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Artikel „Escher, Alfred“ von Wilhelm Oechsli in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 415–429, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Escher,_Alfred&oldid=- (Version vom 14. Oktober 2024, 20:30 Uhr UTC)
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Escher: Johann Heinrich Alfred E., schweizerischer Staatsmann, geboren am 20. Februar 1819 in Zürich, † daselbst am 6. December 1882. Escher’s Familie gehörte zu den ältesten und angesehensten Zürichs; doch hatte der Großvater Hans Caspar E. († 1831 in St. Petersburg) sein Vermögen eingebüßt, war deshalb in russische Dienste getreten und hatte als Cavallerieofficier die Feldzüge gegen Napoleon mitgemacht; zwei seiner Söhne fielen 1807 in der Schlacht bei Friedland. Ein dritter Sohn, Heinrich E. (1776 bis 1853), ging nach den Vereinigten Staaten, wo er als Agent der Häuser Baring in Amsterdam und Rougemont in Paris, später auf eigene Rechnung in Ländereien, Baumwolle etc. glückliche Geschäfte machte. Als reicher Mann kehrte er 1814 nach Zürich zurück, verheirathete sich hier mit Lydia Zollikofer von Schloß Hardt im Thurgau († 1868), baute sich das schöne Landgut Belvoir in Enge bei Zürich und lebte fortan der Familie, der Kunst und Wissenschaft. Eine von ihm angelegte große entomologische Sammlung ging 1858 durch Schenkung an das eidgenössische Polytechnikum über. Aus der Ehe gingen 1816 eine Tochter, Clementine, und 1819 ein Sohn, Alfred, hervor.

In den glücklichsten Verhältnissen aufwachsend, erhielt der Knabe den ersten Unterricht mit der Schwester zu Hause; unter seinen Privatlehrern befanden sich der Naturforscher Oswald Heer und der Theologe Alexander Schweizer, beide hernach wissenschaftliche Zierden der Schweiz. Im Frühjahr 1834 trat er in das Obergymnasium ein, wo der treffliche Philologe Hans Kaspar Orelli sein einflußreicher Lehrer war, und Ostern 1837 bezog er als studiosus juris die Zürcher Hochschule, wo er das Glück hatte, Meister seines Faches, wie Friedrich Ludwig Keller, Johann Kaspar Bluntschli und Karl Gustav Geib, als Professoren zu finden. Als Mitglied der schweizerischen Studentenverbindung „Zofingia“ legte er den Grund zu seinen über die ganze Schweiz ausgebreiteten persönlichen Beziehungen, die später dem Staatsmann zu statten kamen, und bewies schon damals seine Gabe zu „herrschen“; 1839 ward er zum Präsidenten der Section Zürich und 1840 zum Centralpräsidenten der ganzen Verbindung ernannt. Das Studium in Zürich wurde 1838/39 durch zwei in Bonn und Berlin verbrachte Semester unterbrochen und erhielt 1842 seinen Abschluß, indem E. am 17. September auf Grund einer Dissertation „De testium ratione quae Romae Ciceronis aetate obtinuit“ [416] (Zürich 1842) promovirte, als erster Doctor j. u. der jungen Zürcher Rechtsfacultät. Nachdem er sich hierauf während eines einjährigen Aufenthaltes in Paris auch im westlichen Nachbarland umgesehen, habilitirte er sich im Frühling 1844 als Privatdocent für Staatswissenschaften in Zürich und hielt sieben Semester hindurch Vorlesungen über Civilproceß und Bundesstaatsrecht der Schweiz. Bald wurde er jedoch der akademischen Lehrthätigkeit durch die praktische Politik entfremdet, zu der ihn seine Begabung wie das ihm in ungewöhnlichem Maaße entgegenkommende Vertrauen seiner Mitbürger hindrängte.

Escher’s Eintritt in das öffentliche Leben fiel in die sturmbewegte Sonderbundsperiode, wo durch die Freischarenzüge der Radicalen gegen das Jesuitenregiment in Luzern und durch die Bildung des Sonderbundes der clericalen Kantone die Parteigegensätze bis zum Bürgerkrieg erhitzt waren und die Zukunft der Schweiz auf dem Spiele stand. Im Kanton Zürich speciell rangen die durch den Septemberputsch von 1839 ans Ruder gelangten Conservativen und die damals verdrängten Liberalen mit Aufbietung aller Kräfte um die Herrschaft, weil von der Stimmgebung der einzelnen Kantone das Schicksal der großen eidgenössischen Fragen abhing. In scharfem Gegensatz zu dem conservativ gesinnten Stadtbürgerthum, dem E. durch Geburt und sociale Stellung angehörte, schloß sich der junge Rechtsgelehrte aus voller Ueberzeugung der liberal-radicalen Partei an, in der er die Trägerin des nationalen Gedankens erblickte, und brachte ihr eine hervorragende Kraft zu, die der intelligente Führer der Zürcher Liberalen, Dr. Jonas Furrer von Wintertur, zu würdigen wußte. Kaum hatte E. das Alter der Wählbarkeit erreicht, so wurde er auf Betreiben seiner Winterturer Freunde von dem ländlichen Wahlkreis Elgg am 21. Juli 1844 in den Großen Rath des Kantons Zürich gesandt und half hier den ersten Sieg der Liberalen erringen, indem am 17. Decbr. an die Stelle des demissionirenden Bürgermeisters Muralt mit 99 gegen 97 Stimmen der liberale Dr. Zehnder gegenüber Dr. Bluntschli, dem Haupt der Conservativen, gewählt wurde. Mit Furrer und anderen liberalen Führern unterzeichnete E. einen Aufruf zur Veranstaltung einer Volksversammlung in Unterstraß auf den 26. Januar 1845, um die durch die ganze Schweiz gehende Antijesuitenbewegung auch in Zürich zu entfesseln, und am 5. Februar hielt er im Großen Rath seine Jungfernrede zur Unterstützung Zehnder’s, der im Gegensatz zur conservativen Regierungsmehrheit eine jesuitenfeindliche Instruction für die Tagsatzung beantragte. Zehnder’s Antrag ging durch und im April 1845 brach das conservative Regiment in Zürich vollends zusammen; die gesetzliche Drittelserneuerung der Regierung fiel zu Gunsten der Liberalen aus, Bluntschli und Bürgermeister Mousson, die Führer der bisherigen Regierungesmehrheit, nahmen ihre Entlassung und Jonas Furrer wurde zum Amtsbürgermeister gewählt. Seit diesem Umschwung stieg E. mit beispielloser Raschheit empor. Am 3. April 1845 wurde er neben den beiden Bürgermeistern zum dritten Tagsatzungsgesandten, am 24. April in den Rath des Innern, im Juni wieder zum dritten Tagsatzungsgesandten, im December in den Erziehungsrath und daneben in die wichtigsten Commissionen des Großen Rathes gewählt. 1846 wurde er abermals dritter Tagsatzungsgesandter und Vicepräsident des Großen Rathes. Am 29. Juni 1847 wählte ihn die Regierung zum Staatsschreiber und im December der Große Rath, dessen jüngstes Mitglied er war, zu seinem Präsidenten; im Juli hätte ihn die Tagsatzung zum eidgenössischen Staatsschreiber ernannt, wenn die Zürcher sich nicht gesträubt hätten, ihn der Eidgenossenschaft abzutreten.

[417] Auf der Tagsatzung wie zu Hause gehörte E. zu den entschiedensten Gegnern des Sonderbundes. Als durch die Niederwerfung der Sonderbundskantone im November 1847 die Bahn für eine Umgestaltung des allzulockern schweizerischen Staatenbundes gebrochen war, sprach er sich als Großrathspräsident am 28. März 1848 in einer bedeutenden Eröffnungsrede unumwunden für die Einführung des Einheitsstaates aus: „Ist der Staat, der das Unglück hat klein zu sein, wie die Schweiz, nicht dadurch schon genug gehemmt? Sollen diese Hemmnisse dadurch, daß man ihn in 25 Stäätchen zerfallen läßt, verzwanzigfacht werden? Oder besitzen wir einen solchen Ueberfluß an Intelligenzen, daß wir sie in eine schweizerische Regierung nicht unterbringen können, daß wir 25 Regierungen bedürfen, um sie alle gehörig zu bethätigen?“ Der neue Bundesverfassungsentwurf, wie er von der Tagsatzungscommission am 8. April 1848 fertig gestellt wurde, befriedigte ihn daher keineswegs; bei der Eröffnung der Großrathssitzung am 11. Mai warf er ihm vor, daß er nicht grundsätzlich sei, mit der Centralisation auf halbem Wege stehen bleibe. Doch war E. viel zu sehr Staatsmann, um das erreichbare Gute über einem unerreichbaren Ideal in den Wind zu schlagen. Als die Kantone sich endgültig über Annahme oder Verwerfung der neuen Bundesverfassung schlüssig zu machen hatten, wiederholte er zwar bei der Eröffnung der Großrathssitzung am 21. Juli seine Bedenken, empfahl aber die Annahme, weil der Entwurf doch einen mächtigen Schritt in der Richtung auf den Einheitsstaat bedeute, und trug so zu der einmüthigen Genehmigung durch den Großen Rath des Kantons Zürich bei. Später wurde E. aus einem Unitarier ein überzeugter Anhänger der bundesstaatlichen Formen, denen die Schweiz ein vorher nie gekanntes Glück verdankte; manches von dem, was er in der Verfassung von 1848 vermißte, ist übrigens durch die späteren Bundesrevisionen nachgeholt worden.

Mittlerweile war E. auf der Staffel der republikanischen Ehren höher und höher gestiegen. Am 27. Juni 1848, vier Monate, nachdem er das Alter der Wählbarkeit erreicht, wählte ihn der Zürcher große Rath zum Mitglied der Regierung und zum zweiten Tagsatzungsgesandten. Im September ernannte ihn die Tagsatzung neben dem Landammann Munzinger von Solothurn zum eidgenössischen Repräsentanten im Kanton Tessin, dessen Regierung sich durch unkluge Begünstigung der italienischen Erhebung in Schwierigkeiten mit dem österreichischen Feldmarschall Radetzky gestürzt hatte. Das stramme Auftreten der beiden Repräsentanten, welche zur Aufrechterhaltung stricter Neutralität die Bewachung der Grenze mit eidgenössischen Truppen und die Internirung der italienischen Flüchtlinge im Innern der Schweiz anordneten, mißfiel zwar im Tessin, fand aber die Billigung der Bundesbehörden und hatte auch eine Milderung der von Radetzky gegen den Tessin verhängten Maßregeln zur Folge.

Am 15. October 1848 wurde E. vom ersten eidgenössischen Wahlkreis (Zürich) zum Mitglied des neugeschaffenen schweizerischen Nationalraths gewählt, der ihn sofort zu seinem Vicepräsidenten ernannte. Am 27. December wurde er in Zürich an Stelle des in den Bundesrath gewählten Jonas Furrer zum Amtsbürgermeister und am 16. April 1849 vom Nationalrath zu seinem Präsidenten erhoben. Damit hatte der Dreißigjährige auf kantonalem und eidgenössischem Boden die Stufen erklommen, die er überhaupt erreichen konnte und wollte. Da im schweizerischen Bundesrath nur ein Mitglied aus einem Kanton sitzen durfte, so war in der Bundesregierung für ihn neben Furrer kein Platz. In spätern Jahren hing es lediglich von seinem Willen ab, in [418] den Bundesrath und zum Bundespräsidenten gewählt zu werden. E. verzichtete auf diese höchste Ehre, die einem Schweizer zu Theil werden kann, weil er sich inzwischen mit seinen Eisenbahn- und Bankunternehmungen Verpflichtungen aufgeladen hatte, und sich überhaupt nicht entschließen konnte, sein geliebtes Belvoir mit einem Wohnsitz in der Bundesstadt zu vertauschen.

In wenig Jahren war Alfred E. das unbestrittene Haupt des Kantons Zürich und in wenig Monaten der einflußreichste Mann in der Bundesversammlung geworden. Vornehme Geburt, Reichthum, imponirende Erscheinung, allezeit bereite Schlagfertigkeit der Rede, gründliche, vielseitige Kenntnisse, fester Wille, unermüdliche Arbeitslust, Alles traf bei ihm zusammen, um ihn über seine Mitstrebenden empor zu heben. Im September 1847 schrieb Gottfried Keller bewundernd von ihm in sein Tagebuch: „Der Sohn eines Millionärs unterzieht er sich den strengsten Arbeiten vom Morgen bis zum Abend, übernimmt schwere, weitläufige Aemter in einem Alter, wo andere junge Männer von fünf- bis achtundzwanzig Jahren, wenn sie seinen Reichthum besitzen, vor allem nur das Leben genießen. Man sagt zwar, er sei ehrgeizig. Mag sein; es zeichnet nur eine bestimmtere Gestalt“. Als Redner riß E. weniger hin als daß er überzeugte; sein Vortrag war nüchtern, aber stets voll Geist und zwingend durch seine Logik und Sachkenntniß. Die Klarheit seines Denkens, die Gewissenhaftigkeit, womit er alle an ihn herantretenden Fragen bis ins letzte Detail prüfte, die vornehme Ruhe, die er den Gegnern gegenüber zu bewahren wußte, machten ihn auf lange hinaus zum ersten Parlamentarier der Schweiz, der fast immer seines Sieges sicher war. Freilich lag in der frühzeitigen Gewöhnung an unbestrittene Geltung auch die Gefahr der Verwöhnung; es wurde dem selbstbewußten Manne schwer, Widerspruch zu ertragen, selbständige Naturen in seiner Umgebung zu dulden. Immerhin sind die Vorwürfe, die in dieser Beziehung gegen E. erhoben wurden, übertrieben. Er war es, der eine Kraft wie Dubs hervorzog, und es kennzeichnet die Weitherzigkeit der von ihm geleiteten liberalen Regierung, daß sie ihren bedeutendsten conservativen Gegner, den nach München übergesiedelten Bluntschli, mit der großen Aufgabe der Codification des zürcherischen Rechtes betraute. Ebenso war er es, der 1856 die Wahl Treichler’s, des begabten Führers der socialistisch-demokratischen Opposition im Kanton Zürich, in die Regierung durchsetzte, weil er wußte, daß es für gescheite Utopisten kein besseres Heilmittel gibt, als ihre Heranziehung zur praktischen Bethätigung im Staate.

Als Bürgermeister von Zürich führte E. 1849 eine wichtige Partialrevision der Kantonsverfassung durch, die den Gemeinden die freie Wahl der Pfarrer und Lehrer übertrug, anderseits die Regierungsgewalt verstärkte und concentrirte, indem sie die Mitgliederzahl des Regierungsrathes auf neun reducirte und an Stelle des altherkömmlichen schwerfälligen Collegialsystems das Directorialsystem einführte, wonach die Leitung der verschiedenen Verwaltungszweige nicht mehr durch Collegien, sondern durch einzelne Regierungsmitglieder besorgt wurde. Bei diesem Anlaß wurde auch das ehrwürdige Bürgermeisteramt, das E. als der letzte bekleidete, in das eines bloßen „Regierungspräsidenten“ verwandelt. Gleichzeitig wurde der Erziehungs- und Kirchenrath neu organisirt und in größere Abhängigkeit von der Regierung gebracht. Von den ständigen Directionen übernahm E. das Erziehungswesen und war als Erziehungsdirector für ökonomische Besserstellung der Lehrer, sowie für Hebung namentlich des höhern Schulwesens mit Erfolg bemüht. Als Regierungspräsident arbeitete er sich aber auch in die wichtigeren Geschäfte der andern Departements hinein und hielt so die Fäden der ganzen Verwaltung in seiner kräftigen Hand.

[419] Wie im Kanton, so war E. auf dem weitern Felde der eidgenössischen Politik ein rastloser Arbeiter. Unter den Begründern des schweizerischen Bundesstaates steht er als gewandter Vorsitzender des Nationalraths, als Verfasser wichtiger Gesetzesentwürfe, als maßgebendes Mitglied und regelmäßiger Berichterstatter der bedeutendsten nationalräthlichen Commissionen neben den Mitgliedern des ersten Bundesrathes, den Furrer, Druey etc., in vorderster Linie. „Als Berichterstatter in der Berathung über das Zollgesetz“, schreibt 1851 ein Ohrenzeuge, „verfocht er in stundenlangen, die genaueste Kenntniß der Sache, wie sie sonst eigentlichen Fachmännern eigen ist, verrathenden Vorträgen die Vorschläge der Commission. Nicht weniger Vertrautheit mit Geschäften verrieth er bei der Berathung des Postgesetzes.“ In das Amtsjahr 1849/50, in dem er dem Nationalrath zum ersten Mal präsidirte, fielen nicht weniger als 126 Sitzungen, und die „Thronreden“, mit denen er jeweilen die Sitzungsperioden eröffnete und schloß, sind historische Documente, die das bereits Erreichte und die der Lösung noch harrenden Aufgaben wie die Grundsätze der eidgenössischen Politik überhaupt in markigen Zügen feststellten. Im ganzen lieh E. als anerkannter Führer der gemäßigten Radicalen in der Bundesversammlung dem Bundesrath gegen die Angriffe von Rechts und Links eine sichere Stütze, besonders in Fragen der äußeren Politik und des Asylrechts, indem er auf correcte Erfüllung aller Pflichten des Völkerrechts und der Neutralität, aber ebenso sehr auf entschiedene Abweisung aller mit der Landesehre unvereinbaren Zumuthungen des Auslands drang. Gegenüber den Fremden und Einheimischen, die kraft der „Völkersolidarität“ eine republikanische Propaganda der Schweiz nach außen verlangten, rief er, durch die Macht des Beispiels allein könne die Schweiz der heiligen Sache der Freiheit Vorschub leisten; das Princip der Selbsterhaltung verbiete ihr, eine andere Politik zu verfolgen.

Mitunter freilich fand er es für nothwendig, dem Bundesrath, wenn er ihn allzu ängstlich sah, eine entschlossenere Haltung vorzuschreiben, „vormundschaftliche Befugniß über ihn auszuüben“, wie die Gegner spotteten. So riß er, als der Bundesrath sich für incompetent erklärte, gegen die intoleranten Eheverbote gewisser katholischen Kantone einzuschreiten, die Bundesversammlung trotz der leidenschaftlichen Proteste der schweizerischen Bischöfe und ihrer Gefolgschaft zum Erlaß des Gesetzes zum Schutze gemischter Ehen vom 3. December 1850 hin, einem bahnbrechenden Schritte zur Loslösung des Eherechts von kirchlichen Gesichtspunkten. E. war auch der Urheber des wichtigen Nationalrathswahlgesetzes vom 21. December 1850, das von den Clericalen und protestantischen Conservativen heftig angegriffen wurde, weil es statt der von ihnen verlangten Einerwahlkreise Wahlkreise zu vier Abgeordneten als Regel aufstellte und sie nach ihrem Dafürhalten zu Gunsten der Liberalen zuschnitt. Mochte der Vorwurf der „Wahlgeometrie“ begründet sein oder nicht, jedenfalls war E. im Recht, wenn er einen wirklichen Nationalrath und keine „Philisterversammlung“ wollte, wie sie aus bloßen Kirchthurmskreisen hätte hervorgehen müssen.

Eine für ihn und das Land verhängnißvolle Stellung nahm E. in der Eisenbahnfrage ein. Er gehörte zu den ersten, welche die Bedeutung des großartigen Verkehrsmittels für die Schweiz ganz und voll erkannten. In seiner Präsidialrede vom 12. November 1849 wies er auf die Nothwendigkeit raschen Handelns hin, wenn die Schweiz nicht vom Weltverkehr abgeschnitten werden wolle, und am 12. December stellte er an der Spitze von 14 Mitgliedern des Nationalraths die Motion, der Bundesrath sei einzuladen, mit möglichster Beförderung den Plan zu einem schweizerischen Eisenbahnnetz unter [420] Zuziehung unbetheiligter Experten, den Entwurf zu einem Expropriationsgesetz und Anträge betreffend Betheiligung des Bundes an den Eisenbahnbauten, bezw. die Concessionsbestimmungen für den Fall der Erstellung der Eisenbahnen durch Privatgesellschaften vorzulegen. Die Motion wurde erheblich erklärt und E. zum ersten Mitglied der nationalräthlichen Commission ernannt, welche die Vorlagen des Bundesrathes zu prüfen hatte. Der Bundesrath entschied sich im Einklang mit den von ihm angerufenen Experten, dem berühmten englischen Ingenieur Robert Stephenson, dem Volkswirthschafter Geigy von Basel und dem Ingenieur Ziegler von Wintertur, für den Staatsbau durch Bund und Kantone und die Mehrheit der Nationalrathscommission ging mit ihm einig. E. dagegen verfocht an der Spitze der Commissionsminderheit das System des Privatbaus; sein Antrag siegte am 8. Juli 1852 im Nationalrath mit 68 von 91 Stimmen und der Ständerath pflichtete bei. So entstand das erste schweizerische Eisenbahngesetz vom 28. Juli 1852, das den Bau und Betrieb von Eisenbahnen den Kantonen, bezw. den von diesen concessionirten Privatgesellschaften überließ und dem Bund nur ein verclausulirtes Recht der Genehmigung der Concessionen ließ. Die Schweiz hat mit diesem Gesetz, das den Gesammtstaat im Eisenbahnwesen lange zur kläglichsten Ohnmacht verurtheilte, die bittersten Erfahrungen gemacht, und es hat ihr ungeheure Anstrengungen gekostet, den Fehlschritt, den sie 1852 gethan, ein halbes Jahrhundert später wieder gut zu machen. Die Hauptverantwortlichkeit fällt zweifellos auf E.; hätte er seinen mächtigen Einfluß zu dem des Bundesrathes und der Commissionsmehrheit in die Wagschale geworfen, so würde der Staatsbau 1852 Gesetz geworden sein. Was den einstigen Unitarier zu seiner ablehnenden Haltung bewog, war im Grunde nichts anderes als der Standpunkt des Zürchers, den die Wahl Berns zum Bundessitz für die Zukunft seiner Vaterstadt besorgt gemacht hatte. Er fürchtete, dieselbe Coalition der Bundesversammlung, die Zürich um seine alte vorörtliche Stellung gebracht, werde für die West- und Mittelschweiz aus Staatsmitteln Linien decretiren, und dann nach Erschöpfung des Bundescredits für die östlichen Kantone wenig oder nichts mehr übrig lassen.

Ein weiteres Motiv Escher’s war die Hoffnung, daß der junge Bund, wenn er seine Gelder nicht im Eisenbahnbau festlege, die nöthigen Mittel für die Gründung einer eidgenössischen Hochschule in Zürich behalte, die ihm als die „schönste schweizerische Culturfrage“ ganz besonders am Herzen lag. Als Bern Bundesstadt wurde, galt es als ausgemacht, daß Zürich für die verlorene Vorortschaft mit der in der Bundesverfassung vorgesehenen eidgenössischen Universität werde entschädigt werden, und E. wurde nicht müde, bei jeder Gelegenheit auf diese „Ehrenschuld, welche die aus der neuen Bundesverfassung hervorgegangene Behörde der schweizerischen Jugend so bald als möglich abzutragen habe“, hinzuweisen. 1851 arbeitete er als Mitglied einer vom Bundesrath niedergesetzten Expertencommission zwei Gesetzesentwürfe betreffend Errichtung einer eidgenössischen Hochschule und eines Polytechnikums aus, auf die sich die Vorschläge des Bundesraths aufbauten. Aber von allen Seiten erhob sich offene und verdeckte Opposition gegen die eidgenössische Universität in Zürich. Die Berner, Basler, Genfer hatten keine Lust, ihre hohen Lehranstalten zu Gunsten Zürichs aufzuopfern, die Ultramontanen erblickten in der Centralisation des höheren Unterrichts eine Gefahr für den Katholicismus, die Welschen für ihr romanisches Volksthum. Nachdem die Angelegenheit Jahre hindurch verschleppt worden war, beantragte die Minderheit der vom Nationalrath bestellten Commission im Januar 1854 wieder Verschiebung auf unbestimmte Zeit. E. bekämpfte als Sprecher der Commissionsmehrheit [421] in glänzender Rede diese verhüllte Beerdigung einer großen Idee und erreichte soviel, daß der Nationalrath nach langer Redeschlacht am 29. Januar 1854 mit 59 gegen 39 Stimmen die Gründung der Universität sammt Polytechnikum in Zürich beschloß. Aber der Ständerath lehnte am 1. Februar mit 27 gegen 15 Stimmen das Eintreten in den Nationalrathsbeschluß ab und willigte mit knapper Noth in die Errichtung des eidgenössischen Polytechnikums, worauf dem Nationalrath nichts übrig blieb als diesem Beschlusse beizutreten, um wenigstens etwas zu retten. Das Polytechnikumsgesetz vom 7 Februar 1854 fußt ganz auf dem Entwurfe Escher’s; er wurde auch vom Bundesrath am 2. August 1854 zum Vicepräsidenten des eidgenössischen Schulrathes, der die neue Anstalt zu leiten hatte, ernannt und trug in dieser Stellung viel zu ihrem raschen Aufblühen bei.

Inzwischen war der Gelehrte und Politiker wider seine persönliche Neigung auf ein Feld abgedrängt worden, auf dem ihm reichliche Lorbeeren, aber auch unendliche Dornen erwachsen sollten. Um den Beweis zu leisten, daß die Schweiz auch mit dem System des Privatbaus zu den nothwendigen Eisenbahnen komme, stellte sich E. an die Spitze einer „Zürich-Bodenseebahngesellschaft“, die sich im Januar 1858 constituirte und noch im Laufe des gleichen Jahres sich mit der „Nordbahn“ (Zürich–Baden), dem einzigen bereits bestehenden Eisenbahnunternehmen der Schweiz, zur „Schweizerischen Nordostbahn“ verschmolz. Am 12. September 1853 wählte die Generalversammlung der Nordostbahn E. zum Präsidenten der Direction. Auch bei dieser Schöpfung hatte er nur das Landeswohl im Auge; aber es kennzeichnete doch die schiefe Stellung, in die er gerieth, daß er einen Vertrag über die Concession, die der Gesellschaft ertheilt wurde, in der doppelten Eigenschaft als Regierungspräsident des Kantons Zürich und als Präsident der Nordostbahn zu unterzeichnen hatte.

Unter einer so außerordentlichen Arbeitslast, wie sie E. sich aufgebürdet hatte, hätte die stärkste Gesundheit ins Wanken gerathen müssen. Im Mai 1855 warf ihn eine schwere typhöse Erkrankung darnieder. Das hartnäckig andauernde Leiden bewog ihn, zur Bestürzung der liberalen Partei, am 30. September die Entlassung als Mitglied und Präsident der Zürcher Regierung zu nehmen. Fortan widmete er seinem Schoßkind, der Nordostbahn, die sich unter seiner Leitung zu der bestverwalteten der Schweiz aufschwang und immer neue Linien eröffnete, sowie einem zweiten wirthschaftlichen Unternehmen, der von ihm 1856 gegründeten schweizerischen Creditanstalt in Zürich, die ihn am 14. Juli zum Präsidenten des Verwaltungsrathes ernannte, seine beste Kraft. „Diese Anstalt“, sagt E. in seinen autobiographischen Aufzeichnungen mit Recht, „hat dem Platze Zürich eine finanzielle Bedeutung gegeben, die er vorher entfernt nicht hatte; sie hat auch zur Befruchtung der Industrie und Gewerbethätigkeit in Zürich und in der ganzen Ostschweiz wesentlich beigetragen“. Wenn man trotzdem das Bedauern nicht unterdrücken kann, daß die Leitung von Eisenbahnen und Banken, wofür es in der Schweiz an Leuten nicht gemangelt hätte, den Staat einer solchen Kraft beraubte, so ist anderseits E. dadurch zu einem gewaltigen Werk geführt worden, mit dem sein Name immerdar verknüpft bleiben wird, zur Gotthardbahn.

Die schweizerischen Alpenbahnprojecte sind so alt, als das schweizerische Eisenbahnwesen überhaupt. Lange stand der von dem Graubündner Ingenieur La Nicca schon 1845 aufgebrachte Plan der Ueberschienung des Lukmanier im Vordergrund, weil er die geringsten technischen Schwierigkeiten zu bieten schien; ein 1861 mit Italien zur Ausführung der Lukmanierbahn bereits abgeschlossener Vertrag wurde nur deshalb nicht perfect, weil eine darin ausbedungene [422] Caution nicht rechtzeitig geleistet werden konnte und die italienische Regierung den Vorwand ergriff, um sich die Freiheit zur Prüfung eines jüngeren Projectes zurückzunehmen. Letzteres betraf den St. Gotthard, auf den zuerst der Ingenieur Gottlieb Koller von Wintertur in einem Gutachten von 1851 hingewiesen, zu dessen Gunsten sich 1853 eine zu Luzern versammelte Conferenz von acht mittelschweizerischen Kantonen ausgesprochen, aber erst 1860 ein Comité sich gebildet hatte, das durch den Zürcher Ingenieur Wetli die ersten Pläne und Profile ausarbeiten ließ und mit Turin Verhandlungen anknüpfte. Noch immer schien indeß der Lukmanier weitaus die meisten Aussichten für sich zu haben, als E. sich des Gotthardprojectes annahm und unter seinem Einfluß der Kanton Zürich und die Nordostbahn sich den Beförderern desselben anschlossen. „Das Zustandekommen einer schweizerischen Alpenbahn“, schreibt E., „erschien mir von Tag zu Tag wichtiger und dringlicher. Es wurde mir immer klarer, daß die Schweiz ohne eine den Wall ihrer Alpen durchbrechende Eisenbahn zu einem von dem großen Weltverkehr umgangenen und verlassenen Eilande herabsinken müßte. Und hinwieder erwog ich, welch reichen Gewinn die Gotthardbahn, die, zum Unterschiede von den concurrirenden Alpenbahnprojecten inmitten der Eidgenossenschaft liegend und sie auf langer Strecke durchbrechend, zu einer der wichtigsten Handelsstraßen für einen bedeutenden Theil der civilisirten Welt werden muß und die im Fernern dazu angethan ist, die Schweiz auf dem kürzesten Wege mit Italien und dem Oriente zu verbinden, der geistigen und materiellen Entwicklung unseres Landes bringen würde. Also Anstrebung der Gotthardbahn mit Aufbietung aller Kräfte!“

Fortan wurde E. die Seele des Unternehmens und betrieb es mit der ihm eigenen Energie. Nach seinem Plane bildete sich am 8. August 1863 unter dem Vorsitz des Luzerner Regierungsrathes Zingg eine „Gotthardvereinigung“, welcher dreizehn Kantone und die zwei bedeutendsten Eisenbahngesellschaften der Schweiz, die Centralbahn und Nordostbahn, beitraten, mit einer ständigen Commission und einem geschäftsleitenden Siebenerausschuß an der Spitze. Als Mitglied dieses Ausschusses entfaltete E., unterstützt von einem Stab eifriger Mitarbeiter, wie Zingg von Luzern, Stoll von Zürich, Feer-Herzog von Aarau, Stehlin von Basel u. A., eine rastlose und umsichtige Thätigkeit zur Ueberwindung der ungeheuren Schwierigkeiten, die sich dem Unternehmen entgegenthürmten. Das größte lag freilich in der von E. selbst verschuldeten Ohnmacht des Bundes in Eisenbahnangelegenheiten; in einer Frage, die für das Land vom volkswirthschaftlichen, politischen und militärischen Gesichtspunkt aus gleich wichtig war, durfte die schweizerische Regierung zum Erstaunen des Auslands keine eigene Meinung äußern, mußte sie alles den Rivalitäten der Kantone und Parteien, sowie dem Gutfinden der fremden Mächte überlassen. Zu dem Lukmanier- und Gotthardproject gesellte sich noch ein drittes über den Simplon, und die Anhänger dieser verschiedenen Projecte, bezw. die dabei interessirten Kantone befehdeten sich im In- und Ausland mit all der Zähigkeit, wie sie die Schweizer von jeher gegen einander zu entfalten pflegten. In der Presse, in den Rathsälen, in den finanziellen Kreisen, in den Büreaus der fremden Ministerien wogte der Kampf offen und im geheimen Jahre lang hin und her. Weder die „Lukmanierpartei“ (St. Gallen, Graubünden, Glarus, Appenzell, Vereinigte Schweizerbahnen) noch die „Simplonpartei“ (Waadt, Wallis, Genf, Ligne d’Italie) konnte für sich allein der Gotthardvereinigung die Waage halten, aber, durch gemeinsame Gegnerschaft verbündet, waren sie stark genug, die Anstrengungen jener auf Schritt und Tritt zu durchkreuzen und insbesondere zu verhindern, daß der [423] Bund seine moralische oder gar finanzielle Unterstützung dem Gotthardproject zuwende.

In diesem Interessenkampfe bewährte G. seine überlegene Meisterschaft. Der von ihm geleitete Gotthardausschuß machte Vorstoß auf Vorstoß. Er ließ durch die ersten Autoritäten des In- und Auslands eine Reihe gründlicher Denkschriften abfassen, die das Gotthardproject in technischer, volkswirthschaftlicher und militärisch-politischer Beziehung beleuchteten, er vervollständigte Pläne und Kostenberechnungen und knüpfte diplomatische Verhandlungen mit dem Ausland an; denn man war sich darüber klar, daß das Riesenwerk nicht ohne bedeutende Subventionen der mitinteressirten Staaten zu Stande kommen konnte. Nach einer vorläufigen Berechnung sollten Italien 35, die Schweiz 20, Deutschland 15 Mill. Frcs. beitragen. In der Schweiz war angesichts der heftigen Opposition der Ost- und Westschweiz an eine Unterstützung durch den Bund nicht zu denken, die 20 Millionen mußten ganz von den Kantonen und Eisenbahngesellschaften der Gotthardvereinigung aufgebracht werden und wurden bis Frühjahr 1866 unter endlosem Markten größtentheils gesichert. In Italien lief das Gotthardcomité trotz den verzweifelten Anstrengungen der Gegner seinen Concurrenten sichtlich den Rang ab; eine vom Bautenminister Jacini bestellte Commission sprach sich 1865 zu Gunsten der Gotthardbahn aus, worauf die Regierung sich bereit erklärte, im Parlament eine Subvention zu beantragen. In Deutschland war die Stimmung anfänglich wenig günstig; Baiern betrieb das neue Project einer Splügenbahn und Baden war für den Lukmanier, bis das Wirken des Gotthardausschusses sich auch hier geltend machte. Seit October 1865 sprachen sich eine Reihe preußischer Handelskammern, namentlich am Rheine, für die Subventionirung der Gotthardbahn aus. E. unterhielt mit dem badischen Minister v. Roggenbach 1864/65 lebhaften Verkehr und hatte im Spätsommer 1865 zu Baden-Baden eine Begegnung mit Bismarck. Das Ergebniß war, daß die badische Regierung im Januar 1866 an Preußen die Einladung richtete, eine Conferenz der betheiligten deutschen Staaten zur Verständigung über die Subventionsfrage zu veranstalten.

So schien alles schon im besten Gange, als der Krieg von 1866 das Werk wieder für längere Zeit in den Hintergrund drängte. In der Schweiz selbst erstanden ihm neue Schwierigkeiten, indem der Kanton Tessin sich durch die Intriguen internationaler Speculantengesellschaften verleiten ließ, aus der Gotthardvereinigung auszutreten und ihr die begehrten Concessionen zu verweigern. Jeder Schritt des Bundesrathes zur Förderung des Werkes wurde von den zahlreichen Gotthardgegnern der Ost- und Westschweiz zum voraus als Verfassungs- und Gesetzesverletzung verschrieen. Umgekehrt stellten sich Italien und die deutschen Staaten auf den Standpunkt, daß sie keinerlei Verpflichtungen eingehen könnten, so lange die Schweiz über die Wahl des Passes selber nicht im klaren sei. So trieb sich die Gotthardfrage Jahrelang im Cirkel herum und gerieth, wie die Gegner frohlockten, in das Stadium der „Versumpfung“. Da erfolgten endlich am 31. März 1869 übereinstimmende Erklärungen des Norddeutschen Bundes und Italiens an den Bundesrath, daß sie sich definitiv für den Gottharddurchstich entschieden hätten und nur für diesen eine Subvention in Aussicht stellen könnten, indem sie zugleich die schweizerische Regierung ersuchten, nunmehr die Initiative zu ergreifen und ein bestimmtes Project zu formuliren. In den gotthardfeindlichen Kreisen argwöhnte man, der Bundesrath habe diese Erklärung der Mächte, die den in der Schweiz unlösbar gewordenen Knoten durchhieb, provocirt. In der That hatte Bundespräsident Emil Welti, den die unwürdige Stellung der obersten [424] Landesbehörde in einer solchen Lebensfrage für die Schweiz in der Seele brannte, lange mit den Vertretern von Italien und Preußen in Bern, Melegari und General v. Röder, verhandelt, um ihre Regierungen zu einem solchen Schritt, der den inneren Streit über die Wahl der Linie mit einem Schlage erledigen würde, zu bewegen. Zuerst war es Welti gelungen, die Bedenken Italiens zu überwinden; dann hatten die italienischen Bemühungen ihrerseits, unterstützt von denen des preußischen Gesandten in Bern, den Erfolg, daß auf Bismarck’s eigenste Initiative der Norddeutsche Bund aus seiner Zurückhaltung heraustrat und sich mit Italien zu der gemeinsamen Action in Bern verständigte.

Jetzt, seit das Gotthardproject das allein mögliche geworden war, durfte der Bundesrath es endlich wagen, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten. Er lud die interessirten Staaten zu einer internationalen Conferenz ein, die unter Welti’s Vorsitz vom 15. September bis 18. October 1869 in Bern tagte und das Bauprogramm, sowie die Art der Beschaffung der Geldmittel feststellte. Von den auf 187 Mill. Frcs. berechneten Gesammtkosten sollten 102 Millionen durch das Privatcapital, 85 Millionen durch staatliche Subventionen – 45 Mill. von Italien, je 20 von der Schweiz und Deutschland – aufgebracht werden. Am 15. October 1869 schloß die Schweiz den bezüglichen Staatsvertrag mit Italien ab, dem am 20. Juni 1870 der Norddeutsche Bund, und am 28. October 1871 das an dessen Stelle getretene Deutsche Reich beitrat.

In der Schweiz erhob sich gewaltige Opposition gegen den so mühsam zu Stande gebrachten Gotthardvertrag, wiewol die 20 Millionen ohne jede finanzielle Mithülfe des Bundes von den betheiligten Kantonen, Städten und Bahngesellschaften getragen wurden; insbesondere wurde im Interesse der Landesvertheidigung seine Verwerfung verlangt, als ob der Bundesrath nicht alles gethan hätte, um die Stellung der Schweiz als eines unabhängigen, neutralen Staates im Vertrage zu sichern, und die militärpolitischen Bedenken, die mit einigem Recht geltend gemacht werden konnten, sich nicht gegen jeden Alpendurchstich überhaupt gerichtet hätten. Doch wurde der Vertrag von der Bundesversammlung im Juli 1870, unmittelbar vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, genehmigt. Im Juni 1871 erfolgte die Ratificirung durch das italienische Parlament, am 5. November 1871 diejenige durch den Deutschen Reichstag. Mittlerweile hatte E. nach langwierigen Verhandlungen in Berlin am 10. October 1871 durch einen Finanzvertrag mit einem deutschen Bankconsortium auch die 102 Millionen Privatcapital gesichert. Die neue Gesellschaft, die den Bau und Betrieb der Gotthardbahn übernehmen sollte, konnte ins Leben treten. Am 4. November 1871 trat die bisherige Gotthardvereinigung zu ihrer letzten Sitzung in Luzern zusammen, um die ihr zustehende Wahl von sechs Mitgliedern in den Verwaltungsrath der Gotthardbahngesellschaft zu treffen. Als erstes Mitglied wurde mit 1990 von 2000 Stimmen der abwesende E. gewählt. Abends glänzten bei der Illumination der Stadt am Schweizerhof, wo ein officielles Bankett die erfolgreiche Thätigkeit der Gotthardvereinigung beschloß, die transparenten Buchstaben Dr. A. E. in Riesengröße, eine Huldigung der Luzerner, deren Stadt kurz vorher gegen die Mitbewerbung Zürichs zum Sitz der Gotthardbahngesellschaft erkoren worden war, zu Ehren des Zürchers, über dessen Verdienst um das Zustandekommen des Riesenwerkes nur eine Stimme herrschte. Die Stadt Lugano und der Kanton Tessin ernannten E. zum Ehrenbürger und der Volksmund begann dem „Escher von der Lint“ den „Escher vom Gotthard“ zur Seite zu stellen. Am 6. December 1871 wählte ihn der Verwaltungsrath [425] der Gotthardbahn zum Präsidenten der Direction und E. nahm den verantwortungsvollen Posten unter der Bedingung an, daß er seinen Wohnsitz in Zürich beibehalten könne.

E. war indeß viel zu sehr Politiker, als daß er ganz in seinen wirthschaftlichen Unternehmungen aufgegangen wäre. Auch nach seinem Rücktritt aus der Regierung blieb er Mitglied des Zürcher Großen Rathes und des schweizerischen Nationalrathes, der ihn noch drei Mal, 1855, 1856 und 1862, zu seinem Präsidenten ernannte, eine Auszeichnung, die bekundete, welch hervorragende Stellung E. in der Bundesversammlung noch immer einnahm. Anderseits machten ihn die alle Leidenschaften aufwühlenden Eisenbahnstreitigkeiten größern und kleinern Stiles, die in den 50er und 60er Jahren die Schweiz durchtobten und in denen er stets ein gewichtiges, oft das entscheidende Wort sprach, nachgerade zu einem der bestgehaßten Männer in der Eidgenossenschaft. Gegen ihn hauptsächlich richtete sich die Beschuldigung, daß die „Eisenbahnbarone“ die Eidgenossenschaft beherrschten, und bildete sich in der 1858 gegründeten „Männerhelvetia“ eine über die Schweiz verbreitete radicale Opposition, die in dem hochbegabten Berner Stämpfli ihren Vertrauensmann erblickte. Man sprach von den Parteien Escher und Stämpfli; die Differenz zwischen den beiden Rivalen lag einerseits in der Eisenbahnfrage, indem Stämpfli die Verstaatlichung der Eisenbahnen anstrebte, anderseits in der äußern Politik. Stämpfli plante eine activere Theilnahme der Schweiz an den Welthändeln, während E. nach wie vor auf einer rein defensiven Haltung beharrte. „Der Einzelne, der seine Kräfte richtig bemißt“, sagte er, „steht in der Achtung der Welt höher als derjenige, welcher sie überschätzt. Gerade so wird die Schweiz sich durch eine bescheidene Politik mehr Ansehen zu erwerben vermögen als durch die Politik der Selbstüberhebung.“ Auf der andern Seite war auch E. jederzeit dafür, daß die Schweiz für die Erhaltung ihres unverkümmerten Bestandes und ihrer Unabhängigkeit Gut und Blut einsetze. Daher unterstützte er in der Neuenburger Frage als Präsident des Nationalraths und Berichterstatter der nationalräthlichen Commission das feste und doch maßvolle Vorgehen des Bundesrathes und gab in einer prächtigen Rede, die er am 30. December 1856 bei Anlaß der Beeidigung des Generals Dufour hielt, den einmüthigen Gefühlen, die damals das Schweizervolk beseelten, Ausdruck. Auch außerhalb der Räthe arbeitete er für eine glückliche Lösung des Conflicts, unter anderm in einer Audienz, die ihm Napoleon III. am 21. März 1857 gewährte. Im Savoyerhandel 1860 fiel ihm wieder die Rolle des Berichterstatters im Nationalrath, d. h. des Vertrauensmannes der Bundesversammlung zu; dies Mal trat er aber dem von Stämpfli beherrschten Bundesrath, der eine Besetzung Nordsavoyens plante, entgegen und setzte im Verein mit Dubs, dem Berichterstatter im Ständerath, die Vermeidung jedes Schrittes, der zu kriegerischen Verwicklungen mit Frankreich hätte führen können, durch. 1865 war er Präsident und Berichterstatter der Commission des Nationalraths, welche die Vorschläge des Bundesrathes zu einer Partialrevision der Bundessverfassung zu prüfen hatte, und nahm auch an den Revisionsberathungen von 1870 und 1873 als Mitglied der nationalräthlichen Revisionscommission theil, indem er mit den Hauptzielpunkten der Verfassungsänderung, der Militär- und Rechtseinheit, einverstanden war.

In seinem Heimathkanton übte E. bis 1867 ein für Republiken ungewöhnliches Maaß von Macht aus. Im Großen Rath, der ihm sechs Mal das Präsidium übertrug, war sein Wort das ausschlaggebende; man flüsterte sich zu, daß er nach wie vor die Regierung beherrsche, daß alle Wahlen und Entscheidungen in seiner Hand lägen, man spottete über den „Princeps“, den [426] „König Alfred“, über das „System“, mittelst dessen der Nordostbahnherrscher den Kanton regiere. Es lag in diesen Gerüchten neben viel Uebertreibung ein Korn Wahrheit; der überragende Einfluß, den E. in der liberalen Partei als deren anerkannter Leiter ausübte, im Verein mit den Machtmitteln, die ihm seine Stellung an der Spitze der Nordostbahn und Creditanstalt verliehen, gab dem liberalen Regimente eine stark persönliche Färbung, die einer von Jahr zu Jahr anschwellenden Opposition gegen die Escher’sche „Plutokratie“ rief. Im Grunde ließ sich der liberalen Regierung nicht viel vorwerfen. Der Staat war gut und redlich verwaltet, tüchtige, gebildete Persönlichkeiten standen an der Spitze, die Gesetzgebung hatte mustergültige Leistungen aufzuweisen, von einem Günstlingsregiment oder auch nur einem ausschließlichen Parteiregiment war so wenig die Rede, daß z. B. Gottfried Keller 1861 zum Staatsschreiber gewählt wurde, obwol er das Jahr zuvor der Escher’schen Politik im Sinn der Stämpfliradicalen in einem offenen Manifest „Marklosigkeit und Verschlissenheit der Grundsätze“ vorgeworfen hatte. Aber neue Richtungen und neue Generationen strebten nach ihrem Rechte. Es hatte sich allmählich in Zürich wie anderwärts von den Liberalen eine demokratische Partei abgezweigt, welche die Annäherung des Repräsentativsystems an die reine Demokratie mittelst Einführung der Volkswahl für die Regierung, des Referendums (der Volksabstimmung über Gesetze und wichtige Beschlüsse) und der Initiative (des Gesetzesvorschlagsrechtes einer bestimmten Anzahl Bürger) auf ihre Fahne schrieb und sociale Erleichterungen für die untern Classen durch Mehrbelastung der obern anstrebte. E. war ein grundsätzlicher Anhänger des Repräsentativsystems und socialen Experimenten, deren Tragweite er nicht zu übersehen vermochte, abgeneigt, weshalb er sich gegen diese demokratischen Postulate ablehnend verhielt. Da erschienen seit 1866 eine Reihe von Pamphleten aus der Feder des Advocaten Friedrich Locher, eines perversen Verleumders, der, vom sogenannten „System“ sich zurückgesetzt fühlend, mit unerhörter Frechheit und Bosheit, aber mit unleugbarem schriftstellerischem Talent die Verwaltung und Justiz des Kantons als bis ins Mark corrumpirt hinstellte und die höchsten Magistrate persönlich in den Koth zerrte. Nach jeder gerichtlichen Bestrafung steigerte Locher seine Angriffe; mit einem eigenen Pamphlet wurde der „Princeps“ Alfred E. bedacht; doch mußte Locher hier bei allgemeinen Anschuldigungen stehen bleiben, da ihm das makellose Privatleben des Mannes keinerlei Anhaltspunkte für seine Taktik bot. Gottfried Keller hat die Wirkungen des von dem Pamphletär entfesselten „allgemeinen Reichstags der Verleumdung“, jene „dämonisch seltsame Bewegung, welche mehr Schrecken und Verfolgungsqualen in sich barg als manche blutige Revolution, obgleich nicht ein Haar gekrümmt wurde“, im „Verlorenen Lachen“ meisterhaft geschildert. Die Pamphlete riefen eine ungeheure Aufregung hervor, die Führer der demokratischen Partei fingen, ohne sich mit dem Pamphletär zu identificiren, den „Wind der von ihm angefachten Bewegung in ihre Segel auf“, 26000 Bürger begehrten mit ihren Unterschriften eine Revision der Verfassung und das Zürcher Volk, dem die Frage vorgelegt wurde, beschloß am 26. Januar 1868 mit 48000 gegen 10000 Stimmen, daß die Revision vorgenommen werden solle und zwar nicht durch den Großen Rath, sondern durch einen besonders zu wählenden Verfassungsrath. Bei den Wahlen zum Verfassungsrath im März 1868 erlangten die Demokraten die große Mehrheit; das liberale „System“ war gestürzt. E. zog die Consequenz aus dem Mißtrauensvotum des Volkes gegen die bisherige Staatsleitung, indem er sich eine Wahl in den Verfassungsrath verbat und zugleich seine Stelle im Nationalrath niederlegte. Sein persönliches Ansehen war indeß so wenig [427] erschüttert, daß ihn sein Wahlkreis sofort mit 10000 Stimmen wieder wählte, während der ihm gegenüber gestellte Pamphletär Locher bloß 4000 Stimmen erhielt. Mit dem Sieg der demokratischen Bewegung war der vorherrschende Einfluß Escher’s im Kanton Zürich gebrochen; doch blieb er, ohne sich in den Schmollwinkel zu stellen, bis zu seinem Tode im Kantonsrath und nahm als das stets mit Achtung angehörte Haupt der liberalen Minderheit regen Antheil an den Geschäften. Der demokratische Umschwung, der sich von Zürich aus über eine Reihe anderer Kantone verbreitete, veränderte auch seine Stellung in der Bundesversammlung, wo sich seine Führerschaft auf das liberale Centrum beschränkte, eine weniger durch die Zahl als durch die Qualität ihrer Mitglieder bedeutende Gruppe.

Wenn sich E. für die Schmälerung seines politischen Einflusses mit dem Erfolg seiner Bemühungen um die Gotthardbahn leicht trösten mochte, so traf es ihn bis ins Mark, als nach wenig Jahren dieses sein halbvollendetes Lebenswerk plötzlich zusammenzubrechen drohte. Während des Baues stellte sich heraus, daß die finanzielle Grundlage des Unternehmens ungenügend war. Nach den Berechnungen des Oberingenieures Gerwig im J. 1875 überschritt der Bedarf den Voranschlag um 34, nach denjenigen des Oberingenieurs Hellwag im Februar 1876 sogar um 102 Mill. Frcs. Damit war das ganze Unternehmen in Frage gestellt, die Einzahlungen des Finanzconsortiums stockten, die Bauunternehmer wurden schwierig, der Curs der mit 300 Frcs. einbezahlten Actien sank auf 30 Frcs., derjenige der Obligationen von 1000 auf 350 Frcs. Gleichzeitig brach auch über die Nordostbahn, bei der E. seit der Uebernahme der Direction der Gotthardbahn noch das Präsidium des Verwaltungsrathes beibehalten hatte, eine Krisis herein, weil sie sich unter der neuen Direction über ihre Kräfte Verpflichtungen zum Baue neuer Linien aufgeladen hatte. Tag und Nacht arbeitete E. an der Rettung seiner beiden Lieblingsschöpfungen. Als Präsident der vom Verwaltungsrath der Nordostbahn im Januar 1877 bestellten Reorganisationscommission gelang es ihm, hauptsächlich durch persönliche Verhandlungen mit den Kantonen und Landesgegenden, denen gegenüber die Nordostbahn Bauverpflichtungen eingegangen hatte, zum Zwecke, Stundung oder Modificationen der Verträge zu erlangen, die Gesellschaft über Wasser zu halten, so daß sie sich wieder erholen und später ihren Verpflichtungen genügen konnte.

Seine ganze Kraft aber setzte er ein, um unter Beihülfe des Bundesrathes Welti durch neue Combinationen das Gotthardunternehmen wieder ins Gleichgewicht zu bringen; durch Reducirung des Bauprogramms das Deficit herabzumindern und durch die sorgfältigsten Untersuchungen und Berechnungen das erschütterte Vertrauen herzustellen. Im wesentlichen seinen Vorschlägen gemäß stellte im Juni 1877 eine vom Bundesrath veranstaltete neue Conferenz der Vertragsstaaten zu Bern das reducirte Bauprogramm mit einem Kostenvoranschlag von 227 Mill. Frcs. fest. Von den 40 Millionen Mehrkosten sollten 28 Millionen von den Vertragsstaaten – von Deutschland und Italien je 10, von der Schweiz 8 Mill. – und die restirenden 12 Millionen von der Gesellschaft aufgebracht werden. Das erklärliche Mißtrauen, das auch dem neuen Vorschlag entgegengebracht wurde, schlug E. siegreich nieder, indem er leistungsfähige Unternehmer gewann, die sich verbindlich machten, die noch auszuführenden Linien um Pauschalsummen auszuführen, die den Voranschlag nicht nur bestätigten, sondern zum Theil unter denselben heruntergingen. So wurden die Ergebnisse der Conferenz Gegenstand eines Nachtragsvertrages zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz, der am 12. März 1878 unterzeichnet wurde. Ebenso gelang es, durch einen neuen Vertrag vom 12. Februar 1878 [428] das Finanzconsortium zur Einzahlung des noch ausstehenden Actien- und Obligationencapitals zu bewegen; die weiter nothwendigen 12 Millionen Privatcapital glaubte die Direction nach erfolgter Reconstruction des Unternehmens mittelst neuer Obligationen leicht beschaffen zu können, ein Voraussetzung, die sich nachher bewährte.

Die größte Schwierigkeit verursachte die schweizerische Nachsubvention von 8 Mill. Frcs. Die Kantone der ehemaligen Gotthardvereinigung knüpften an die ihnn zugemutheten neuen Leistungen zum Theil unerfüllbare Bedingungen, zum Theil verweigerten sie dieselben ganz; so wurde im Kanton Zürich am 19. Mai 1878 die vom Großen Rath beschlossene Nachsubvention durch Volksabstimmung verworfen. Damit das große Werk nicht an dem kleinlichen Kantonesenthum scheitere, beantragte der Bundesrath, daß der Bund den fehlenden Betrag von sich aus zuschieße, allein es war fraglich, ob die Bundesversammlung dem Antrag zustimmen werde. Zu den alten Gegnern der Gotthardbahn in der Ost- und Westschweiz, den zahlreichen politischen und persönlichen Feinden des Mannes, der an ihrer Spitze stand, gesellte sich die große Masse derer, die der scheinbare Mißerfolg an E. irre gemacht hatte. Obschon die Unzulänglichkeit des ursprünglichen Kostenvoranschlages sich theils aus der seither erfolgten Steigerung der Arbeitslöhne und Materialpreise, theils aus den Schwierigkeiten der Gebirgsplastik, die erst bei den Detailaufnahmen ganz zu Tage traten, leicht erklärte, wurde E. für die ganze Mißrechnung verantwortlich gemacht und mit Hohn und Vorwürfen überschüttet. Nicht weniger als drei Anonymi sandten ihm seidene Schnüre zu. Während er wie ein Held für das bedrohte Unternehmen kämpfte, mußte ihm der befreundete Bundesrath Welti unter der Hand mittheilen, daß sein Rücktritt als Bedingung für die Bewilligung der Bundessubvention anzusehen sei, da fast alle Berner und die meisten Zürcher Demokraten in der Bundesversammlung ihre Stimmgebung davon abhängig machten. Ohne ein Wort der Klage legte G. am 27. Juli 1878 sein Mandat als Mitglied und Präsident der Direction nieder. Alle Bemühungen der Verwaltung, ihn unter Verminderung der Geschäftslast zum Bleiben zu bewegen, waren an seiner Ueberzeugung gescheitert, daß er der guten Sache dies persönliche Opfer bringen müsse, nachdem die Reconstruction in der Hauptsache gesichert war. Dafür hatte er die Genugthuung, daß die eidgenössischen Räthe durch das Alpenbahngesetz vom 22. August 1878 den Gotthardkantonen eine Bundessubention von 4½ Millionen gewährten, indem sie eine gleiche Subvention zum voraus je einer Alpenbahn im Osten und Westen, sowie dem Kanton Tessin 2 Millionen Bundesunterstützung für die Monte Ceneri-Linie zusicherten und daß, als 38000 Unterschriften das Referendum verlangten, dies Gesetz vom Schweizervolk am 19. Januar 1879 mit 278000 gegen 115000 Stimmen angenommen wurde.

Escher’s letzte Lebensjahre waren von schwerer Krankheit heimgesucht. Völlige Erblindung drohte ihm; den Winter 1881/82 verbrachte er in Nizza. Doch war es ihm noch vergönnt, die Vollendung der Gotthardbahn und damit eine gerechtere Würdigung seiner Verdienste um dieselbe zu erleben. Der Bundespräsident Bavier richtete an ihn am 2. Mai 1882 im Namen des Bundesrathes die Einladung zur Theilnahme an den Eröffnungsfeierlichkeiten mit den Worten: „Der hervorragende Antheil, den Sie am Zustandekommen des großen Werkes genommen, wird zu allen Zeiten unvergessen bleiben und es muß Ihnen zur Genugthuung gereichen, das, was Sie mit so vieler Hingebung und Thatkraft ins Werk gesetzt haben, in seiner Vollendung zu erblicken“. E., der eben erst eine lebensgefährliche Operation überstanden, konnte der Einladung nicht Folge leisten; aber es wurde seiner am Feste nicht [429] vergessen, und im November 1882 ernannte ihn der „Verein für Eisenbahnkunde“ in Berlin zum Ehrenmitglied als „den Mann, dessen schöpferischet Thatkraft, dessen aufopfernder und voller Hingabe und dessen rastloser Energie das Werk die Großartigkeit seiner Anlage, die schnelle Förderung und glückliche Vollendung seiner Ausführung weitaus in erster Linie verdankt“. Wenige Wochen später war er eine Leiche. Das Geleite, das seinem Sarge am 9. December folgte, war wol das größte, das Zürich je gesehen; die Bundesversammlung in Bern suspendirte an dem Tage ihre Sitzung.

Die Presse aller Parteien stimmte darin überein, daß die Schweiz in G. einen ihrer hervorragendsten Bürger verloren habe, der durch ein reichbewegtes Leben mit seltener Thatkraft und Hingabe sich den öffentlichen Dingen gewidmet und den großen Grundzug seines Wesens nicht am wenigsten im Unglück bewährt habe. Am 22. Juni 1889 wurde ein von Richard Kißling geschaffenes Denkmal Alfred Escher’s auf dem Bahnhofplatz in Zürich enthüllt, und Gottfried Keller schrieb zur Denkmalweihe in der Neuen Zürcher Zeitung die Worte: „Bedürfte der Stein einer weitern Inschrift als derjenigen seines Namens, so ließe sich eingraben: Dem Manne, der mit Geistestreue und eigenster Arbeit sich selbst Pflichten auf Pflichten schuf und, sie erfüllend, wirkend und führend, seine Tage verbrachte, die Nächte opferte und das Augenlicht“.

E. hatte sich 1857 mit Auguste Uebel vermählt, der hochbegabten Tochter des aus Dessau stammenden Oberstlieutenants Bruno Uebel, der beim Septemberputsch in Zürich 1839 als Cavalleriecommandant die liberale Regierung muthig vertheidigt hatte, bis sie sich selbst aufgab. 1864 wurde ihm die geliebte Gattin erst sechsundzwanzigjährig durch den Tod entrissen. Das einzige Kind aus dieser Ehe, Lydia, nachmals Frau Welti-Escher († am 12. December 1891), schenkte am 6. September 1890 ihr ca. 2½ Millionen betragendes Vermögen der Eidgenossenschaft, mit der Bestimmung, daß dasselbe unter dem Namen „Gottfried Keller-Stiftung“ besonders verwaltet und daß der Ertrag in Friedenszeiten zur Anschaffung bedeutender Werke der bildenden Kunst, in Kriegszeiten zur Pflege verwundeter und kranker Wehrmänner verwendet werde.

Joh. Scherr, Alfred Escher (Allgemeine Zeitung und Neue Zürcher Zeitung, 1883). – Schneider, Alfred Escher als Activzofinger (Centralblatt des Zofingervereins, 25. Jahrg. 1885). – Das Alfred Escher-Denkmal. Bericht der Centralcommission nebst Beiträgen zu einer Biographie von Dr. Alfred Escher (Zürich 1890). – Wanner, Geschichte der Begründung des Gotthardunternehmens (Bern 1880); – derselbe, Geschichte des Baues der Gotthardbahn (Luzern 1885). – Bächtold, Gottfried Kellers Leben, seine Briefe und Tagebücher (Berlin 1894–97). – Peyer im Hof, Aus den Anfängen des neuen Bundes (Frauenfeld 1900). – Briefe aus dem Nachlaß Dr. Ludwig Snells (Züricher Post 1900/1901). – Jakob Dubs, aus seinen Tagebüchern und aus Briefen seiner Freunde (Züricher Post 1901–1903). – Bundessblatt der schweiz. Eidgenossenschaft, Jahrg. I ff. – Weber, Bundesrath Emil Welti (Aarau 1903).