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Artikel „Stämpfli, Jacob“ von K. Geiser. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 441–447, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:St%C3%A4mpfli,_Jacob&oldid=- (Version vom 3. Oktober 2024, 22:35 Uhr UTC)
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Stämpfli: Jacob St., schweizerischer Staatsmann, geboren am 23. Februar 1820 zu Janzenhaus im Amte Büren, Kanton Bern, † am 15. Mai 1879 in Bern, ist aus dem bernischen Bauernstande hervorgegangen. Seine Eltern, aus Schüpfen stammend, besaßen ein Heimwesen zu Janzenhaus. Schon als Knabe griff er, an Körper und Geist gleich kräftig sich entwickelnd, überall rüstig zu, und an Arbeit mangelte es im Elternhaus um so weniger, als der Vater frühe starb und seiner Familie nur ein mäßiges Vermögen hinterließ. Nachdem Jacob die Primarschule in seiner Gemeinde durchgemacht und gelernt hatte, was dort zu lernen war, kam er eine Zeit lang in die welsche Schweiz, zuerst zu einem Bauern in Cortébert, dann nach Neuenburg und trat 1836 in die Lehre bei Amtsnotar und Amtsgerichtsschreiber Frauchiger in Büren, wo er nach drei Jahren an die Stelle eines ersten Substituten vorrückte.

Bei gewissenhafter Erfüllung seiner Pflicht in der Schreibstube suchte sich der strebsame Jüngling mit eisernem Fleiß in seinen Nebenstunden weiter auszubilden. Sommer und Winter soll er um vier Uhr aufgestanden sein, um an die Arbeit zu gehen. Im Herbst 1840 schied Jacob St. mit einem ausgezeichneten Zeugniß für seine Leistungen, seinen Fleiß und sein sittliches Verhalten von Büren, um in Bern die Hochschule zu besuchen. Hierfür war damals keine Vorbildung auf einem Gymnasium erforderlich. „Man hatte bei der Gründung der Hochschule einen politischen Zweck im Auge gehabt (erzählt G. Vogt); es fehlte, nachdem das städtische Patriciat aus den öffentlichen Stellen verdrängt war oder sich grollend zurückgezogen hatte, den Leuten vom Lande an der zur Bekleidung von administrativen und richterlichen Beamtungen erforderlichen Schulbildung, die Hochschule sollte den Nachwuchs liefern, dessen man bedurfte, um die Selbstherrschaft des Volkes auf die Dauer sicher zu stellen. Wer ein Jurist werden wollte, holte sich einige praktische Kenntnisse in der Schreibstube eines Advocaten, Amts- oder Gerichtsschreibers und ging dann auf die Hochschule über, wo er von Wilhelm Snell zum Republikaner erzogen und von Samuel Schnell gründlich im bernischen Recht unterwiesen wurde. Mancher, der später im öffentlichen Leben Hervorragendes geleistet [442] hat, ist diesen Weg gegangen, ich nenne nur einen, Jacob St., den Bauernsohn von Janzenhaus.“ Der Tradition dieser „Landjuristen“ gemäß trat St. auch in die Verbindung „Helvetia“ ein, in welcher er bald eine führende Rolle spielte. Mit dem Züricher Dubs, dem späteren Bundesrath, und seinem Freunde Niggeler wohnte er bei Professor Wilhelm Snell, seinem nachmaligen Schwiegervater. Mit feurigem Eifer warf sich der junge St. auf das Studium; wie fleißig er war, geht schon daraus hervor, daß er zwei Mal hintereinander, 1842 und 1843, für gelöste Preisfragen von der juristischen Facultät mit dem ersten Preis belohnt wurde. 1844 bestand St. mit Auszeichnung das Patentexamen als Fürsprech und eröffnete sogleich ein Advocaturbureau an der Brunngasse in Bern. Bald aber stand er auch mitten im öffentlichen Leben. In jener Zeit leidenschaftlichster Parteikämpfe wurde er trotz seiner großen Jugend als einer der hervorragendsten Führer der bernischen Radikalen anerkannt und übte durch die von ihm redigirte „Bernerzeitung“ einen mächtigen Einfluß aus.

Durch den unglücklichen Ausgang der Freischaarenzüge zum Sturze des Jesuitenregiments in Luzern wurden, wie in der ganzen Schweiz, so auch im Kanton Bern, die Gegensätze noch verschärft. Die liberale Regierung, deren geistiges Haupt damals Karl Neuhaus war, hatte es im Frühling 1845 nicht gewagt, den Auszug der bernischen Freischaaren zu hindern, ja, denselben wohl nicht ungern gesehen, dann aber, nach dem Mißlingen des Unternehmens, die Theilnehmer, so auch St., ihre Ungnade und Strenge fühlen lassen. Diese zweideutige Haltung mußte allgemeine Erbitterung hervorrufen. Die Opposition des radikalen Volksvereins und der Bernerzeitung richtete sich aber nicht nur gegen die Personen des Regiments Neuhaus, sondern gegen ihr ganzes System. Immer energischer wurde eine gründliche Umgestaltung des ganzen Staatswesens, eine Verfassungsrevision verlangt. Diese Bewegung trug bald den Sieg davon. Der Große Rath sah sich genöthigt, die Revision einem Verfassungsrath zu überlassen. Daß St. in denselben gewählt wurde, war selbstverständlich, seine Parteigenossen brachten ihn aber auch in die vorberathende Commission und den Redactionsausschuß.

Wenn er auch mit seinen Anträgen nicht immer durchzudringen vermochte, stand er doch immer wieder schlagfertig seinen Gegnern gegenüber, brachte in vielen wesentlichen Punkten die entscheidenden Vorschläge oder die passende Form. Die Redaction der Verfassung von 1846 ist großentheils sein Werk. Nachdem das Volk sich am 31. Juni 1846 mit 34 079 gegen 1257 Stimmen für Annahme derselben erklärt hatte, wurde bei den darauffolgenden Wahlen die Partei von Neuhaus gänzlich übergangen und die radikale Richtung errang einen vollständigen Sieg. Nun war es an ihr, die Principien der Verfassung auch praktisch durchzuführen. Unter den in den Regierungsrath Gewählten befand sich auch der erst sechsundzwanzig Jahre alte St., und ihm wurde sogar der schwierigste Posten, die Finanzdirection, übertragen. Er sollte nun, theilweise gemäß seinen eigenen Ideen, diesen Verwaltungszweig auf ganz neuer Basis organisiren. Dabei zeigte sich indessen bald, daß man vielleicht etwas allzu rasch und kühn vorgegangen war.

Die alten Einnahmequellen hatte man abgeschafft, so z. B. die Zehnten und Bodenzinsen, und dafür eine neue directe Steuer eingeführt. Armenwesen, Schule, Straßenbauten und andere Abtheilungen der Staatsverwaltung brachten mit ihren neuen Erfordernissen auch erhöhte Ausgaben mit sich, dazu kam noch eine schwere ökonomische Krise, die besonders das Landvolk schwer drückte, und allerlei Unvorhergesehenes, wie z. B. der Sonderbundskrieg und als Rückwirkung der Revolutionen im J. 1848 ein Strom von Flüchtlingen aus den [443] Nachbarstaaten. In vielen Punkten erwiesen sich auch die bei der Neuorganisation des Staatswesens aufgestellten Berechnungen als irrig und so ergab sich bald ein bedeutendes Defizit, das von Jahr zu Jahr anwuchs. Dies bildete natürlich eine vorzügliche Waffe für die Opposition, die Conservativen und früheren Liberalen, welche den Kampf gegen das „Freischaarenregiment“ aufgenommen hatten und deren geistige Führer hauptsächlich Prof. Hans Schnell und Fürsprech Blösch in Burgdorf waren. Im „Oberländer-Anzeiger“, dem conservativen Kampforgan, wurde die Regierung, besonders aber St., fortwährend auf das leidenschaftlichste angegriffen und der üblen Haushaltung, Finanzverschleuderung u. s. w. beschuldigt.

Diese Anklagen mußten um so eher wirken, als in manchen Kreisen des Volkes schon eine bedeutende Mißstimmung vorhanden war. Viele Hoffnungen, die man auf die neue Verfassung gesetzt hatte, waren nicht in Erfüllung gegangen, Handel und Wandel stockten, die ärmeren Classen wurden auf das Schwerste durch das wiederholte gänzliche Mißrathen der Kartoffeln betroffen; es waren überhaupt böse Nothjahre. Dazu wurde bei Anlaß der Berufung von Dr. E. Zeller an die theologische Facultät der Hochschule die Religion in Gefahr erklärt und die Regierung als atheistisch hingestellt. Auch die Aufnahme der fremden Flüchtlinge im J. 1848 erregte Anstoß. Schließlich muß noch gesagt werden, daß sich der aufstrebenden radicalen Partei Mancher aus keineswegs reinen Absichten angeschlossen hatte und das taktlose Benehmen einzelner Bezirksbeamten Verbitterung hervorrief. Alles dies wurde der Regierung auf Rechnung geschrieben und führte im Frühling 1850 ihren Sturz herbei. Die Volksversammlungen in Münsingen vom 25. März ließen dieses Resultat schon ziemlich sicher erwarten, und die Großrathswahlen vom Mai ergaben dann wirklich eine conservative Mehrheit. Da war es bei der damaligen Stimmung unvermeidlich, daß der Große Rath auch den Regierungsrath ausschließlich aus conservativen Parteimännern bestellte.

Bei jeder Wahl wurde St. als Candidat aufgestellt, aber immer blieb er mit ungefähr 100 von 220 Stimmen in der Minderheit. So hatte nun der Kanton Bern eine conservative Regierung mit Blösch als Präsidenten. Ihr gegenüber stellte sich St. an die Spitze der Opposition und führte in der „Bernerzeitung“ einen hartnäckigen und erbitterten Kampf. Wie früher die Conservativen, suchten nun die Radicalen der Regierung ihre Stellung möglichst zu erschweren. Auch St. ging in seiner Kritik und Opposition vielfach über das sachlich gerechtfertigte Maaß ebenso gut hinaus, wie er selbst schonungslos und oft ungerecht angegriffen wurde. Als er den Verdacht aussprach, daß bei der Invasion der Franzosen im J. 1798 ein Theil der „Schatzgelder“ nicht von den Feinden, sondern von bernischen Patriziern bei Seite geschafft worden sei, brachte ihm dies eine ganze Reihe von Processen, durch die ihn seine Gegner moralisch und finanziell zu ruiniren versuchten. Ebenso große Aufregung brachte die im J. 1852 versuchte, aber mißlungene Abberufung des conservativen Regiments. Unter derartigen leidenschaftlichen Kämpfen mußte das öffentliche Leben schwer leiden. Die radicale Minderheit vermochte nicht die Oberhand zu gewinnen und die conservative Regierung sah sich durch die Opposition lahmgelegt. Und doch forderten die wichtigsten Fragen ihre Erledigung, so z. B. das Armenwesen, von Regierungsrath Blösch selbst als die offene Wunde bezeichnet, an welcher der Kanton zu Grunde gehen müsse, wenn man sie nicht zu heilen verstehe. Im Mai 1854 zeigte das Resultat der Wahlen deutlich, daß die einseitige Parteiherrschaft ein Ende nehmen müsse. Conservative und Radicale waren im Großen Rath beinahe gleich stark vertreten; da mußte der Gedanke nahe liegen, auch die Regierung mit Männern [444] aus beiden Parteien zu besetzen. So kam schließlich ein Kompromiß zu Stande, die sogenannte Fusion, die in der Folge sehr verschieden beurtheilt worden ist. Vom Standpunkt der Parteien aus war dieser Friedensschluß, oder richtiger gesagt, Waffenstillstand, freilich ein Fehler; die conservative Partei wurde dadurch auseinandergesprengt. Daß aber das Wohl des Landes mit gebieterischer Nothwendigkeit diesen Schritt verlangte, ist unzweifelhaft. Denn damit war wenigstens für eine Zeit lang wieder ein gedeihliches Zusammenwirken möglich gemacht, dessen bedeutendstes Resultat die Armenreform von 1857 war. In Folge des Compromisses wurde Blösch Präsident, St. Vicepräsident der Regierung, neben ihnen wurden vier Conservative und drei Radicale gewählt.

Doch sollte St. nicht lange in der Fusionsregierung, wo ihn übrigens selbst seine Gegner hochschätzen lernten, bleiben. Schon am 6. December 1854 wurde er in den schweizerischen Bundesrath gewählt. Diesem Rufe leistete er nicht gern Folge, konnte aber nicht ablehnen. Doch erbat er sich noch einen Aufschub bis zum Frühjahr, um einige dringende Arbeiten zu erledigen. Ende April 1855 verabschiedete er sich von der bernischen Regierung, wo sein Rücktritt auch von Blösch aufrichtig bedauert wurde.

Im Bundesrath wurde St. zuerst Vorsteher der Justizabtheilung; 1856 hatte er das politische Departement zu übernehmen. Hier sah er sich nun plötzlich vor eine Aufgabe gestellt, die nicht nur ein hohes Gefühl für die Ehre des Vaterlandes, sondern auch Entschlossenheit und Umsicht erforderte. Im Kanton Neuenburg hatten die Royalisten durch einen kecken Handstreich die Regierung zu stürzen gesucht, um das Land wieder als Fürstenthum unter die frühere Abhängigkeit von Preußen zu bringen. Die Verwicklungen, die hieraus entsprangen, brachten die Schweiz in eine äußerst schwierige Situation. Wenn sie ehrenvoll daraus hervorging, darf St. ein gebührender Theil des Verdienstes zugeschrieben werden. Freilich hatte er hier das ganze Schweizervolk ohne Unterschied der Parteien auf seiner Seite.

Eine weniger glückliche Lösung fand dagegen die sogenannte „Savoyerfrage“. Vergeblich hatte St. nach dem österreichisch-italienischen Kriege von 1859 die Vereinigung der Provinzen Chablais und Faucigny mit Frankreich zu hindern gesucht und deren Anschluß an die Schweiz angestrebt. Er stieß hierbei auch in den eidgenössischen Räthen selbst auf entschiedenen Widerstand. Seine Gegner behielten die Oberhand, so daß Napoleon mit der Annexion von Nordsavoyen leichtes Spiel hatte. Ein Mann, der zu so entschiedenem Auftreten gegen das Ausland entschlossen war, mußte auch auf die Hebung der schweizerischen Wehrkraft bedacht sein, um im Falle der Noth nicht nur mit diplomatischen Noten Widerstand leisten zu können. Seine Ansicht hierüber kleidete er einmal in die Worte: „Ein Vaterland, dessen Bürger sich nur zu nähren und zu kleiden, nicht aber zu wehren wüßten, wäre wie ein Mann ohne Männlichkeit und gliche dem Schilf im Meere, das vom Winde hin- und hergetrieben und von der ersten Sturmeswoge verschlungen wird. Darum möge die Schweiz neben den Künsten des Friedens auch die Wehrhaftigkeit der Nation nicht vernachlässigen …“ Neun Jahre gehörte St. dem Bundesrathe an: 1858, 59 und 62 war er Bundespräsident und zugleich Vorsteher des politischen Departements, 1855 leitete er die Justiz, 1857 und 58 die Finanzen, 1861 und 63 das Militär.

Da gab er im October 1863 durch eine öffentliche Erklärung die Absicht kund, am Ende der Amtsperiode zurückzutreten und die Leitung der neu zu gründenden „Eidgenössischen Bank“ zu übernehmen. Hauptsächlich die Rücksicht auf seine Familie, deren Zukunft er sicher stellen wollte, hatte ihn zu diesem Schritte bewogen. „Es thut mir weh, von meinem bisherigen, für [445] mich so ehrenvollen und angenehmen Geschäftskreise scheiden zu müssen; aber ich kann nicht anders,“ schrieb er in seiner Erklärung; doch werde er auch in Zukunft fortfahren, seine Kräfte in den Dienst des Vaterlandes zu stellen und hoffe gerade in seiner neuen Stellung zur Förderung der nationalen Selbständigkeit auf materiellem Gebiete Gelegenheit zu finden. Die in der Schweiz bestehenden Banken waren damals entweder Kantonalbanken oder Privatinstitute, die den speciellen Bedürfnissen einiger Handels- und Industriecentren dienten. St. glaubte nun ein Institut schaffen zu können, das einen allgemein schweizerischen Charakter tragen und namentlich dafür sorgen sollte, daß man nicht mehr für alle bedeutenden Unternehmungen auf das Ausland angewiesen sei. Er wollte ein Gegengewicht schaffen gegen den unheilvollen Einfluß der fremden, besonders der französischen Finanzmächte. Besonders hegte er die Zuversicht, daß sich die Eidgenössische Bank auch in Eisenbahnangelegenheiten nützlich erweisen könne, und die Eisenbahnangelegenheiten lagen ihm so sehr am Herzen, daß er ihnen Jahrzehnte lang einen bedeutenden Theil seiner Arbeitskraft und seines Einflusses widmete.

Als zu Anfang der fünfziger Jahre die eidgenössischen Behörden zum ersten Male in der Eisenbahnfrage Stellung nehmen mußten, hatte sich der Bundesrath für den Bau und Betrieb durch den Staat entschieden. Zu der nämlichen Ansicht kam die Mehrheit der Commission des Nationalrathes, in welchem St. die leitende Persönlichkeit war. Er warnte auf das dringendste davor, die schweizerischen Eisenbahnen dem Einfluß ausländischer Capitalisten preiszugeben, man dürfe sie nicht als ein Unternehmen betrachten, das möglichst hohen Gewinn zu bringen habe, sondern als Mittel zur Lösung volkswirthschaftlicher und socialer Aufgaben. Ebenso bedauerlich wäre die Zersplitterung in kantonale und locale Interessen, das zu erstrebende Ziel sei eine rationelle Lösung auf allgemeiner, eidgenössischer Grundlage. „Das Eisenbahnwesen in der Schweiz soll Bundessache sein; denn nur auf diesem Wege ist dieses Ziel zu erreichen.“

Dem hier angedeuteten Programm ist St. sein Leben lang treu geblieben und er wurde trotz aller Mißerfolge nie müde, es in Wort und Schrift zu verfechten. Wenn auch seine Gegner momentan den Sieg davontragen mochten, er war überzeugt, daß seine Ideen mit der Zeit doch durchdringen werden. Und er hat Recht behalten, weil er das Rechte wollte und nie Sonderinteressen, sondern stets diejenigen des gesammten Vaterlandes verfocht.

Nicht nur im Eisenbahnwesen, sondern überall, wo es sich um öffentliche Fragen handelte, hat St. stets mannhaft Stellung genommen und ist für seine Ueberzeugung eingetreten. Mochte die Entwicklung der Stadt Bern, eine kantonale oder eidgenössische Angelegenheit in Frage sein, überall hat er mit seiner ganzen Kraft mitgearbeitet und oft durch seinen großen Einfluß die Entscheidung herbeigeführt. Auch nach seinem Rücktritt aus dem Bundesrath hatte er hierfür Gelegenheit genug, sowohl im Bernischen Großen Rathe als im Nationalrathe, wo er wiederholt zum Präsidenten gewählt wurde.

Auch einen großen internationalen Conflikt gelang es St. Anfangs der siebziger Jahre zu schlichten, nämlich die seiner Zeit vielbesprochene „Alabamafrage“. Es handelte sich dabei um den Entschädigungsanspruch der nordamerikanischen Union gegen England, das im Secessionskriege die Ausrüstung von Kriegsschiffen der Südstaaten in seinen Häfen geduldet hatte. Als vom schweizerischen Bundesrath ernannter Schiedsrichter hat er in diesem verwickelten Streit geradezu die Lösung gefunden, obschon er innerhalb weniger Wochen noch Englisch lernen mußte, um die Acten genau in der Ursprache studiren zu können. Hier zeigte sich die Leistungsfähigkeit Stämpfli’s wieder [446] in ihrem glänzendsten Lichte. Die Amerikaner bezeugten St. unverhohlen ihre Bewunderung und Dankbarkeit, da es das Verdienst seiner Intelligenz, Thätigkeit und Rechtschaffenheit gewesen sei, wenn die Alabama-Konferenz, die anfangs fruchtlos zu verlaufen drohte, zu einem praktischen und für die Vereinigten Staaten befriedigenden Resultat geführt habe.

Um St. in seiner ganzen öffentlichen Thätigkeit zu verfolgen, dürfte man kaum eines der wichtigeren Ereignisse der bernischen und schweizerischen Politik seiner Zeit bei Seite lassen. Besonders fühlte er sich hingezogen zu den Fragen der praktischen Wirthschaftspolitik, der Ausgleichung der Lasten für das Volk, des Finanz- und Steuerwesens, der Straßen- und Eisenbahnbauten, Gewässercorrectionen u. s. w. „Je größer und complicirter eine Aufgabe war,“ erzählt sein Nachfolger im Bundesrathe, Karl Schenk, „desto mehr reizte sie ihn. Phantasievoll und optimistisch in diesen Dingen, ließ er sich nicht darauf ein, die Schwierigkeiten und Mißlichkeiten, die sich in der Ausführung eines großen Werkes ihm zeigen konnten, ins Licht zu rücken und sie besonders in Berücksichtigung zu ziehen; er sah über diese Dinge hinweg mit weitem, allerdings phantasievollem Blick auf das endliche, große und schöne Ziel, von dem er überzeugt war, daß es die Billigung des Landes erhalten und dessen Wohl bedeuten werde. In der That verdankt man St. eine ganze Reihe von großartigen Schöpfungen, die von kühnem Unternehmungsgeiste zeugen.“ Freilich ist ihm nicht alles geglückt, was er angestrebt hat; wie auf politischem, so hatte er auch auf finanziellem Gebiet Mißerfolge; aber sein Streben war stets ein uneigennütziges.

Als Redner verschmähte St. jeden rhetorischen Schmuck und ließ ganz allein die Thatsachen wirken, es war, wie Schenk sagt, „die Beredsamkeit der in logischen Tigeln weiß geglühten Gründe, mit denen er durchdrang“. Seine Meinung sprach er immer mit rückhaltloser Offenheit, ja oft sogar derber Schroffheit aus.

Nachdem St. noch an der Revision der Bundesverfassung 1872–74 lebhaften Antheil genommen hatte, begann er in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu kränkeln; 1874 trat er von der Leitung der eidgenössischen Bank zurück, um wieder ein Advocaturbureau zu eröffnen, sich bescheiden nur noch „St., Fürsprech“ schreibend. Die Kraft des gewaltigen Mannes war gebrochen, am 15. Mai 1879 schied er aus einem Leben voll Mühe und Arbeit, nachdem er noch zuvor den Wunsch ausgesprochen hatte, daß bei seinem Begräbniß jede öffentliche Kundgebung unterbleiben möchte.

Aber so still und ohne Abschied konnten ihn seine Berner und Eidgenossen nicht ziehen lassen, aus allen Theilen des Landes strömten sie herbei und folgten am 19. Mai seinem Sarge nach dem Bremgartenfriedhof bei Bern, um den wohlverdienten Ehrenkranz auf seiner letzten Ruhestätte niederzulegen. Bundesrath Schenk entwarf bei diesem Anlaß ein glänzendes Bild von der politischen Wirksamkeit und Bedeutung des Verstorbenen. Auf der großen Schanze zu Bern wurde ihm ein einfaches Denkmal errichtet, eine eherne Büste auf einem Granitsockel mit der Inschrift: Jacob Stämpfli 1820–1879.

St. ist, wie es bei einem Mann von so ausgesprochener Parteistellung nicht anders sein konnte, sehr verschieden beurtheilt worden. Von seinen radicalen Freunden und Gesinnungsgenossen schon in jungen Jahren als hervorragendster Führer anerkannt und bewundert, wurde er, besonders zur Zeit der leidenschaftlichen Kämpfe in den vierziger und fünfziger Jahren, von seinen Gegnern maßlos heruntergerissen und angefeindet. Mit der Zeit, als St. in den Bundesrath übergetreten war, milderte sich freilich das Urtheil seiner bernischen Gegner etwas. „Mancher Berner im conservativen und aristokratischen Lager, welcher St. als Parteimann feindlich gegenüberstand, [447] freute sich im Stillen des kernigen Mannes und seiner hochpatriotischen Haltung in eidgenössischen Dingen.“ Dafür erwuchs ihm aber eine neue heftige Opposition in der Ostschweiz bei Anlaß der „Savoyerfrage“ und besonders infolge seiner Haltung in den Eisenbahnangelegenheiten.

Was ihn aber bei dem Volke vor allem beliebt machte, was es am meisten an ihm schätzte, das war die Schlichtheit und Einfachheit seines Wesens, das die echte Berner- und Schweizernatur niemals verleugnete. Freunde und Gegner wußten stets, daß sie in St. einen ganzen Mann vor sich hatten.

Eine größere Biographie von Stämpfli existirt noch nicht. Bei der Enthüllung seines Denkmales erschien 1884 eine von U. Hohl verfaßte kleine Denkschrift, der auch der Nachruf von K. Schenk beigedruckt ist. Einen größeren Aufsatz hat ihm A. Gobat gewidmet in dem Sammelbande „Schweizer eigener Kraft“ (Neuenburg 1906). Das übrige Material ist zerstreut in Zeitschriften, Zeitungen und officiellen Drucksachen des Kantons Bern und der Eidgenossenschaft.
K. Geiser.