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Artikel „Storm, Theodor“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 448–456, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Storm,_Theodor&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:14 Uhr UTC)
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Band 36 (1893), S. 448–456 (Quelle).
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Storm: Hans Theodor Woldsen St., Dichter, wurde am 14. September 1817 in der kleinen nordfriesischen Stadt Husum geboren. Von seiner Familie hat er selbst gern erzählt, sowol in novellistischer Spiegelung wie in unmittelbaren Berichten: an Mörike, an E. Kuh (13. August 1873), im nachgelassenen Bruchstück „Aus der Jugendzeit“ (Deutsche Rundschau, Nov. 1888). Der Urgroßvater mütterlicherseits soll aus Polen in das ferne Marschland gekommen sein. Der Vater Johann Casimir war ein Müllerssohn von Westermühlen, kurz und stämmig gebaut, heftigen Temperaments, ohne Humor, in seinen starken Gefühlen sehr zurückhaltend um sich nicht übermannen zu lassen, „von einer keuschen Ehrenhaftigkeit“, die ihm die größte Verehrung eintrug; einem alten Schweizer verglich ihn Mörike. Als Husumer Rechtsanwalt holte er sich die Gattin aus dem angesehensten langeingesessenen Patriciergeschlecht, das einst den seither gesunkenen Handel der Stadt befehligt hatte und immer noch stattlich und gastlich gedieh: Lucie Woldsen. Theodor, das älteste Kind, behielt die Urgroßmutter Feddersen bis in sein 13. Jahr, lange die Großmama, und er schildert die Mutter als sanfte Frau mit wunderschönen blauen Augen, zwar „ohne hervorragende geistige Begabung“, doch von klarem Verstand und für Kunst und Natur interessirt. Er wuchs in voller Freiheit auf, ohne zärtliche Liebkosungen, die der Norden im Hause selten kennt, aber umfangen von einem treuen, die Todten in der Gruft miteinschließenden Familienwesen. Die stille graue Stadt, Haide und Marsch, Hallig und Meer, der eigene Gatten und die ländliche Ferienluft bei dem Ohm in Westermühlen waren seine Welt. Er [449] wurde nicht erzogen, hörte aber viel erzählen, von alten Zeiten zumal, und eine plattdeutsche Fabulistin Lena Wies gab ihm mehr als die Husumer Gelehrtenschule. „Von Religion oder Christenthum habe ich nie reden hören. Ich habe durchaus keinen Glauben von der Kindheit her.“ Ein lyrischer Drang regte sich früh; mit einem Makkabäer-Gedicht nahm er im Herbst 1835 Abschied um in die Prima des Gymnasiums zu Lübeck überzusiedeln. Er kam unter die Hut eines Fr. Jacob, eines Joh. Classen. Geibel war schon abgegangen, wurde aber in den Ferien gern und respectvoll begrüßt, während St. später eine schroffe Abneigung gegen den „poeta laureatus“ hegte. Ein wunderlicher Gesell, F. Röse, als „Dr. Antonio Wanst“ in den Zerstreuten Blättern und nochmals für C. Th. Litzmann’s Geibelbuch abconterfeit, wirkte stark auf seine bis dahin sehr dünne litterarische Bildung. In Husum hatte sich St. mit etwas Schiller und Körner begnügen müssen, aber Uhland für einen alten Minnesänger gehalten! Jetzt trat er dem schwäbischen Meister näher, Goethe’s Faust riß ihn wie eine plötzliche Offenbarung hin, Heine’s „Buch der Lieder“ wurde begierig genossen, eine unversiegbare Liebe zu Eichendorff gefaßt, Brentano und andre Romantiker müssen schon ihre Töne unter die Nachklänge älterer norddeutscher Lyrik gemischt haben, und auch für ihn war die Zauberlaterne E. T. A. Hoffmann’s dämonisch lockend aufgestellt. Stifter’s bilderfrohe Erstlinge kamen hinzu. Ostern 1837 bezog St. die Universität Kiel, trotz der „Holsatia“ wenig gefesselt von dem Burschenleben, das für seine spätere Dichtung ein paar helle und wüste Motive lieferte, ohne Neigung zur Jurisprudenz. „Gelernt habe ich nie etwas Ordentliches; auch das Arbeiten an sich habe ich erst als Poet gelernt. Dies ist buchstäblich wahr; mir fehlt ganz das Talent des Lernens.“ Das gilt auch von fremden Sprachen, auch von der Geschichte. Drei Berliner Semester von Ostern 1838 an, unterbrochen durch einen Ausflug nach Dresden, hinterließen keinen bleibenden Eindruck. Die philosophische Hochfluth ergriff ihn nicht, seine Heimathliebe war vorderhand mit keinen politischen Interessen verbunden. Im Herbst 1839 nach Kiel zurückgekehrt, schloß er enge Freundschaft mit den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen. Noch im Alter rühmte er, welch gesunden Einfluß die weit ausgreifende Energie und die mit dichterischem Fühlen verbundene Kritik Theodor’s auf ihn geübt habe. Man plante eine Sammlung schleswig-holsteinischer Sagen, Märchen und Lieder, die dann 1845 ein anderer Commilito, Müllenhoff – er trat übrigens St. persönlich nicht näher –, meisterhaft ausführte. Seit 1844 wurde Biernatzki’s „Volksbuch“ von St. oder Woldsen-Storm, wie er sich damals schrieb, gefördert und bot seinerseits den Rohstoff für spätere Novellen. Eines Tages hatte Th. Mommsen die einsame, in sich selbst selige Schönheit der Gedichte Mörike’s und des „Maler Nolten“ entdeckt: „des Liedersommers letzte Rose“. St. sog entzückt ihren Duft und blieb dem Schwaben zugethan bis ans Ende. Zeugniß der Verehrung brachte 1843 das „Liederbuch dreier Freunde“ (heute ein Rarissimum), worin Th. M., offenbar der geistige Führer, auch der Kämpfer des kleinen Kreises, modernere Töne anschlug, als St., der aber unter seinen etwa 40 Beiträgen schon im Ernsten wie im Launigen so manchen Treffer bot und später die Hälfte der Verewigung werth achtete. Das „Liederbuch“ ist zugleich ein Abschiedsgruß an die freie Jugend.

1843 ließ sich St. als Advocat in Husum nieder, sicherlich gemeint hier zu leben und zu sterben. Dem Sohn des „olen Storm“ waren alle Wege geebnet. Sein Beruf hatte für ihn das Erfrischende, „aus der Arbeit der Phantasie in die des reinen Verstandes“ zu führen und umgekehrt. Er durfte sich mancher Erfolge rühmen. Erst im Alter mochte es ihn verstimmen, daß die Bureaukratie [450] nur einen Amtsrichter, keinen deutschen Dichter St. anerkannte und als letzte „Auszeichnung“ den rothen Adlerorden 4. Classe gewährte. Aber schon früh gab es „Stoßseufzer“, wenn in festlichen Stunden ein schnöder Client mit der Prosa von Händeln und Geldsorgen Dichters Erdenwallen störte. St. fand ein reines Glück durch die am 15. September 1846 geschlossene Ehe mit einer Verwandten Constanze Esmarch, Tochter des Segeberger Bürgermeisters, Enkelin des einstigen Göttinger Haingenossen. Nun lebte an seiner Seite eine schöne, stattlich gewachsene, grauäugige Frau, rüstig im Hause, jedem Ankömmling hold und werth, poetisch gestimmt, die empfänglichste und feinste Leserin der strömenden Dichtung, musikalisch begabt, so daß ihr Alt mit dem Tenor des Gatten bei Schubert, Schumann, Mendelssohn zusammenklang. In Husum, auf dem Eichsfeld, endlich im Dorfe Hademarschen hat St. Gesangvereine geleitet und auch an Instrumentalmusik stets helle Freude gehabt. Nach jenem „Liederbuch“ und allerlei Spenden für Biernatzki, der u. a. „Immensee“ darbringen durfte, gab St. 1851 das erste selbständige Büchlein heraus als Maigeschenk für Constanze, „Sommergeschichten und Lieder,“ darin neben kleinen Situationsskizzen die glücklich umgearbeitete Erzählung „Immensee“, die seinen Ruhm begründete und in zahllosen zierlichen Einzeldrucken seit 1852 bei vielen Leuten zum gerechten Aerger des fortschreitenden Dichters Jahrzehnte lang erschöpfen sollte. 1852 erschien auch die Lyrik für sich. Die „Sommergeschichten“ wanderten gleich mit einem innigen Geleitbrief zu Mörike; dieser erkannte einen „sinn- und seelenverwandten Freund“. Die Correspondenz reicht bis zu seinem Tode, von Mörike der Blätterzahl nach spärlich geführt, von St. im vollen Erguß der Mittheilung, die ihm Bedürfniß war. Er mußte auch Fernstehenden ein Bild seiner ganzen Existenz geben, sie mit seiner Frau, seinen Kindern, all seinen menschlichen Freuden und Leiden völlig vertraut machen; sei es Mörike, der dafür ein liebreiches Gehör hatte und trotz der Schweigsamkeit eine echte Familienfreundschaft hielt, sei es G. Keller, den so eine norddeutsche Weihnachtsfeier mit dem „Märchenzweig“ schnurrig befremdete.

Das Stillleben wurde bald durch die dänischen Wirren aufgewühlt, die auch St. zum Manne schmiedeten. Ganz und gar kein Politiker, war er ein fester deutscher Patriot und haßte die Fremdherrschaft wie einst die Ditmarschen die „Deusen“. Nicht in Reden, Artikeln, Flugschriften, sondern in ungeahnt starken lyrischen Tönen machte er seit 1850 seiner Empörung Luft, die ganze Existenz einsetzend für die Deutschheit der Herzogthümer. Man cassirte gewaltthätig seine Bestalluug. Den von der Heimath Losgerissenen nahm Preußen auf.

Im November 1853 trat St. als Assessor in Potsdam ein, schlug aber keine Wurzeln. Trotz manchen Freundschaften und Anregungen fühlte er sich fremd, wollte von den Wäldern und Havelseen nichts wissen und träumte verlangend von fernem Meeresrauschen. In der traulichen Enge altüberlieferter Verhältnisse aufgewachsen, blieb er dem Getriebe der benachbarten Großstadt fern und pflegte bloß, nehmend und gebend, den Umgang mit Berlins Dichter- und Künstlerwelt, im „Rütli“ und im „Tunnel“, jenen uns von Th. Fontane vergegenwärtigten Mittelpunkten, wo St. unter anderen Kugler, den jungen P. Heyse, A. Menzel, v. Lepel, L. Pietsch, Lübke, F. Eggers fand. Er nahm 1854 an dem Sammelwerke „Argo“ theil und schrieb ein paar kleine Recensionen für das Egger’sche Kunstblatt. Die schöpferische Stimmung suchte ihn in dieser Zeit seltener heim; unter einigen Erinnerungsbildern, Humoresken und Märchen erscheint „Angelica“ als schwächliche Novelle, wie er selbst gestand. Seine Nerven litten. Der „Heimathsbedürftige“ seufzte, in der Fremde sei ihm das rechte warme Productionsvermögen zerstört. Auf das sonnige Familienleben fiel doch der Schatten der Verbannung. 1855 erfrischte ihn eine Reise mit den [451] Eltern nach Heidelberg, wo sein Vater studirt hatte, und nach Schwaben zu dem geliebten Mörike, dessen „Mozart auf der Reise nach Prag“ aus erster Hand genossen werden konnte. 1877 hat St. den herzerquickenden Besuch geschildert. Er meinte den Württembergern, obwol ihnen leider der abendliche Theetisch und dessen geistig-gemüthliche Atmosphäre mangle, verwandter zu sein als den scharfen Preußen. Im Herbst 1856, nachdem im Vorjahr eine Aussicht auf – Prenzlau getäuscht hatte, kam St. als Amtsrichter nach Heiligenstadt im Eichsfeld. Vorher besuchte er Husum und wiederholte die Einkehr 1862. Land und Leute gefielen ihm sogleich sehr, ja er fühlte sich nun erst, anders als in Potsdam und Berlin, zu Hause; nur einen Garten vermißte er schmerzlich, da „Garteneinsamkeit die Mutter meiner meisten Productionen ist“. L. Pietsch, seit Illustrationen zu „Immensee“ mit St. treu verbunden, kam auf längeren Besuch. Die landräthliche Familie v. Wussow schloß innige Freundschaft mit dem Dichterhaus. In diesen Jahren beflügelte und vertiefte sich Storm’s Novellistik. Heimwärts, liebwärts blieb doch sein Sinn gerichtet und, der neuen Dinge in Schleswig-Holstein froh, zögerte er nicht im Frühjahr 1864 einem Rufe seiner lieben anhänglichen Landsleute zu folgen.

„Hoffentlich kommt nun der letzte, doch nicht zu kurze Act meines Lebensdramas“ – mit diesen Worten brach er am 12. März nach Husum auf, der „letzte Landvogt“, dann seit der preußischen Annexion der Herzogthümer Amtsrichter (1874 Oberamtsrichter, 1879 Amtsgerichtsrath). Außer dem geheimen Aerger, den ihm anfangs die Preußen bereiteten, empfand er volles Behagen. Der Bruder, Dr. Aemil St., war sein Nachbar, die Eltern bewährten die Langlebigkeit dieses Geschlechts, und wenn auch der Alte in neun Jahren nur zwei mal zu den Söhnen kam, so gingen diese täglich zu ihm. Er starb im 84. Lebensjahre 1874; Theodor’s Brief über die Bestattung (an E. Kuh) gehört zum Ergreifendsten was er je geschrieben hat. Die Mutter behielt er noch bis 1879. Aber einen schweren Verlust forderte die Heimkehr: Constanze wurde am 20. Mai 1865, vierzehn Tage nach der Geburt eines siebenten Kindes, der vierten Tochter, vom Fieber hinweggerafft. Wir besitzen wundervolle Briefe aus dieser dunklen Zeit; so schreibt er an L. Pietsch, wie das harte Stöhnen der Sterbenden endlich sanft gleich Bienengetön geworden und in vernichtender Schönheit eine Verklärung über das Antlitz gegangen sei. St. hatte keinen Glauben an die Unsterblichkeit; er verneint sie trostlos noch in den herben Versen auf den früh vollendeten Grafen R. („Geh nicht hinein“). Auch ihm aber gab ein Gott zu sagen, wie er leide. Seine lyrischen Todtenopfer für die Abgeschiedene zählen zu den edelsten Kleinoden neuerer Lyrik, namentlich einige kurze Improvisationen der Gelegenheit. Als er wieder lauter wurde, war es ihm, als mahne eine süße Geisterstimme: „Was lärmst du so, und weißt doch, daß ich schlafe?“ Er rang mit dem Leid und ließ es nicht, es segne ihn denn. „Dennoch gilt’s nun weiter leben.“ An Mörike (3. Juni 1865): „Gleichwol bin ich nicht der Mann, der leicht zu brechen ist; ich werde keines der geistigen Interessen, die mich bis jetzt begleitet haben und die zur Erhaltung meines Lebens gehören, fallen lassen; denn vor mir liegt Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und sie soll, soweit meine Kraft reicht, gethan werden.“ Das erste freiere Aufathmen bescheerte eine Reise nach Baden-Baden, wo er mit Freund Pietsch der Gast Turgenjew’s war und neben dem großen Russen und den Viardots fremdartig, aber künstlerisch und menschlich angezogen stand. Sein Haus bedurfte einer Herrin, sein alterndes Herz einer liebevollen Trösterin: so schloß St. im Mai 1866 eine neue Ehe mit der ihm längst treu zugethanen Dorothee Jensen, die ihm eine Tochter schenkte und deren „weibliche Milde, grenzenlose Hingebung, harmlose Heiterkeit“, wie er sie dankbar pries, auch jeden Besucher wohlthätig anmuthete.

[452] 1868 begann St. seine „sämmtlichen Werke“ im Verlage von G. Westermann zu Braunschweig herauszugeben, für dessen Illustrirte deutsche Monatshefte er auch weiterhin thätig blieb, seitdem Rodenberg’s Deutsche Rundschau ihn als einen der vornehmsten Beiträger gewonnen hatte und die Gebr. Paetel Einzeldrucke aussandten. Diese Ausgabe eröffnet sammelnd und mehrend eine neue Epoche, in der St. sein Können stofflich und formal sehr bereichert, um in den siebziger Jahren die Höhe seiner epischen Kunst – der epischen: denn die lyrische konnte naturgemäß nur einen Nachherbst halten – und seines Ruhmes zu ersteigen, auch auf jüngere Dichter, z. B. Jensen, H. Seidel, deutlich zu wirken. Er beanspruchte ein Platzrecht neben Heyse und neben G. Keller, der damals das lange dichterische Schweigen brach und mit dem St. einen achtungsvollen Briefwechsel einging; als ob Confratres in Nord und Süd einander über ihren Nelkenflor berichteten, scherzte der Züricher. Heyse, der alte Freund, zeichnete mit feinen Strichen Storm’s Dichterprofil, der Wandlung um 1865 gedenkend, in einem Sonettenkranz neben dem des „Shakespeare der Novelle“ und nahm „Eine Malerarbeit“, dann „Aquis submersus“ in den „Novellenschatz“ auf, dessen Vorreden großentheils Cabinetstücke der Charakteristik sind. Seit 1867 ist fast jedes Jahr durch eine oder zwei umfangreichere Erzählungen bezeichnet. Nach Constanzens Tode hatte St. nur opera posthuma in eine Gruft zu senden gemeint – 1875 glaubte er, nun erst die Poesie recht zu commandiren. Gewiß ging es nicht immer aufwärts, aber noch die allerletzte Gabe wurde einstimmig als Meisterwerk gerühmt. Der Ruhm ließ sich freilich nicht mit großen Auflagen beziffern, und St. war empfindlicher als nöthig gegen die ephemeren Beherrscher der Weihnachtsmärkte, die ägyptisch oder germanisch gewandeten. Mündlich und schriftlich führte er Beschwerde über den ungenügenden Absatz, sich und andern zum Verdruß. In seiner Husumer Abgeschiedenheit mochte ihm leicht Lob oder Tadel von kleinen Gesellen zu wichtig scheinen. Er brauchte Resonanz, und zwar keineswegs einen schellenlauten Beifall, denn sehr selten mag ein Dichter so gern und so reichlich den Freunden Einblick in die Entstehung seiner Gebilde gestattet, ihre Bedenken während der Correctur erwogen, auch befolgt, in Briefen Zustimmung oder Einwürfe weiter gegeben und endlich beim Neudruck sorgsam berücksichtigt haben. Er konnte, oder wollte wenigstens, auf sehr fremdartige Schöpfungen von Genossen und Fremden unbefangen eingehn, sich von stillen Leuten des 18. Jahrhunderts mitten in die Romantik versetzen und wieder das Allermodernste, war es auch schiefgewickelt, wenn nur Ursprünglichkeit darin stak, wohlgefällig anschauen, überstreng bloß im lyrischen Revier, tastend im dramatischen, wo er selbst sich nie, auch mit dem kleinsten geheimsten Entwurf nicht, versucht hat. Er war allgemeinen Kunstbetrachtungen wohlgeneigt und verflocht in Briefen wie im Gespräch gerne die Familienchronik mit Berichten über eigene und fremde Production. Gewiß hätte er seine geistigen Gelenke regsamer rühren können, wenn ihn größere Lebensverhältnisse angespannt hätten, aber für seine heimliche Poesie blieb das Stillleben das rechte. „Zur Classicität gehört doch wol, daß in den Werken eines Dichters der wesentliche geistige Gehalt seiner Zeit in künstlerisch vollendeter Form abgespiegelt ist, und da werde ich mich jedenfalls mit einer Seitenloge begnügen müssen“, schreibt er 1872. Er mußte menschlich und künstlerisch zum Gemüth sprechen. Er war selbst sein bester Interpret, so daß wer ihn kannte bei jeder Dichtung immer die mittelgroße, früh leichtgebeugte Gestalt, das feingeschnittene Haupt mit dem vollen Haar und den blauen Augen sieht, die leise Stimme und ihre scharfen dänisch-schleswigschen S-laute hört. Die Halb- und Vierteltöne mancher Lieder und Geschichten wird ihm Niemand nachsprechen; auch Launiges gelang ihm trefflich; aus Klaus Groth’s „Quickborn“ [453] recitirte er köstliches Kindergeplauder oder den bellenden „Hans Iwer“. Im Alter ist St. sehr selten aus der Heimath gegangen. 1877 verweilte er sorgenschwer mehrere Wochen in Würzburg, im Mai 1884 wurde er in Berlin gefeiert, im Mai 1886 kam er schon kränkelnd nach Weimar.

Im Frühjahr 1880 auf seinen Wunsch pensionirt, zog St. nach Hademarschen bei Hanerau, wo einer seiner Brüder als Holzhändler lebte und ihn ein geräumiges hübsches neues Haus mit großem Garten und weitem Ausblick über die freundliche, wellige Landschaft erwartete. In Husum stattete er regelmäßige Besuche ab und sprach auch gern bei zwei verheiratheten Kindern vor. Schweren Kummer brachte der Tod des ältesten Sohnes, seines Sorgenkindes. Unter großer Theilnahme von nah und fern wurde sein siebzigster Geburtstag gefeiert: die Husumer ernannten ihn zum Ehrenbürger, die auf ihren „berühmten Herrn Rath“ stolzen Bauern sangen und schmausten, es regnete Adressen und Briefe, Kieler Damen spendeten einen schönen Schreibtisch; vergeblich aber hatten manche ein Doctordiplom von der Landesuniversität erwartet. St. war schon länger von einem quälenden Magenleiden befallen, gegen das auch die Sylter Seebäder nichts halfen. Dem Meer und dem Aberglauben seiner Heimath konnte er noch ein dichterisches Denkmal „Der Schimmelreiter“ gründen, mit starkem Griff in die Lands- und Sprachkraft des seefahrenden und deichbauenden Volkes, ohne Spur von Siechthum. Als er eine neue sagenhafte Geschichte „Das Armesünderglöcklein“ begann, rief ihn selbst das Geläut des Todes ab. Er ist am 4. Juli 1888 entschlafen und in der Familiengruft zu Husum bestattet worden.

Nur im rasch zusammenfassenden Umriß soll hier Storm’s Poesie erscheinen. Er gehört zu den ersten Lyrikern und zu den hervorragenden Erzählern der letzten Jahrzehnte, zu denen, die nicht als glänzende Meteore die Welt blenden, sondern als sanfte Sterne den Blick andächtiger Menschen allgemach anziehen und festhalten. „Sie haben das an sich, so leise zu überraschen,“ schrieb ihm Mörike. Es ist ein Geigenspiel mit Sordinen. Er selbst bekannte: „Sobald ich recht bewegt werde, bedarf ich der gebundnen Form. Daher ging von allem was an Leidenschaftlichem und Herbem, an Charakter und Humor in mir ist, die Spur meist nur in die Gedichte hinein. In der Prosa ruhte ich mich aus von den Erregungen des Tages; dort suchte ich grüne stille Sommereinsamkeit“; doch darf dies Geständniß nur für die ältere Zeit gelten. Ein viel späteres Wort lautet: „Ich bin eine stark sinnliche, leidenschaftliche Natur; die Zurückhaltung in meinen Schriften (in den Gedichten ist sie nicht so vorhanden) beruht wol zum Theil auf dem mir eigenen Drange nach Verinnerlichung. Sie werden die Worte „Liebe“, „Kuß“ etc. fast gar nicht in meinen Schriften finden.“ St., der Urtheile wie diese: seine früheren Skizzen und Novellen seien Aquarelle und Resignationspoesien, anerkannte, legte anfangs auf die Lyrik geringern, dann mit Recht sehr hohen Werth, wollte aber weder ein lyrischer Novellist heißen, da er die Gattungen rein halte, noch über der „heiligen Alltäglichkeit“ (E. Kuh, Ueber neuere Lyrik, Wien, Braumüller, 1865, S. 38) und den lieben Halbtönen die „männliche oder Charakterseite“ seiner Lyrik vergessen sehen, auch nicht bloß vernehmen, was ein Mörike, ein Eichendorff vor ihm, sondern auch was er seinerseits vor diesen Primgeigern voraus habe. Allerdings: St. ist vieltöniger als Eichendorff, den in gewissen rauschenden Klängen keiner übertrifft; es fehlt ihm Mörike gegenüber, um nur eines ganz kurz zu sagen, jedes Verhältniß zur Antike. Ein Hauch noch von Claudius her ist zu spüren: „Die Wälder standen schweigend“ (Immensee) u. s. w., das Häusliche, Kindliche. Er hat wuchtige vaterländische oder besser heimathliche Kampflieder gesungen, zu Zeiten derb gegen die Convenienzen und geistige [454] Fesseln protestirt und mehr als einmal auch das Grüblerische („Ein Sterbender) und das Furchtbare eingelassen, aber das Moll klingt doch weit vor. Seine Launigkeit wird selten so recht ausgelassen-lustig, sein Schmerz zittert wehmüthig in uns nach, aber er sucht nicht zu erschüttern, geschweige zu zermalmen. Tageslicht und Dämmerung sind seine Zeiten. Die Ballade verrinnt ihm: „Geschwisterblut“ ist doch gar zu lind für ein solches Thema. Schalkhafte, anmuthig spielende Stücklein sanghafter Art stehen neben lyrischen Sprüchen, deren einer in wenigen Zeilen die fruchtbare Julilandschaft und das Sinnen der jungen Frau mit reiner discreter Symbolik zusammenfaßt, während in Liedern vom Harfenmädchen und von trunknen Liebesstunden die Sinnlichkeit ihres vollen Dichterrechtes waltet. Der Humor der „Maienkätzlein“ ließ sogleich an Mörike denken. Mit ihm um die Wette wird der Frühling gegrüßt. Die „neuen Fiedellieder“ bilden einen schwächern Cyclus, doch wohl unter dem Einfluß Scheffel’s, von dem St. das „Jetzt färbt der Rain“ sehr liebte. Die Stimmung der „grauen Stadt am Meer“, der Haide, des grünen Dickichts ist in manchen Gedichten zur größten Wirkung gebracht. Den Todtenliedern und jenen Seufzern auf einsamen Pfaden bleibt ein Ehrenplatz gesichert, so lang es Lyrik gibt. Wir glauben nämlich nicht mit St., daß er nach Eichendorff und Mörike der letzte Lyriker war, und sehen in seinen Ansprüchen an „lyrische Lyrik“ ein gewiß einseitiges Princip. Ihm war es heilig. Ein Bekenntniß ist die Einleitung zum „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“, einer unserer allerbesten und reichhaltigsten Anthologien (4. Aufl., 1877).

Der Erzähler St. begann mit feinen, ein kleines Stillleben liebevoll vergegenwärtigenden „Situationsstücken“ ohne festen epischen Kern, wie auch später seinen Gaben oft jene scharfe Silhouette und jener „Falke“ fehlt, den Heyse von der Novelle fordert, und Erinnerungen oder Bilder, Stimmungen und Gesichte, Ausschnitte aus vergangenem Dasein und aparte Einzelfiguren an die Stelle treten. Er ist in Urgroßvaters Zeiten heimisch und weiß die stattlichen Herren wie die zierlichen Rococofräulein allerliebst zu beleben. Man begreift seine Neigung für Chodowiecki, mit dem er die Hauspoesie, den andächtigen Sinn für das Detail gemein hat. Aber er bietet keine todte Beschreibung, sondern umwebt, anders als Voß, auch Geräth und Wirthschaft mit gemüthlicher Beziehung zu den Personen und läßt in der meisterhaft angeschauten Landschaft zwar die Strenge der Lessing’schen Gesetze bei Seite, nie aber schildert er um zu schildern, nie erinnert der Liebhaber der Pflanzen- und kleinen Thierwelt an Brockes. Seine Fabeln und Gestalten hat er nicht in weiter Motiv- und Modelljagd aufgebracht, sondern aus eigenen nahen Erfahrungen, auch aus manchen Lebensnöthen zur Befreiung für sich und andre, aus alter Ueberlieferung in Familie und Freundschaft, an vertrauten Stätten oder als pflegenswerthe Keime wol mehr als einmal zwischen vergilbten Blättern, im Anschauen von Bildern gefunden. Viele sind ihm manches Jahr durch den Kopf gegangen, andre hat eine rasche Erleuchtung geboren. Fast alles ist heimathliches Gewächs, sehr selten wird ein Ausflug nach Süddeutschland gemacht, die Erinnerung an kleine Reisen zu Rathe gezogen, Kobell’s Gedichtbuch für die oberdeutsche Färbung der Sprache befragt, häufig, wie es „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ natürlich ergab, das Seemannsleben verwerthet; aber St. folgt nicht dem sogenannten Princip der idealen Ferne. Da er weitab vom sausenden Webstuhl der Zeit seine Fäden wob, ist diese Dichtung nichts weniger als „actuell“, sie bewahrt eine sichere Einheit des Ortes, der Mundart, der Gemüthswelt, wird aber späteren Geschlechtern kaum die Signatur einer bestimmten Zeit zu erkennen geben. St. versteht sich auf das Costüm des 17. und des 18. Jahrhunderts. Seine modernen Novellen könnten mit kleinen [455] äußeren Veränderungen in allen Abschnitten des 19. spielen, da sie von ihrer Gemüthssphäre alle politischen, socialen und geistigen Kämpfe abwehren und den Dialog sehr selten über Empfindungslaute hinausführen, so daß die intellectuelle Begabung dieser Menschen unausgesprochen ist. Anfangs bleibt es bei sanften Schwingungen, widerstandslosen, entsagungsvollen Bedrängnissen, wofür „Immensee“ ein typisches bittersüßes Beispiel gibt. Die Leute sind zu wehleidig. Begebenheiten, nicht Thaten machen ihr Schicksal. Noch in mehreren Heiligenstädter Schöpfungen überwiegt diese Stimmung („Auf dem Staatshof“, „Im Schloß“, „Auf der Universität“). Gleichzeitig schließt St. seine farbenreiche Märchensymbolik ab. Er ergreift in „Veronica“ einen wirksamen religiösen Conflict, in „Späten Rosen“ ein tieferes Novellenthema: den gesegneten Nachsommer einer kühlen Ehe. In Husum, nach Constanzens Tod und dem neuen Frieden gedeihen zur Meisterschaft Stücke der heitern Resignation („Eine Malerarbeit“), des heimathlichen Hintergrundes („In St. Jürgen“), der saubersten und behaglichsten Familienpoesie („Beim Vetter Christian“), die fahrenden Leute werden in „Pole Poppenspäler“ verklärt, Groteskfiguren nach E. T. A. Hoffmann’s Art mischen sich unter den Reigen, lustige und widrige – aber „Ein stiller Musikant“ bringt der alten linden Stimmung volle Motive und runde Composition zu und „Viola tricolor“ zeigt in der tiefgründigen Behandlung einer zweiten Ehe das ungemein gesteigerte Können. Auf dieser Bahn erscheint nach dem sinnlich schwülen, aber auch erschlaffenden „Waldwinkel“ „Psyche“, die Novelle von der „in Liebe sterbenden holden Scham“, „Carsten Curator“ als eine wuchtige erbarmungslose Haustragödie der Ehrenhaftigkeit, „Der Herr Etatsrath“ mit seiner bête humaine, „Schweigen“ leider ohne volle Consequenz, „Bötjer Basch“ und „Ein Doppelgänger“ dem Handwerkerthume mitfühlend, ja bis zu schneidender Wirkung zugewandt, endlich „Ein Bekenntniß“: der Conflict eines Arztes, der seine Frau hätte retten können. Eine große, von geringeren, auch noch herkömmlichen Arbeiten umgebene Gruppe, die Storm’s erster und mittlerer Kunst- und Empfindungsweise gegenüber das Wachsthum der Motive, die festere Hand, die temperamentvollere Menschheit zeigt. Dieser Gewinn kam seit 1875 zugleich einer Reihe chronikalischer, hie und da vielleicht zu alterthümelnder Erzählungen zu gute, die mit „Aquis submersus“ tieftraurig einsetzt, sich in „Renate“, „Eckenhof“, dem „Fest auf Haderslevhuus“ nicht auf so bewundernswerther Höhe hält, aber in der „Chronik von Grieshuus“ eine gewaltige Schicksalstragödie entrollt und schließlich den dämonischen „Schimmelreiter“ (1888) als letzten Herold des friesischen Strand- und Seedichters ausschickt. Ein Sammelband ist „Vor Zeiten“ betitelt. „Ein Bekenntniß“ und „Der Schimmelreiter“ bilden den 1889 posthum erschienenen 19. Theil der Storm’schen Werke. Zu einem abrundenden, commentirenden 20., der eine Auswahl von Briefen brächte, ist trotz dem Wunsche der Verlagsbuchhandlung Westermann vor der Hand leider keine Aussicht.

Einige ältere Litteratur (L. Pietsch, E. Kuh) verzeichnete Privatdocent Dr. Paul Schütze in der mit einem vortrefflichen Porträt geschmückten Festgabe zu Storm’s 70. Geburtstag: Theodor Storm. Sein Leben und seine Dichtung (Berlin, Gebr. Paetel, 1887), die biographisch nicht gar viel bietet und sich in der Auffassung nah mit meinem 1880 in der Deutschen Rundschau erschienenen, 1886 in den „Charakteristiken“ revidirten und ergänzten Essay berührt. Aus den vielen Nekrologen sei nur der auf vertrauteste Kenntniß gestützte von Ludwig Pietsch (Vossische Zeitung, 8., 10., 13. Juli 1888) hervorgehoben. – Westermann’s Illustr. deutsche Monatshefte, October 1889 bis Januar 1890, Bd. 67 brachten die von 1871–1876 reichende [456] Correspondenz zwischen Storm und Emil Kuh. – Mörike-Storm-Briefwechsel. Herausgegeben von Jakob Bächtold. Stuttgart, Göschen 1891.