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Artikel „Munzinger, Joseph“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 46–49, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Munzinger,_Josef&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 04:19 Uhr UTC)
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Munzinger: Joseph M., schweizerischer Staatsmann, geb. am 12. November 1791 zu Olten (Kanton Solothurn), † am 6. Februar 1855 zu Bern. Der Sprößling einer angesehenen, wohlhabenden Kaufmannsfamilie in dem stets rührigen Städtchen Olten, war M. schon durch seine Geburt in gegebene politische Bedingungen hineingebracht. Denn Olten war, neben Solothurn selbst, als einziges städtisches Gemeinwesen des nach streng aristokratischen, ausschließlichen Gesichtspuncten von dem Patriciate der Hauptstadt regierten Kantons, von vornherein in die Bahn der Opposition gewiesen. Eine der frühesten Erinnerungen Munzinger’s war, daß er 1798 beim Bürgerfeste wegen Einführung der helvetischen Republik als Knabe Tell’s aufgeführt worden sei. Als 1814, nach dem Sturze der Mediationseinrichtungen, gegen den Staatsstreich vom 8. Jan., der die vorrevolutionären Zustände herstellen sollte, ein allerdings mißglückter Gegenschlag von Olten her ins Werk gesetzt wurde, befand sich M. mit anderen Angehörigen seiner Familie unter den zumeist durch die Executionsmaßregeln betroffenen Bürgern. Er sah sich mehrmals kurz nacheinander bald der Gefangennehmung, bald dem Exile ausgesetzt. Als aber mit dem Jahre 1830 die Möglichkeit neuer Umgestaltungen sich eröffnete, trat M. sehr bald in die erste Reihe der Bewegung, da gerade Olten berufen schien, sich an die Spitze der in Gährung begriffenen Landestheile zu stellen. Auf den 22. December hatten die Liberalen eine Volksversammlung in die Mitte des Kantons, nach Balsthal, einberufen, wo nun M. vor 2500 im Schnee stehenden Zuhörern auf der Freitreppe eines Wirthshauses – „Der Munzinger uf der Stäge“ sang ein Volkslied – das Programm des schon vorher massenhaft hinausgeworfenen demokratischen Manifestes, des „rothen Büchleins“, auslegte, in der Forderung gipfelnd, daß die Souveränetät des Volkes ohne Rückhalt ausgesprochen werden solle. Rasch kamen nun die Dinge in Fluß, und nachdem am 13. Januar 1831 die den Balsthaler Begehren entsprechende neue Verfassung in der Volksabstimmung [47] angenommen worden war, wurde bei der Neubestellung der Behörden M. in den Großen und durch diesen in den Kleinen Rath gewählt und ebenso dazu berufen, den Kanton auf der Tagsatzung zu vertreten. Nach einem abermaligen Wahlsiege, der radicalen Oltener über die Mittelpartei, wuchs sein Einfluß noch mehr, und seit 1833, wo er Standespräsident wurde, lenkte er unbedingt sein engeres Vaterland. M. hatte keine höhere wissenschaftliche Bildung gewonnen, da er für den Handelsstand bestimmt war, und er war, als er aus commercieller Bethätigung in Italien nach Olten zurückgekehrt, stets auch mit den landwirthschaftlichen Arbeiten seines Hausstandes beschäftigt gewesen. Daneben hatte er jedoch als eifriger Musikliebhaber, nach einer in seiner Familie fast erblichen Anlage, sowie ferner als Mitglied einer über Olten hinaus gerne gehörten Theatergesellschaft, an den das kleinstädtische Treiben veredelnden idealen Bestrebungen sich bethätigt. Ganz besonders aber bewies er überall einen scharfen praktischen Blick und große Willenskraft. Mathy, welcher 1838 als Lehrer nach dem Dorfe Grenchen im Kanton Solothurn gekommen war, urtheilt über den obersten Staatsbeamten, der auch in Solothurn seinem Specereiladen kaufmännisch vorstand, für dessen Kleinkram die eigenen Töchter sich bethätigten, derselbe habe, obschon zumeist Autodidakt, den Eindruck eines „Mannes von echter Humanität, selbstlos, von angenehmen Formen, unerschütterlich wo es dem Gemeinwohle galt“, gemacht. M. sagte einmal zu Mathy, der ein scharfes Vorgehen der Regierung gegen die Grenchener nach einer Gehorsamsweigerung derselben bedauerte, daß er selbst, wäre er nicht abwesend gewesen, militärische Execution hinausgeschickt haben würde: „Der Einzelne des Volks hat ein großes Maß der Freiheit; aber wir dürfen nicht dulden, daß in einem einzigen Falle nur eine Haarbreite darüber hinausgegangen werde. Sonst sind wir verloren!“ – Wie in anderen 1830 neugestalteten Kantonen, wurde auf allen Gebieten, so auch dem der Schule, häufig rücksichtslos, gearbeitet; aber nach der in Zürich gelungenen Umwälzung von 1839, als in Luzern, im katholischen Theil des Aargau – dort um Joseph Leu sich schaarend – eine zugleich als klerikal und als demokratisch sich darstellende Partei ihre Wünsche zum Ausdrucke brachte, da wollte auch im Kanton Solothurn ein beträchtlicher Theil der Bevölkerung den gesetzlichen Termin ausnützen, da nach Verlauf der vorgesehenen zehn Jahre eine Revision der 1831 aufgestellten Verfassung statthaft wurde. Aber die Regierung von Solothurn verstand es, die aus der Zeit vor 1830 stammende, von ihr herüber genommene Autorität zu halten, auf ihr festes Beamtengefüge sich zu stützen, als Anfang 1841 nach dem Muster Luzerns (vgl. Bd. XVIII, S. 469 und 470) ein Eintreten in die demokratischen Geleise vorausgesehen werden mußte. Da scheute sich M. nicht, unter Heranziehung seiner „Längendorfer Schützen“, einer Art persönlicher Leibgarde, auf die er sich unbedingt verlassen konnte, und von sicheren Miliztruppen, seine Zusage an den Großen Rath bei dessen Verabschiedung vor der Volksabstimmung, daß die Regierung unter allen Umständen für die Ruhe des Kantons bedacht sein werde, in thatkräftiger Weise zu erfüllen. Schon vor dem Abstimmungstage füllten – in den ersten Januartagen von 1841 – die Häupter der Bewegungspartei die Solothurner Gefängnisse; der Kleine Rath wurde permanent erklärt und verlegte seine Sitzungen unter den Schutz der Truppen in die Kaserne; bis zum 18. Januar war, durch Annahme der in Munzinger’s Sinne revidirten Verfassung, die Fortsetzung der bisherigen Regierungsart, die Stellung des vor keiner Consequenz zurückschreckenden leitenden Staatsmannes als Landammann, an der Spitze seines Volkes, von neuem gesichert. Allerdings verstand es sich nun auch von selbst, daß M. der von Luzern her den katholischen schweizerischen Bevölkerungen empfohlenen kirchlich-politischen Richtung scharf gegenüber stand, und zwischen ihm, welcher den katholischen Kanton Solothurn der um Luzern sich bildenden [48] „Schutzvereinigung“, dem sonderbündischen Lager, entzogen hatte, und den Führern der sieben vereinigten Kantone bildete sich allmählich ein ausgeprägter persönlicher Gegensatz heraus, welcher insbesondere mehrmals auf den bewegten Tagsatzungen der vierziger Jahre zum Ausdrucke kam. Vorzüglich mit dem Luzerner Staatsschreiber, Bernhard Meyer, stieß er mehrmals hart zusammen, und dieser äußert in seinen hinterlassenen Memoiren über M. ein Wort eines Luzern geneigten baslerischen Tagsatzungsabgeordneten, daß der Gesandte von Solothurn förmlich von Galle leben müsse, da sein ganzes Gesicht, Alles, was er spreche, von Galle getränkt sei (vgl. auch Bd. XXI, S. 559). Aber eben „die staunenswerthe Beherrschung“, welche Meyer, zugleich neben voller Leidenschaftlichkeit, seinem Gegner zuschreibt, ermöglichte es M., Solothurn auf der von ihm gewollten Linie an der Seite der radicalen Kantone festzuhalten. Ueber die Freischaarenzüge von 1844 und 1845 sprach sich M. öffentlich vor allem Volke, in einer Schützenfestrede 1846, dahin aus: „Soll ich sie loben? Ich darf es nicht! Soll ich sie tadeln? Ich kann es nicht!“ Als dann jener „Donner und Blitz“, von deren Erscheinen allein er eine Erlösung aus den unglücklich gewordenen Verhältnissen, die Anbahnung einer neuen Bundesverfassung erhoffte, sicher bevorstanden, 1847, als für die in Aussicht stehende Tagsatzung der Executionsbeschluß gegen den Sonderbund ermöglicht werden sollte, da wußte M. durch seine zwingende Beredsamkeit, wie der im Mai versammelte Große Rath kurze Zeit unschlüssig zu sein schien, die Majorität für den Beschluß festzuhalten, daß der Gesandtschaft zur Tagsatzung die Instruction mitgegeben werde, nöthigenfalls für die Auflösung des Sonderbundes mit Waffengewalt die Stimme abzugeben. Wieder aber war dann auch M. jener Standesgesandte, der in der verhängnißvollen Schlußsitzung vom 29. October, als Bernhard Meyer vor seinem und seiner Gesinnungsgenossen Weggang Gott für sich zum Zeugen anrief, seine Leidenschaft nicht länger zurückhalten konnte, sondern die feierliche Stille durch den Ausruf störte, daß man den Namen Gottes für eine Sache gegnerischerseits anrufe, welche gewiß nicht göttlicher, sondern teuflischer Art sei. – Nach dem Siege der Tagsatzungsmehrheit im November 1847 zählte nun M. in Folge seiner langjährigen Erfahrungen in schweizerischen Bundesverhältnissen zu den bereitwilligst angehörten Rathgebern für den Aufbau der neuen Bundesverfassung. Er war im Frühjahr 1848 ein besonders einflußreiches Mitglied der durch die Tagsatzung bestellten Revisionscommission, und ihm vorzüglich dankte man die Annahme des Zweikammersystemes für die Bundesversammlung, weil hierin das einzige Mittel zur Ausgleichung der sich widerstreitenden Ansprüche von großen und von kleinen Kantonen liege. Nach erfolgter Annahme der neuen Verfassung, am 12. September, wurde M. am 16. November bei Bestellung der neuen schweizerischen Regierung durch die Bundesversammlung als viertes Mitglied in den Bundesrath erwählt. Baumgartner schreibt die Wahl des Landammanns eines Mittelkantons, welcher den Sieg der radicalen Partei sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht habe und selbst vor den Mitteln der äußersten Härte zur Erreichung dieses Zieles nicht zurückgeschreckt sei, einmal dessen persönlichem Einfluß zu, dann dem Umstande, welcher ihm auch die Zustimmung Vieler aus dem anderen Parteilager gesichert habe, daß M. nämlich sich in einsichtiger Weise und mit vielem persönlichem Muthe im Sturmjahre 1848 allen Sympathien für die Propaganda der Revolution in und außer der Schweiz bestimmt offen entgegenstellte. Im Bundesrath übernahm M. das Finanzdepartement und hatte da sogleich das ebenso nothwendige, als schwierige Werk der Münzreform anzutreten, für welches er die ausgezeichnete Kraft des Basler Bankdirector Speiser (s. d. Art.) zu gewinnen wußte. 1851 wurde er Bundespräsident und trat als solcher an die Spitze des politischen Departements. Auch in Bern war M., getreu seiner Oltener [49] Vergangenheit, einfach im Auftreten, bedürfnißlos, nüchtern geblieben, und für die größeren Aufgaben stand ihm die frühere gewissenhaft ausgenützte, ungewöhnliche Arbeitskraft, die reife Erfahrung zu Gebote, so daß in den schwierigen Zeiten der Revolution und Reaction seine Collegen oft zuerst sich frugen: „Was sagt wohl M. dazu?“ Aber 1853 befiel ihn eine erste ernste Krankheit, und am 6. Februar 1855 erlag er dem neu sich einstellenden Leiden, nachdem er noch am Tage vorher sich Arbeitsmaterial hatte an sein Bett bringen lassen. Auf einem Dorffriedhofe bei Solothurn fand er seine Ruhestätte.

Vgl. neben dem trefflichen Lebensabrisse von Alfred Hartmann in dessen „Gallerie berühmter Schweizer“, Bd. I (1868), besonders in den größeren Werken A. von Tillier’s und J. Baumgartner’s, über die Geschichte der Schweiz seit 1830.