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Artikel „Bitzius, Albert (Jeremias Gotthelf)“ von Johann Kaspar Mörikofer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 685–686, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gotthelf,_Jeremias&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 03:26 Uhr UTC)
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Bitzius: Albert (Jeremias Gotthelf) B. geb. 4. Oct. 1797, † 22. Oct. 1854, entstammte einem alten, guten Bürgergeschlechte der Stadt Bern, Sohn eines Landpfarrers und selbst Pfarrer der beträchtlichen Gemeinde Lützelflüh im Emmenthal. Er war in seiner ruhigen, kernvollen, entschlossenen Art ein ganzer Berner, von Jugend an mit dem Volke seines Landes vertraut und demselben mit voller Seele zugethan. Er hatte keinen andern Ehrgeiz, als ein guter, theilnehmender Pfarrer zu sein. Da jedoch ein Fehler des Sprachorganes ihn hinderte, ein so ausgezeichneter Prediger zu sein, wie die Eigenschaften des Geistes und Gemüthes ihn dazu befähigt hatten, so bemühte er sich um so mehr, die Aufgabe des Seelsorgers im weitesten Sinne zu erfüllen. Der Umgang mit dem Volk war ihm Herzensfreude, daher gewann er dessen innigstes Vertrauen, so daß er den Leuten die Zunge löste und sie ihn in die geheimsten Falten des Herzens blicken ließen. Diese treue Liebe, verbunden mit tiefer Menschenkenntnis und glücklichem Humor in Erfassung des Individuums machten B. besonders geeignet zur Ergründung und Hervorhebung der Schäden und Gebrechen im Volk. So gab ihm, fast 40 Jahre alt, das Erbarmen über die Nothstände im Volksleben die Feder in die Hand, wobei er sich sogleich als geistvoller Dichter erwies, indem er das allgemeine Elend der an den Mindestverlangenden dahingegebenen armen Kinder in dem Lebensgang des „Jeremias Gotthelf“ vereinigte, und damit dem Bernervolk einen „Bauernspiegel“ vorhielt, der die Gemüther mit Scham und Mitleid erfüllte. Was er in nächster Nähe als Vorsteher der benachbarten Armenschule praktisch bethätigte, dem gab er dann in der „Armennoth“ für ein größeres Publicum Ausdruck. Dem ersten glücklichen Aufruf für die Armen folgte bald in den „Leiden und Freuden eines Schulmeisters“ die Mahnung zur Förderung der damals noch verwahrlosten Schule; dann noch der „Wassernoth im Emmenthal“ das dunkle Gemälde der „Branntweinsäufer“. Nirgend verbirgt sich der lehrhafte Pfarrer, aber ganz einzig war die ebenso liebevolle als phantasiereiche Ausmalung der Charaktere, die bald derben, bald zarten Pinselzüge, der unerschöpfliche Humor, womit jede äußere Bewegung, jeder kleine Vorgang gezeichnt wird. Ohne Verwicklung gehen die einfachsten Scenen dahin, aber Schritt für Schritt gewinnt Alles Leben und bemächtigt sich der Gemüther. So schlicht, so wahr, so reich, zugleich aber in naivster Derbheit, hatte noch kein Anderer das Volksleben beschrieben. Nachdem der Verf. bisher vorzüglich die Schattenseiten desselben hervorgehoben, drängte es ihn nun, den Berner Bauer in seiner charakteristischen Eigenthümlichkeit zu schildern. Aber der Schriftsteller verbarg seinen bereits berühmt gewordenen Namen hinter demjenigen des armen Volkskindes „Jeremias Gotthelf“. Er will sich nicht einem durch die Regeln der Aesthetik verwöhnten Salon-Publicum anbequemen, sondern er läßt in übermüthiger Keckheit den Schweizerbauer in seiner ganzen Derbheit und Ungeschlachtheit hervortreten, aber er weiß, solche Naturwahrheit, solch psychologischer Tiefblick, solche lebensvolle Anschaulichkeit gewinnt und besticht. Eine völlig neue Erscheinung ist der stolze, arbeitsfreudige in Glauben und Sitten altväterische, in seiner Ehrenhaftigkeit unerschütterliche [686] Bauer, wie er solchen in den verschiedenen Gestalten seiner Berner Bauern gezeichnet hat. Es sind keine Porträts, sondern Dichtergebilde, welche dem Darsteller aus der Tiefe des scharf aufgefaßten Volkslebens sich immer wieder in neuen Zügen vor Augen stellen. Die klugen, liebevollen, in Sorge und Arbeit unverdrossenen Hausfrauen; die kräftigen, schalkhaften, ehrbaren Töchter; die reckenhaften Söhne, wilde, tobsüchtige Schläger, aber durch den gesunden und tüchtigen Kern immer wieder den rechten Weg findend: welch stolze Bilder des Bauernhauses! Ohne festgestellten Plan, mit fliegender Feder wirft der Volksdichter seine Bilder hin, alle im engen Rahmen seiner Umgebung, Emmenthal und Nachbarschaft. Diese Gegend und sein Volk hat der Maler dem Publikum so lieb und vertraut gemacht, wie Kunst und Poesie die Wunder des Hochgebirges. Durch die leichte Schaffungskraft und die Begehrlichkeit der Buchhändler verleitet, folgten sich die Erzeugnisse nur zu rasch auf einander, nicht selten ins Ungemessene, Breite und Niedrige sich verlierend. Wo B. städtische Kreise schilderte, verließ ihn die charakteristische Schärfe und der belebende Humor, und in den historischen Sagen fehlte es zu sehr an der historischen Unterlage. Für das maßvolle, eigenthümlichste Bild gilt „Uli der Knecht“ (der Verf. dieser Skizze hatte Vollmacht und Auftrag, im Manuscript nach Belieben zu streichen: er lichtete frisch in der überwuchernden Fülle); ebenbürtig stehen dieser Erzählung zur Seite „Geld und Geist“ und „Käthi die Großmutter“, diese werden neben einigen anderen Stücken in der deutschen Litteratur sich in bleibendem Werthe erhalten. - B., dem Vorgang Pestalozzi’s in „Lienhard und Gertrud“ und des „armen Mannes im Toggenburg“ folgend, ist der Urheber der Dorfgeschichten, auf seinen Fußtapfen wandeln B. Auerbach und F. Reuter, jener in zierlichen Genre-Bildern, in elegischem Tone, die naiven Züge eines verschwindenden Volkslebens schildernd, mit philosophischer Ungenügsamkeit und unbefriedigender Aufklärung dasselbe vermengend; dieser dem rohen Herrenthum ein trostloses Bild des zertretenen Volkes entgegensetzend, erschütternd, seelenvoll, oft sentimental, im kräftigen aber rohen Ausdruck der Mundart. Der glückliche Wechsel von Mundart und Schriftsprache gehört mit zu den Vorzügen des Berners.

Jer. Gotthelf, Gesammelte Werke, Berlin. Manuel, Leben des Albert Bitzius.