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Artikel „Fontane, Theodor“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 617–624, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Fontane,_Theodor&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 03:25 Uhr UTC)
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Fontane: Theodor F., der Begründer und Meister des realistischen Romans in Deutschland, ist in dem märkischen Städtchen Neu-Ruppin am 30. December 1819 geboren und in Berlin gestorben am 20. September 1898. Sein Leben zerfällt in zwei sehr ungleiche Hälften. Bis etwa zum Jahr 1880 war F. außerhalb Berlins fast nur durch einige Balladen (besonders den von Löwe prächtig componirten „Graf Douglas“) bekannt; in Berlin galt er als geistreicher Plauderer, ohne daß seine Bücher viel gelesen oder seine Theaterkritiken ernst genommen wurden. Nach 1880 stand er plötzlich an der Spitze der litterarischen Bewegung, den Alten werth, von den Jungen verehrt, ein unschätzbarer Vermittler zwischen den litterarischen Kreisen, aus denen er hervorgegangen, und denen, welche in seiner Production längst Gehofftes glücklich erfüllt sahen. Das Wunder, daß der lang Uebersehene, fast Vergessene mit Einem Male zum Haupt der Jugend ward, beruht darauf, daß seine eigene, merkwürdig langsame Entwicklung und die des Zeitgeschmackes sich gleichsam entgegenkamen.

Man hat die angeborenen Elemente Fontane’s oft mit großer Sorgfalt analysirt und daneben seine litterarische Vorgeschichte etwas vernachlässigt. Allerdings haben sicherlich die Eltern, beide der Familie der Réfugiés angehörig, dem Sohn etwas von französischem Esprit, französischer Erzählungskunst – und auch ein wenig von französischer „blague“, der Lust durch originelles Hinreden die Leute zu verblüffen, vererbt. Auch wird es wohl stimmen, daß der Vater ein liebenswürdig-leichtsinniger Mann, den der Dichter in seinen Lebenserinnerungen unübertrefflich geschildert hat, ihm etwas von dem leichten Blut der Gascogner übermittelte, während die aus Nordfrankreich stammende Mutter – übrigens eine Berlinerin von Geburt – ihm den ernsteren Pflichtbegriff mitgab. Dazu kam dann der starke Einfluß der fridericianischen Ueberlieferungen in dem Heimathstädtchen und frühe Einwirkungen der politischen und litterarischen Hauptstadt Berlin. Doch damit sind wir schon bei seiner litterarischen Vorgeschichte.

Als F. nach frischem Jugendleben in dem Seehandelsstädtchen Swinemünde [618] 1842 nach Berlin kam, um dort den väterlichen Beruf als Apothekerlehrling zu erlernen, herrschte in der noch sehr kleinstädtischen aber litterarisch ungemein angeregten Hauptstadt eine heut ganz vergessene Schule von Novellisten und Romanerzählern. Sie gingen Alle – wie sämmtliche Erzähler jener Zeit – von Walter Scott aus und suchten in der doppelten Bemühung um historische Färbung und Wiedergabe der localen Physiognomie ihm nachzukommen. Dabei war aber der große Sinn der Romandichtung des Schotten nur dem Einen Wilibald Alexis (1798–1871) aufgegangen, der in seinen vaterländischen Romanen (seit 1832) die Biographie des preußischen Volkes zu geben versuchte. Die Andern blieben im Anekdotischen stecken. Nur der Begründer des altberlinischen Romans (wenn man nicht Nicolai dafür erklären will), der höchst talentvolle Julius v. Voß (1768–1832) hielt wenigstens einen bestimmten, wenn auch einseitig erfaßten Typus des Preußenthums fest. Voß berührt sich mit F. nicht nur gelegentlich in der Auswahl der Stoffe; auch in der Tendenz auf typische Charakteristik der socialen Schichten, in der großen Lebhaftigkeit der Anschauung und der entschiedenen Lehrhaftigkeit des Vortrags, in der Neigung zur Ironie und der Vernachlässigung der eigentlichen Composition sind sie sich verwandt, soweit auch der politische Fanatismus und die moralische Frivolität des Aelteren von der Indifferenz des Jüngeren in allen Parteifragen und seiner früh gefesteten Weltanschauung absteht. – Eine weitere Stufe steigen wir herab, wenn wir zu jenen Berliner Romandichtern kommen, die die Hauptstadt, als der junge F. dorthin kam, beherrschten. Ein Roman wie „Berliner und Spanier“ (1836) von Heinrich Smidt (1798–1867) wirkt heut geradezu wie eine Parodie auf Fontane’s Romane, so grob und verzerrt spielen Motive vor, die wir dann bei ihm in unendlicher Verfeinerung und von einer absolut neuen Kunst getragen wiederfinden: der Ehebund in der gutbürgerlichen Gesellschaft („L’Adultera“), die Entdeckung des geheimnißvollen Mordplatzes („Unter dem Birnbaum“), die unheilbare Mißheirath („Cécile“, „Graf Petöfi“ u. a.), die verheißungsvolle amusante Fahrt („Effi Briest“) und die Landpartie in den Grunewald („Frau Jenny Treibel“), das Theatergespräch („Grete Minde“, „Vor dem Sturm“), die (schon von W. Scott ererbte) Einmischung humoristisch wirkender Figuren aus dem Volk („Irrungen, Wirrungen“) u. s. w. Nur freilich nach der Lebenswahrheit und Weisheit Fontane’s darf man in diesen Producten nicht suchen, die so „romanhaft“ vorgehen und E. T. A. Hoffmann’s Praxis, berlinischen Realismus mit wilder Romantik zu verbinden, ins Kindische treiben. Dennoch haben Autoren wie Smidt sicherlich auf den jungen eifrig lesenden und dilettirenden F. gewirkt; ebenso der feudalcharakterlose A. v. Sternberg (1806–1868) mit seiner gesuchten Eleganz des Vortrags und seiner frivol politisirenden Nonchalance, und der strengconservative, im Leben aber gleich unzuverlässige George Hesekiel (1819–1879), der mit seiner cavaliermäßigen Lässigkeit des Stils dem Schüler geholfen hat, aus dem phrasenhaften Romandialekt der Aelteren zu einem lebensvolleren, gesprochenen Redeton vorzudringen.

Der interessante junge Mann machte in Berlin Glück. Noch als Lehrling ward er in die litterarischen Kreise des „Tunnels“ geholt, wo die neue Berliner Romantik sich um den preußischen Epiker Scherenberg (1798–1881) versammelte. Hier ward das poetische Interesse unzweideutig durch die Balladendichtung beherrscht, der vor allem Graf Strachwitz (1822–1847) durch seinen frischen männlichen Ton und durch die geschickte Anlehnung an die Art der schottischen Balladen einen bedeutenden Aufschwung gab. Daneben wirkten P. Heyse und Storm mit lyrischen Ausgestaltungen subjectiverer Erlebnisse. [619] Der ganzen unvergleichlichen Poetengesellschaft hat F. selbst mit dem köstlichen Buch „Chr. Fr. Scherenberg und das litterarische Berlin von 1840–60“ ein Denkmal gesetzt. Dieser Kreis, und Strachwitz vor allem, tritt auch in seiner lyrischen Anthologie „Deutsches Dichter-Album“ (1852) charakteristisch in den Vordergrund. Zu dem „belletristischen Jahrbuch“ „Argo“, das er dann (1858) herausgab, gehören alle Mitarbeiter zum Tunnel, F. selbst ist mit einer lyrisch gestimmten Novelle und altenglischen Balladen vertreten. – Weniger hervorragend als Dichter, wurden hier für F. die märkischen Edelleute B. v. Lepel und W. v. Merckel als persönliche Gönner wichtig; ihnen verdankte er seinen frühen Eintritt in die Kreise des altpreußischen Land- und Militäradels. Das Problem, wie diese höchst merkwürdige Erscheinung sich zu dem modernen Leben stelle, ist dann in einer ganzen Reihe seiner späteren Romane („Irrungen, Wirrungen“, „Stine“, „Effi Briest“ u. a.) zum Hauptmotiv geworden.

Nach kurzer Unterbrechung der Berliner Lehrjahre durch ebensolche in Dresden und Leipzig beendete F. diese fruchtbare Anfangszeit durch eine Reise nach London (1844). Er ist nachher noch als Apotheker thätig und ist erst 1849 officiell in den „Nothhafen“ der Schriftstellerschaft eingelaufen; aber die Individualität war fertig. Der merkwürdige Glücksfall einer ganz zufälligen Reise hat die Entwicklung des Dreißigjährigen zum Abschluß gebracht. Was er bisher nur nebenbei betreiben konnte, ward ihm in England zum Hauptgeschäft, das nämlich, wozu er wie wenige geschaffen war: Menschen zu beobachten und zu beschreiben. Er hatte vorher nur Gedichte veröffentlicht („Männer und Helden“ 1850, „Von der schönen Rosamunde“ 1850, „Gedichte“ 1851), die zwischen Strachwitz’ kräftigerer und Geibel’s sinnigerer Balladenmanier die Mitte halten, und einige prachtvolle Treffer aufweisen, aber eine eigentliche neue Mode kaum verrathen; denn neben die schottischen Lords hatte schon Scherenberg die preußischen Generale der fridericianischen Zeit als antimoderne Heldentypen gestellt. Jetzt aber entdeckte F. seine Begabung und in den ersten, an sich nicht bedeutenden Reisebüchern („Ein Sommer in London“ 1854, „Jenseits des Tweed“ 1860), auf zwei rasch wiederholten Englandfahrten (1852 und 1855–59) geschrieben, bricht die Freude am Beobachten und Schildern des Menschen schon mit vollster kräftigster Freude heraus. Es war nur natürlich, daß er nach dem langen letzten Aufenthalt in dem Lande, in dem auch so verschiedene Naturen wie G. Chr. Lichtenberg und Lothar Bucher das Menschenstudium gelernt hatten, die neuerworbene Kunst in der Heimath fortsetzte. Er war als Redacteur in die hochconservative „Kreuzzeitung“ in Berlin eingetreten; kein eigentlicher Politiker fühlte er sich wol schon damals aus jenem romantischen Cultus des starken nationalen Ritterthums heraus den preußischen Junkern näher verwandt als der liberalen Bourgeoisie. In seinen Grundanschauungen hat er sich dieser später immer mehr genähert; daß seine Sympathien und Antipathien davon wenig berührt wurden, zeigen noch „Der Stechlin“ und „Frau Jenny Treibel“. Zudem erschien der englische Landjunker in jenen Tagen selbst einem liberalen Manne wie dem berühmten Juristen Franz v. Holtzendorff (1829–1889) gewissermaßen als das moderne Ideal des Mannes.

Es ergab sich aus alle dem, daß der heimgekehrte F. auf die Wanderung ging, um diesen Landedelmann und seine Heimath kennen zu lernen, wie etwa gleichzeitig W. H. Riehl ein romantisch erdachtes „Volk“ auf Wanderfahrten zu entdecken suchte. Und dabei bleibt F. immer noch im Fahrwasser der Anregungen seines alten Meisters W. Scott, wenn er in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (1862–1881) und den „Fünf Schlössern“ [620] (1889) die Geschichte vom altmärkischen Land und altmärkischen Leuten in Eins faßt; ähnliche Versuche historischer Landschaftsschilderung hatte der große Schotte überall angeregt und z. B. Annette v. Droste zur Nachfolge veranlaßt. – Aber hier tritt Fontane’s Eigenart nun schon ganz anders hervor als in den Balladen, freier, frischer. Die leidenschaftliche Freude an der Anekdote macht sich Luft, die später zu dem berühmten, für F. höchst charakteristischen Ausspruch geführt hat: „Was heißt großer Stil? Großer Stil heißt so viel, wie vorbeigehen an allem, was die Menschen eigentlich interessirt“. Der Versuch, die Individualität auf der Grundlage des Typus zu schildern, wird in zahllosen Einzelporträts aus dem Adel und den landsässigen Ständen, Bauern, Geistlichen, Wirthen u. s. w. durchgeführt. Das Landschaftliche bleibt Hintergrund; zu einem lebendigen Verhältniß an der märkischen Natur, wie es der Schlesier Alexis erwarb, hat es die durchaus städterhafte Seele Fontane’s nie gebracht.

Der Patriot, der Helden- und Soldatenfreund, der Beobachter ließ es sich natürlich nicht nehmen, als Kriegsberichterstatter dem Heer auf den drei Feldzügen zu folgen („Der schleswig-holsteinsche Krieg“ 1866, „Der deutsche Krieg“ 1869–71), wobei er selbst in Kriegsgefangenschaft gerieth, als er in allzu treuherzigem Heroencultus Domrémy, den Geburtsort der Jungfrau von Orleans, aufsuchte („Kriegsgefangen“ 1871). Seine Kriegslieder sind sachlich, ruhig, dabei warmherzig; aber hier möchte man doch manchmal gern etwas mehr von jenem „großen Stil“ finden. Aber F. hatte nun einmal „keinen Sinn für Feierlichkeit“. Nach 1870 rückte er von den Kreisen des Militäradels ab, trat in den Verband der fortschrittlichen „Vossischen Zeitung“ und schrieb Theaterreferate, wobei ihn jedoch das Menschlich-Persönliche mehr interessirte als die allgemeinen Fragen der Aesthetik und Dramaturgie.

So war er fast sechzig Jahre geworden. Er lebte in sehr glücklichen, wenn auch äußerlich knappen Familienverhältnissen, in enger Freundschaft mit einem Kreis geistreicher und bedeutender Leute; aber wenn von den führenden Geistern der Litteratur die Rede war, dachte Niemand an Theodor Fontane. Und die ersten zehn Jahre seiner Romanproduction haben darin noch kaum etwas geändert.

Fontane’s Erzählungen sind durchweg auf höherer Stufe, was die Reisebilder aus England oder die „Wanderungen“ in kunstloserer Form auch sind, was die späte Skizzensammlung „Von vor und nach der Reise“ (1894) in aller Deutlichkeit ist: psychologische Studien in erzählender Form, am liebsten mit Anknüpfung an veränderte Umgebung; mit Einem Wort: psychologische „Reisebilder“ in Romanform. Die litterarische Gattung der „Reisebilder“ hatte Heine bei uns begründet; neben Andern vertritt sie J. V. Scheffel. Aber bei F. erhält sie ihr eigenartiges Gepräge durch die starke Betonung des psychologischen Charakterbildes. Darauf kommt es F. an: ein paar merkwürdige Figuren sollen in ihren historischen und socialen Zusammenhängen lebendig gemacht werden. Die Handlung ist durchaus Nebensache und wird selbst in den Criminalnovellen nur als Mittel zum Zweck behandelt, gerade wie Effi Briest’s Ehebruch auch; sie soll lediglich Gelegenheit schaffen, die Charaktere in ihrer ganzen Eigenart offen zu legen. Deshalb hat F. es auch mit der Erfindung der Fabel leicht genommen; wo ihm der Stoff nicht geboten war (in „Grete Minde“ durch eine Chronik, in „Unwiederbringlich“ durch mündliche Erzählung; in „L’Adultera“ durch ein bekanntes Ereigniß in der Berliner Gesellschaft), da entfernte er sich nicht allzuweit von den Bahnen des alten berlinischen Romans mit Landpartie und Ehebruch; daher jene Aehnlichkeiten etwa mit Smidt’s Geschichten. Oder er zerrt die Form des [621] „Reisebildes“ bis an die äußerste Grenze ihrer Dehnbarkeit, was ihm freilich zu der köstlichen Specialität seiner höchst individuellen Reisebriefe („Irrungen, Wirrungen“, „Poggenpuhls“) Gelegenheit gibt. Ganz streng componirt sind nur die kürzesten Bücher: die Novelle „Grete Minde“ und die Romane „Schach von Wuthenow“ und „Stine“; sonst streift F. leicht an jene fast zu ungebundene Art, die schließlich zur bloßen Anreihung von Genrebildern („Poggenpuhls“) und, freilich prächtigen, Gesprächstücken („Stechlin“) führt.

Fontane’s Romane zerfallen in zwei Gruppen: die kleinere der Criminalgeschichten („Grete Minde“, 1880; „Ellernklipp“, 1881; „Unter dem Birnbaum“, 1886; „Quitt“, 1891) und die größere und bedeutendere der modernen Romane („Graf Petöfi“, 1884; „Cécile“, 1887; „Irrungen, Wirrungen“, 1889; „Stine“, 1890; „Frau Jenny Treibel“, 1892; „Unwiederbringlich“, 1891; „Effi Briest“, 1895). Zwischen diesen stehen ein paar historische Romane („Vor dem Sturm“, 1878; „L’Adultera“, 1882; „Schach von Wuthenow“, 1883) und am Schluß hängen sich Genrebilder in Romanform an („Die Poggenpuhls“, 1896; „Der Stechlin“, 1898), doch stehen alle diese Stücke den „modernen“ Romanen erheblich näher als den Criminalgeschichten. In „L’Adultera“ berühren die sämmtlichen Elemente der Fontane’schen Romandichtungen sich am handgreiflichsten.

Die allgemeine Entwicklung bedeutet einen unzweideutigen Sieg der Theilnahme an dem modernen Menschen über das an dem „interessanten Stoff“. Sie bedeutet gleichzeitig eine fortschreitende Lösung von aller Tendenz zu weltüberlegener Objectivität.

Die beiden ersten Bücher stehen unter dem Zeichen des Wilibald Alexis. „Vor dem Sturm“ schildert die Zustände vor der Erhebung der Freiheitskriege und bildet eine Art Fortsetzung zu Alexis’ Meisterwerk „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“, verweilt dabei aber noch ausführlicher auf den litterarischen Zuständen. Hesekiel, wie Smidt ein älterer persönlicher Freund Fontane’s war ihm mit dem Thema in seinem Roman „Vor Jena“ (1859) vorangegangen und vor diesem hatte A. v. Sternberg (1844) „Jena und Leipzig“ geschrieben. Modelle aus dem „Tunnel“ sind reichlich benutzt; conventionelle Romanfiguren, wie der „edle Pole“, fehlen nicht. Daneben zeigt sich aber bereits in Einzelporträts, wie dem des Pfarrers – die immer von F. mit besonderer Virtuosität behandelt worden sind und kaum in einem größeren Romane fehlen –, eine realistische Kunst der Beobachtung in Bewegung und Redeweise, wie F. in sechzig Jahren unausgesetzten Studiums der Menschen sie sich angeeignet hatte. Die Atmosphäre ist vielleicht noch etwas zu sehr in weichen Tönen gehalten, aber doch sehr einheitlich und überzeugend durchgeführt. – „Grete Minde“ ist eine Tendenznovelle: F. will der parteiischen Verherrlichung des altbrandenburgischen Bürgerthums ein realistisches Bild dieser harten, knochigen, eigennützigen Bürger gegenüberstellen. Das hellere Licht fällt auf die von der modernen Bourgeoisie zurückgedrängten altmodischen und altgläubigen Edelfrauen – wie in den „Poggenpuhls“.

„Ellernklipp“ (1881) und „L’Adultera“ (1882) gehören wieder zusammen. In beiden wird die psychologische Vorbereitung eines Verbrechens oder Fehltritts mit ausmalender Breite geschildert; in beiden handelt es sich um Conflicte zwischen Liebe und Familienheiligkeit. In „L’Adultera“ betritt F. den Schauplatz des modernen Berlin und bereits läßt sich in der (nur noch etwas zu absichtlich individualisirten) Sprechweise der Figuren die erstaunliche Feinhörigkeit Fontane’s für den ganz persönlichen Tonfall bei jeder Persönlichkeit beobachten. Neben resolut realistischen Zügen weist das Buch aber noch mancherlei conventionelle Romanmittel auf, allzu effectvolle Capitelschlüsse, [622] allzu deutliche Symbolik. Manches, was hier noch unfertig war, hat der Verfasser dann später in „Effi Briest“ mit reifer Kunst nochmals gezeichnet; so die Begegnung der geschiedenen Mutter mit ihrem Kind.

„Schach von Wuthenow“ (1883) bildet den Höhepunkt der ersten Periode von Fontane’s Romandichtung. Es spielt in der Zeit vor Jena und gibt also eine Art Vorgeschichte zu „Vor dem Sturm“. Eine gewisse socialpädagogische Tendenz ist auch hier noch nicht zu verkennen: wie „Grete Minde“ das Bürgerthum, warnt „Schach v. Wuthenow“ den Adel vor Selbstüberschätzung. Doch tritt diese Absicht ganz zurück neben einer ungemein feinen Zeichnung der dumpfen, lastenden Lust, die einen beliebigen Officier und „schönen Mann“ mit Nothwendigkeit in den Selbstmord – das häufigste Ende Fontane’scher Helden – treibt. Die seelische Entwicklung ist glänzend durchgeführt, die verhältnißmäßig einfache Fabel ist in den Umständen fest begründet: der hier zuerst in vollerer Sprechfreiheit auftretende Raisonneur gibt den Chorus der Tragödie ohne störende Absichtlichkeit. Nicht in allen Punkten hat F. dies zarte Meisterwerk später überholt.

Unbedeutender sind die beiden Mésalliance-Romane „Graf Petöfi“ (1885) und „Cécile“ (1887), letzteres in der Composition für F. besonders charakteristisch, sowie der fast fatalistisch gehaltene Criminalroman „Unter dem Birnbaum“ (1886), dem als Nachläufer sein schwächstes Buch anzuschließen ist, „Quitt“ (1891), eine zwischen Deutschland und Amerika getheilte und namentlich im zweiten Theil recht wenig überzeugende Geschichte von Verbrechen und Sühne. Dafür schieben sich zwischen die letzten Fortsetzer der romanhaften Criminalgeschichte im Stil der Alexis und Smidt die beiden Eröffnungsstücke des neuen realistischen Romans ein: „Irrungen, Wirrungen“ (1887) und „Stine“ (1890). „Stine“ war früher entstanden, konnte aber lange keinen Verleger finden, wie denn auch „Irrungen, Wirrungen“ nach seiner Veröffentlichung in der „Vossischen Zeitung“ zuerst nur Verwunderung und selbst Spott erregte.

Neu ist in diesen beiden einfachen Erzählungen von einem traurig ausklingenden „Verhältniß“ zwischen Edelmann und Mädchen aus dem Volk die absolute Vermeidung aller romanhaften Effecte. Mit schlichtester Wahrheitsliebe wird die typische und doch wieder ganz individuelle Geschichte zweier moderner Liebespaare gegeben und als ein naturnothwendiges Ergebniß der mit höchster Treue aufgefaßten gesellschaftlichen Zustände dargestellt. In feinster Nuancirung gehen – wie gern in Goethe’s Romanen – neben den Hauptfiguren Parallelfiguren, die die Eigenart von Held und Heldin noch stärker herausmodelliren helfen. Eine davon, die Witwe Pittelkow in „Stine“, ist vielleicht der höchste Triumph Fontane’scher Erzählungskunst. Der Autor klagt weder an noch plaidirt er, er stilisirt nicht und vertuscht nicht; aber das tief eindringende Verständniß, das diese Figuren schuf, konnte nur aus einem liebevoll mitfühlenden Herzen, dem nichts Menschliches fremd war, hervorkommen.

Mit einem Mal war F. berühmt. Auch seine „Gedichte“, um einige charakteristische Gesprächstücke im Stil des Menzel’schen Ballsoupers und ein paar prächtige realistisch-heroische Gelegenheitsdichtungen vermehrt, erlebten jetzt (1889) in 3. Auflage ihre endgültige Sammlung. Zwar blieb der nächste Roman fast unbeachtet: „Unwiederbringlich“ (1891), eine mit feinstem Humor und wehmüthigen Abtönungen zu einem unwahrscheinlichen Ende – dem Selbstmord der frommen, von der Liebe ihres Gatten verlassenen Edelfrau – geführte Liebesgeschichte. F. hat dies Werk besonders gern gehabt und besonders viel von seinem Eigensten hineingelegt; jene köstlichen Sentenzen und Definitionen, deren verschwenderische Ueberfülle ein auffälliges Merkmal seines Stils [623] bildet, sind hier überaus reich und glücklich ausgesäet. Dennoch machte der epigrammatische Berliner Roman „Frau Jenny Treibel“ (1892), mit dem Selbstporträt des Dichters als Prof. Wilibald Schmidt, viel mehr Glück. Man hatte jetzt schon eine deutliche Vorstellung von Fontane’s Art und daß er sie hier in dicht an die Caricatur grenzenden Charakterzeichnungen und einer fast an das junge Deutschland gemahnenden Gesprächfreude bis zur Manier trieb, erleichterte das Verständniß. Mit größerem Recht ward aber allgemeiner Beifall dem letzten eigentlichen Roman Fontane’s entgegengebracht: „Effi Briest“ (1895). Der Verfasser ging hier zu der schlichten Herzlichkeit von „Irrungen“ und „Stine“ zurück und gleichzeitig zu dem Milieu seiner ältesten Erzählungen, dem ihm so besonders genau bekannten der märkischen Adelsfamilien. Die Mésalliance eines liebebedürftigen Herzens mit der kühlen Correctheit wird nach vielen anderen Formen der Mißheirath (Geschmack- und Taktlosigkeit in „L’Adultera“; Alter und Jugend in „Graf Petöfi“; sociale Verschiedenheiten in „Irrungen“ und „Stine“ u. s. w.) als die letzte und schmerzlichste Art, wie sich Herz nicht zu Herzen findet, dargestellt. Die Erzählung verweilt fast ausschließlich bei der Heldin, deren sanfte Willenslosigkeit sie in das Unglück der äußerlich glänzenden Ehe und in das schlimmere des Ehebruches gleiten läßt, bis sie dann schließlich, erst ganz verlassen, dann von ihren Eltern wieder aufgenommen, ins Grab sinkt, mit der Empfindung, daß sie ihrem Gatten mehr zu verzeihen habe als er ihr. Seit Prévost’s „Manon Lescaut“ ist die „schöne Sünderin“ nicht in so schlichter Wahrhaftigkeit dargestellt worden: weder ein romantisch-schuldloses Opfer der Verhältnisse noch eine sündhafte Natur, sondern die Trägerin eines von ihrem Wesen und ihrem Schicksal gleich sehr verschuldeten Looses.

„Die Poggenpuhls“ (1896) und „Der Stechlin“ (1898) gehen fast ganz in Genrebild und Gespräch auf. Der „Stechlin“ knüpft an einen See seiner Heimathgegend, der Grafschaft Ruppin, an, der schon in den ersten „Wanderungen“ Fontane’s Aufmerksamkeit erregt hatte: dieser kleine aber tiefe See, der alle großen Erderschütterungen an seiner Oberfläche erkennen läßt, wird für den Dichter ein tiefinniges Symbol der eigenen Art, im „Kleinen“ und „Unbedeutenden“ das Große, im ganz Individuellen das Allgemeine abzuspiegeln. Die Hauptfigur bildet den Typus des wohlwollenden alten Edelmanns mit dem Porträt des Dichters in Eins und gab so einen glücklichen Abschluß jener an bestimmten Grundmotiven so reich und mannichfaltig sich aufrankenden Romandichtung aus den letzten zwanzig Jahren des Dichters.

F. war sich überhaupt, wie das sich bei seiner ganzen Natur fast von selbst versteht, eine interessante Persönlichkeit. Gewisse Gegensätze seines Wesens waren ihm wohl bekannt. Ein echter Berliner neigte er ebenso zu einer gewissen „Ueberheblichkeit“ (eins seiner Lieblingsworte) und Unbedingtheit im Ausdruck wie zu einer sehr genauen und auch wol zu skeptischen Abschätzung seiner selbst; beides ward dann leicht in der Form eines halb ironisch, halb dictatorisch hingesprochenen allgemeinen Satzes vermittelt. Der Sohn sehr verschieden gearteter Eltern hat er für den liebenswürdigen Leichtsinn des Vaters immer Sympathien gehegt, sich aber dem strengen Urtheil der Mutter, wohin das führen müsse, nicht verschließen können; das bestimmt den typischen Verlauf seiner Romane und den tragischen Ausgang ihrer sympathischen, aber schwachen Helden und Heldinnen. Zum Adel und zum Bürgerthum, zum Heer und zu den Schriftstellerkreisen, zu dem Zauber des „großen Moments“ und dem Reiz der Anekdote, zu dem Eindruck bedeutender Heroen (sein letztes Gedicht galt Bismarck) und der Lehre, daß die kleinen Dinge und Personen in der Geschichte entscheiden, fühlt er sich hingezogen und von all diesen Dingen [624] auch wieder in zweifelnde Stimmung versetzt; das gibt seinen Büchern die ungemein persönliche Beleuchtung bei aller Objectivität in der Schilderung der Vorgänge. Der Entstehung dieser eigenartigen Persönlichkeit ist er auch selbst in zwei autobiographischen Büchern nachgegangen: „Meine Kinderjahre“ (1893) und „Von Zwanzig bis Dreißig“ (d. h. von Fontane’s zwanzigstem bis dreißigstem Jahr; 1898). Das erste Werk schildert in anschaulichstem Ausmalen die Entstehung seiner Eigenart, scheinbar ganz unabsichtlich, scheinbar nur auf äußern Dingen verweilend, das zweite in Composition und Form nicht ganz so gelungen, etwas absichtlicher das Werden des Dichters Fontane. Das Beste in seinem Wesen hat der im Herzensgrund tiefbescheidene Mann freilich nicht hervortreten lassen können: die reine Güte eines menschenfreundlichen und menschenfreudigen Herzens, dessen mild versöhnliche Moral nicht auf laxen Principien, sondern auf der innigen Ueberzeugung von unser aller Schwäche und Hülfsbedürftigkeit beruht. Selbst fest, pflichttreu und unabhängig durchs Leben schreitend war er Jüngeren gern ein freundlicher Berather, in reizend persönlichen Briefen wie in unvergleichlicher Plauderei Kritiker und Helfer zugleich. Noch der ganz neuen ultrarealistischen Art des jungen Gerhard Hauptmann kam er liebevoll entgegen. Der erste eigentliche Großstädter in unserer Litteratur hat er die Legende von dem kaltverständigen Egoismus des „Berlinerthums“ siegreich zerstört und einer neuen Art der Darstellung wie einer neuen Anschauung der Dinge mit fast spielender Genialität zum Durchbruch verholfen.

Neben zahlreichen Nekrologen u. s. w. in den Zeitungen vgl. besonders Erich Schmidt, Gedenkrede, Deutsche Rundschau, November 1898; Otto Brahm, Neue Deutsche Rundschau X, 1; P. Schlenther, Biographisches Jahrbuch III, 296 f.; Richard M. Meyer, Deutsche Litteratur des 19. Jahrh. (2. Aufl.), S 469 f.; Franz Servaes, Th. F. (Abdruck aus dem „Pan“), Berlin 1900.