hat, wie eine Biene den süßen Honig der Kunst schlürfend, die großen Städte und die abgelegenen besuchend, von den großen Kirchen und Palästen bis zum unscheinbaren Geräth alles mit seinem Blick umfassend, wird immer Bewunderung und Staunen erregen. Mit der Fähigkeit, jedes einzelne im Augenblick und so ausschließlich zu genießen, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, verbindet sich in B. eine Kraft des Abstrahirens und Generalisirens, das Gesetzliche und Typische in den Dingen zu sehen, die seine Gesammtcharakteristiken zu den größten Leistungen der Stilanalyse erhebt. Weniger die Künstlergeschichte als die Kunst- d. h. Stilgeschichte zog ihn an, und so gedachte er auf die lose geographisch-statistisch-chronologische Anordnung seines „Cicerone“ eine systematische Darstellung der Einzelkünste der Renaissance folgen zu lassen. Davon ist nur der erste Theil, die Architektur („Geschichte der Renaissance in Italien“, 1867) erschienen. In diesem Buche tritt die ungeheuere Belesenheit und die Fülle dessen, was er gesehen und wahrhaft in sich aufgenommen hat, schlagend an den Tag; man sieht hier in die gewaltigen Substructionen hinein, aus denen sein Urtheil anscheinend leicht und mühelos emporwächst, um dann für Laien und Künstler seiner Zeit maßgebend zu werden. Vielleicht ist diese Architekturgeschichte das größte Beispiel seiner durch die Sym- und Antipathien einer starken Natur ungetrübten Unbefangenheit, da er aus Deutschland doch noch einen Rest gothischer Stilgerechtigkeit mitgebracht hatte und sich nun vor der Aufgabe sah, einen „unorganischen“ Stil freier Schönheit zu würdigen. Mit diesem Werk schloß zunächst die litterarische Thätigkeit Burckhardt’s ab. In dieser mittleren Periode seines Lebens hatte er die Stellung gefunden, die ihm zusagte, und die Umrisse seines geistigen Wesens hatten ihre bleibende Ausprägung erlangt.

Was ihn 1848 nach Basel zurückgezogen hatte, die schwachdotirte Lehrstelle am Gymnasium, wurde ihm nach einigen Jahren durch eine Schulreform entzogen. Diese Kränkung hat B. wol, als er später völlig rehabilitirt wurde, verziehen; vergessen aber hat er sie nie. Er begnügte sich zunächst mit einem Provisorium, indem die Erkrankung eines Professors seine Verwendung an Schule und Universität möglich machte; als aber zum „Constantin“ auch der „Cicerone“ erschienen war, und eine Berufung an das Polytechnikum nach Zürich kam, nahm er im Herbst 1855 an und blieb durch fünf Semester Professor der Kunstgeschichte in Zürich. Im April 1858 kam er als Ordinarius [388] für Geschichte in seine Vaterstadt zurück, der er von da ab, allen Versuchungen und weiteren Berufungen trotzend, treu geblieben ist. Die Kunstgeschichte verwaltete er im Nebenfach, behielt sie aber, als er 1886 die Geschichtsprofessur niederlegte und auf die Hälfte seines Gehaltes verzichtete, weiter, bis ihn zunehmende Altersbeschwerden 1893 veranlaßten, sich gänzlich zurückzuziehen. In den letzten dreißig Jahren seines Lebens (1867–97) hat B. nichts mehr veröffentlicht. Wol begann er 1880, seine „Griechische Kulturgeschichte“ zu schreiben, wol sind dann in den letzten Lebensjahren unvergleichliche Manuscripte entstanden; aber, mochten sie nach seinem Tod gedruckt werden: ihm lag nichts mehr an litterarischem Erfolg, wie er allmählich auch von seinen älteren Büchern, wenn neue Auflagen nöthig wurden, eins nach dem andern aus der Hand gab und fremder „Verbesserung“ überließ. Dafür widmete er sich den Vorlesungen und hat, bei dem immerhin begrenzten Besuch der Baseler Universität, auf die Studenten und auf die Hörer seiner jährlich wiederkehrenden öffentlichen Vorträge eine starke Wirkung ausgeübt. Er sprach, neben dem Katheder stehend, völlig frei und ohne Pathos; seine geradezu ungeheure Präsenz des Wissens und die künstlerische Anschauung, die den Stoff gliederte und gruppirte, versetzten den Hörer in eine fast illusionäre Gegenwart der geschilderten Dinge; alles war so unmittelbar und aus erster Hand geschöpft, als wäre B. selbst dabei gewesen; sprach er von Kunst, so theilte sich die tieferregende und ergreifende Macht des Schönen, die den Meister durchdrang, wie ein geheimnißreiches Fluidum dem Hörer mit. Hier genoß man den ganzen B., d. h. soweit es ihm gut schien, sich mitzutheilen, mit den „seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift“ (mit Nietzsche zu reden). Denn eine stärkere Distanz, als sie naturgemäß den Docenten von den Hörern trennt, hielt ihn von den Menschen fern. Von der Freundschaftsseligkeit seiner Jugend war er, zweifellos durch mancherlei Erfahrung über Biegen und Brechen von Freundschaften belehrt, längst zurückgekommen; er ließ Niemanden mehr dichter an sich herankommen, und hauste als einsamer Junggesell in seinen höchst bescheidenen Räumen. Eine steile Holztreppe führte in dem Bäckerhaus der Albansvorstadt, wo er wohnte, zu seinen Zimmern, die jeglicher Art von Atelierputz entbehrten und mit dem weißbestreuten Dielenboden einfach genug aussahen. Ihr Bewohner glich den bedürfnißlosen Mönchen der christlichen Frühzeit, die die große Einsicht gewonnen haben, daß allein die vollste äußere Unabhängigkeit wahre Freiheit und den steten Genuß der höchsten Dinge des Geistes sichern. In diesem Seelenzustand verschlingt sich der Egoismus absoluter Ungestörtheit und Selbstbestimmung mit einer vollendeten Uneigennützigkeit gegenüber äußern, in die Welt verstrickenden Gütern. Einen Verkehr mit Ebenbürtigen hat B. wenig gepflegt, und es schien, als handle er nach der Vorschrift des Balthasar Grazian: „Man soll mit hervorragenden Personen verkehren, um wie sie zu werden. Ist man aber selbst hervorragend, so muß man sich zu mittelmäßigen halten“. Gleichwol hat er in dem Grad, der ihm wünschbar schien, mit einigen Personen in Basel Beziehungen unterhalten, worunter Niemand merkwürdiger war als Friedrich Nietzsche, der 1869 für das Fach der classischen Philologie nach Basel berufen wurde und zehn Jahre blieb. Hier schienen mannichfache Berührungsflächen gegeben: ein sich isolirender Aristokratismus, das hohe Maß geistiger Unbefangenheit und Unabhängigkeit, das gern dem Consensus populorum Trotz bot, die seit den äußeren Erfolgen Deutschlands im französischen Krieg bei B. und Nietzsche zunehmende Ernüchterung gegenüber deutschem Wesen, wofür man sich wohl auf verstimmte Aeußerungen Schopenhauer’s, ja Goethe’s berufen konnte, und eine wachsende Neigung zur romanischen [389] Cultur, der B. lange schon aufs tiefste verpflichtet zu sein bekannte. Nietzsche überschätzte indessen diese Gemeinschaft. „Ich kenne Niemanden“, schrieb er noch 1886 an B., „der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte, wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, – daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laborieren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind“. Der starke Eindruck Burckhardt’s auf Nietzsche ist unverkennbar; was Nietzsche übersah, war der positive Bestand christlichen Empfindens, der B. „diesseits von Gut und Bös“ festhielt; es war kein bloßer Temperaments- oder Altersunterschied, und Nietzsche war im Irrthum, zu glauben, B. stehe wesentlich mit ihm auf gleichem Boden; nur sei er eben vorsichtiger. B. empfand bei aller Bewunderung vor Nietzsche’s Geist ein inneres Grauen vor dem Mann, und es erregte ihm Schwindel, ihn „auf den höchsten Graten“ sich bewegen zu sehen. Im ganzen ist es schwer und vielleicht unlösbar, die verschiedenen Dosen von wahrer Bescheidenheit, Wille zu materieller und geistiger Ungestörtheit, einiger Unsicherheit und Muthlosigkeit lebenden Menschen gegenüber, wie sie in B. zusammentrafen, zu sondern. Es blieb in Basel, wie es in Zürich gewesen war, wo B. sich zwar zu Gottfried Keller hingezogen fühlte, sich aber mit Semper und Richard Wagner nicht berührte.

Unter diesen Umständen war die Spannung begreiflicherweise groß, mit der man der Veröffentlichung der nachgelassenen Schriften entgegensah. Gelesen hatte B. in seinen historischen Vorträgen griechische, mittelalterliche Cultur und Neuzeit bis zur französischen Revolution einschließlich; in den kunstgeschichtlichen Stunden das ganze Gebiet vom Alterthum bis zum 18. Jahrhundert. Nach seinem Tod sind zwei kunstgeschichtliche Bücher: „Erinnerungen aus Rubens“ und „Beiträge zur Kunstgeschichte Italiens“ an den Tag gekommen; dazu das vierbändige Werk: „Griechische Kulturgeschichte“. Der „Rubens“ in seiner Kürze und geschlossenen Form wird immer eines der anziehendsten Bücher der kunstgeschichtlichen Litteratur bleiben; für B. ist es das einzige Beispiel, wie er die Künstlermonographie behandelt zu sehen wünschte. Daß Rubens, der Zeitgenosse des Bernini, von dem Verehrer Raphael’s durch ein ganzes langes Leben hindurch glühende Bewunderung gewann, zeigt, wie naiv ehrlich und wie frei von ästhetischer und doctrinärer Voreingenommenheit B. in seiner Kunstempfindung war. In Rubens liebte er die Kraft, die doch auch ein geistiges Agens ist; daß der mächtige Nordländer, der Vlame sich so ganz der Renaissance zu eigen gegeben, schien ihm wie die Faust- und Helena-Ehe ein Bund tiefbewegender Urgewalt mit Form- und Schönheitsdrang; es war ein Stück seines eigenen Glaubens und Wünschens. Das Feuer der Empfindung, das B. als ein hoher Siebziger über dieses Buch zu breiten vermochte, grenzt an ein Wunder. Nur die tiefsten Lebensinstincte vermögen so der Zeit Stand zu halten. Das umfangreichere zweite Werk, die „Beiträge“, enthält drei Arbeiten zur Malerei der italienischen Renaissance: das Altarbild, das Porträt, die Sammler. Als gemeinsames Thema dieser reichen Abhandlungen wäre zu bezeichnen: der Einfluß des Publicums auf die Gestaltung der Kunst, einmal an der durch Jahrhunderte festgehaltenen, gleichwol sich abwandelnden Aufgabe des Gnadenbildes für den Kirchenaltar, sodann an dem vom werdenden Individualismus geforderten Genre der Porträtdarstellung, schließlich an dem Verlangen nach Schmuck des eigenen Hauses durch Andachtsbilder und durch profane Malerei. Das merkwürdigste an dem Buch ist der Fortschritt der Auffassung. Während meist Lieblingsansichten sich bei zunehmendem Alter schärfer dogmatisiren, hat sich B. eine wahrhaft jugendliche und elastische Bildsamkeit bewahrt. Die Beeinflussung durch Vasari’s Eingeschworensein auf [390] die florentinisch-römische Künst, welche den „Cicerone“ beherrscht, weicht hier einem immer freieren Verständniß der norditalienischen Kunst, und insbesondere der venezianischen Malerei und ihrer kühnen Selbständigkeit ist B. jetzt erst in vollem Umfang gerecht geworden. Nicht mit so kurzen Worten läßt sich das hinterlassene Hauptwerk, die „Griechische Kulturgeschichte“, charakterisiren. Verschiedenes, was in Burckhardt’s gesammter Lebensarbeit bald stärker, bald verdeckter zu spüren ist, traf hier zusammen, um diesen Bänden eine eigenartige Färbung zu geben und jene Debatten zu veranlassen, von denen das Erscheinen des Werkes begleitet war. Stark polemische Züge trug schon der „Constantin“ zur Schau. Ein angeborener Realismus, der in B. lebte, eine geniale Nüchternheit, die corrigirend neben seiner Fähigkeit zum Enthusiasmus herging, machte ihn zum Feind jeder Phrase. Künstlerische Eindrücke hat selten Jemand so frei von Phrase und doch so herrlich und treffend in Worte zu kleiden vermocht wie B. Aber auf dem ganzen geistigen Gebiet fand er im Aufstöbern und Zerstören übereinkömmlicher Phrasen eine Art von Lust, und sein unbestechlich unbefangener Sinn neigte dahin, die Dinge auch einmal von der anderen als der gewöhnlichen Seite zu betrachten. So ist es zu verstehen, wenn er in der Behandlung der Reformationsgeschichte auch katholischen Historikern gern Gehör gab. Dazu kommt ein zweites. Wer vorwiegend in künstlerischen Dingen lebt, läßt gern jeden anderen Maßstab als den ästhetischen bei Seite. Burckhardt’s Darstellung der Renaissance wäre ohne diese Fähigkeit, Erscheinungen der Kunst und Geschichte lediglich als Phänomene zu sehen, kaum möglich und erträglich. Im „Cicerone“ ist eine Stelle, wo sich B. über Dante’s moralischen Hochmuth und sein selbstgerechtes Aburtheilen beklagt. Seltsam indessen, wie bei B. selbst ein moralisirender Zug ununterdrückbar geblieben ist, ein ethisches Grundgefühl, wie es manchen Schweizer Schriftstellern von Jeremias Gotthelf an gern eignet, und das man bei B. wol als ein Stück hochgehaltenen Schiller’schen Vermächtnisses betrachten mag. Diese Betrachtungen auf die Antike angewendet, wird alsbald klar, daß die tiefe Begeisterung für griechische Kunst und Poesie B. nicht verführen konnte, der verklärenden Auffassung unseres Classicismus beizutreten. Er war zu sehr ruhiger und kühler Historiker, um nicht von den Hymnen auf das perikleische Griechenland zum Widerspruch gereizt zu werden, und auch soweit ehrlich christlich empfindend, um die dunkeln Seiten des Heidenthums, seine Wildheit und Lieblosigkeit schmerzlich zu gewahren. Daher wol noch nie von einem Meister des Fachs der Culturgeschichte ein Bild der Griechenwelt entworfen worden ist, in dem neben der Fülle des Lichts die Schatten einen derart lebhaften Gegensatz bilden, wo die politischen, religiösen und ethischen Zustände so ohne Schönfärberei, so drastisch und kraß realistisch geschildert worden sind. Wie dennoch die verschiedenen Erscheinungsweisen und Theile dieser Culturwelt zu einem Ganzen zusammengedacht sind, ist ein Meisterstück tiefdringender psychologischer Analyse, welche in allen Hauptwerken Burckhardt’s einen so sprechenden Zug seiner Begabung bildet. Es läßt sich zur Zeit noch nicht absehen, wie tief der Eindruck dieses bedeutenden Werkes reichen wird, dem der volle Zauber stilistischer Kunst mit auf den Weg gegeben worden ist. Dankbar haben wir es zu verehren, daß es B. vergönnt war, sein Credo in vollem Umfang der Nachwelt zu übermachen. Und ihn selbst muß eine ähnliche Empfindung überkommen haben, da er nach einer in Basel häufig geübten und guten Sitte sich selbst den Nekrolog schrieb, der als Grabrede bei der Bestattung verlesen wurde. Gegenüber dem erbitterten Pessimismus, wie er ihn als Hefe im Becher des Genusses der leidenschaftlich begehrenden Griechen entdeckte, wie er ihn in der Stimmung seiner Zeitgenossen verschärft wiederfand, ist diesen letzten Aufzeichnungen Burckhardt’s ein temperirter Optimismus eigen.

[391] Zur Erinnerung an Herrn Professor Dr. Jakob Burckhardt (ohne Ort und Jahreszahl), S. 4–13 der selbstverfaßte Nekrolog; dieser Nekrolog wiederabgedruckt in der 2. Auflage des Rubensbuches. – Briefe aus Berlin und Paris an Gottfried Kinkel und Johanna Kinkel, veröff. von Meyer-Krämer, Deutsche Revue 1899, Bd. 24, 1, S. 70 ff., 286 ff. – Briefwechsel mit Fr. Nietzsche, Neue Deutsche Rundschau, Febr. 1899; dazu der 2. Band der Nietzschebiographie von Elisabeth Förster-Nietzsche an mehreren Stellen. – Briefe J. B.’s an Albert Brenner, veröff. von Hans Brenner, Basler Jahrbuch 1901, S. 1–24. – Hans Trog, J. B., eine biographische Skizze, Basel 1898 (= Basler Jahrbuch 1898, S. 1–172); in dieser Schrift besonders wichtig die Besprechung auch aller kleinen Schriften und der Katalog der von B. in Basel außerhalb der Universität gehaltenen Vorträge. Ein ähnlicher Nekrolog von H. Trog in Bettelheim’s Biographischem Jahrbuch II (1898), 54–75. – Feuille centrale der Zofinger Gesellschaft, Dec. 1897, S. 112–124 (von Felix Stähelin). – Otto Markwart, J. B., Feuilleton d. Frankf. Zeitung 1897, Nr. 238, 244, 245, jeweils im 1. Morgenbl. – Eb. Gothein, Preuß. Jahrbücher, Bd. 90 (1897), 1–33. – H. Gelzer, J. B. als Mensch u. Lehrer, Zeitschr. f. Kulturgesch., 1900, VII, 1–51. – Carl Neumann, Deutsche Rundschau, Bd. 94 (1898), 374–400; Derselbe über das Rubensbuch, Preuß. Jahrbücher, Bd. 91 (1898), 323–330; Derselbe, Griechische Kulturgeschichte in der Auffassung J. B.’s, (Sybels) Histor. Zeitschr., N. F. Bd. 49 (1900), S. 385–452.