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Artikel „Schweizer, Alexander“ von Friedrich Meili in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 772–775, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schweizer,_Alexander&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 09:14 Uhr UTC)
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Schweizer **): Alexander S. Der Zürcher Theologe Alexander S. ist am 14. März 1808 in Murten, Kanton Freiburg, geboren, wo sein Vater, Johs. Jak. S. als Pfarrer amtete. Seine Familie hatte der Theologie schon früher bedeutende Vertreter zugeführt. Ihr gehörte Suicerus (Johs. Kaspar S.) an, ein ausgezeichneter Kenner des Griechischen, dessen Hauptwerk, der „Thesaurus ecclesiasticus“ (1682 und 1728) noch 1821 supplementirt wurde und bis zur Stunde von Bedeutung ist. Sein Sohn, Johs. Heinr. S., Verfasser [773] mehrerer gelehrter Schriften, folgte, um seiner freien Richtung willen in Zürich angefeindet, einem Ruf nach Heidelberg.

Zehn Jahre alt kam Alexander S. an das neuerrichtete Gymnasium zu Biel und schon 1821 an dasjenige zu Basel, an welchem damals Alexander Vinet als Lehrer der französischen Sprache und Litteratur wirkte. Vom Jahre 1822 an weilte er bis zu seiner 1831 erfolgenden Ordination in Zürich, wo Lehrer wie Johs. Kaspar Orelli und Hofrath Horner seinen Gymnasialunterricht, Chorherr Schultheß in wohlwollendster Weise sein Theologiestudium förderten. Von besonderer Bedeutung aber wurde für S. 1832 sein Berliner Aufenthalt und die Einwirkung Schleiermacher’s, an den er von de Wette in Basel besonders empfohlen war. Er erwies sich in der Folge nicht bloß als der bedeutendste Schüler des großen Berliner Theologen, sondern auch als der originale Fortbildner seiner Theologie. Selbständiges Wesen prägte sich überhaupt frühe bei S. aus. Zwei kleinere wissenschaftliche Untersuchungen, die er 1833 publicirte, nehmen, indem die eine auf den Streit zwischen „Rationalismus und Supranaturalismus“, die andere auf eine „exegetisch-kritische Darstellung der Versuchungsgeschichte“ eintritt, sogleich zwei so ziemlich im Centrum liegende Themata zum Vorwurf. Ein feines Verständniß für die Besonderheit der Religion und ihre Offenbarungsträger neben dem Gebiet der abstractern Wissenschaft bekundet schon die nächstfolgende Abhandlung von der „Dignität des Religionsstifters“.

Unerwartet früh sah sich S. mitten in eine gesegnete Predigtwirksamkeit hineinversetzt. Nachdem er sich 1833 eben in Jena inscribirt hatte, wünschte ihn der erkrankte Pastor Hirzel als Vicar nach Leipzig. Gleich von Anfang an bekundete der junge Praktiker sein nicht geringes Predigertalent. Den Text gewissenhaft auszubauen und bei aller Freimüthigkeit und vernünftigen Begründung die individuell christlichen Lebensgedanken sich ungeschmälert auswirken zu lassen, hat er wie wenige verstanden. Eine Frucht dieser seiner Leipziger Predigtthätigkeit ist der erste von sechs Bänden christlicher Predigten, die S. nach und nach veröffentlichte. In besonderem Maße mußte aber dem aufstrebenden Theologen das Wirkungsfeld entsprechen, das sich ihm 1834 in seiner Vaterstadt Zürich aufthat, eine Vereinigung von Pfarramt und akademischer Thätigkeit. Als Vicar am Großmünster betrat er die Kanzel Zwingli’s, der an ihm hernach einen so verständnißvollen und getreuen Sachwalter finden sollte, als Privatdocent habilitirte er sich mit einer grundlegenden Arbeit über „Begriff und Eintheilung der praktischen Theologie“, welche Disciplin er schon vom Jahre 1835 an als Professor beständig zu pflegen hatte. Die Mitwirkung an der „Neuen protestantischen Kirchenzeitung für die reformirte Schweiz“ gab S. die erwünschte Gelegenheit, in gründlicher Weise das Leben Jesu von Strauß und damit zugleich dieses neu aufgehende theologische Gestirn selbst zu würdigen. Daß Strauß die Quellen des Lebens Jesu gründlich gesichtet, rechnete auch er ihm zum Verdienst an, hielt aber bleibend dafür, daß derselbe den positiven Theil seiner Arbeit, die Reconstruction eines Lebens Jesu auf dieser neuen Basis schuldig geblieben sei. Drum wußte er sich im guten Recht, als er 1839 in der dreifachen Eigenschaft eines Mitgliedes der theologischen Facultät, des Erziehungsrathes und des großen Rathes hauptsächlich auch mit Rücksicht auf die erregte Volksstimmung sich gegen die Berufung von Strauß nach Zürich aussprach. Dabei dachte er aber nicht von ferne daran, der akademischen Lehrfreiheit irgend welchen Eintrag geschehen zu lassen.

Schweizer’s wissenschaftliche Untersuchungen galten zunächst der Disciplin der praktischen Theologie. Gleichzeitig mit K. I. Nitzsch baut er das von Schleiermacher abgegrenzte Gebiet derselben aus. Auch ihm ist die Gesammtgemeinde [774] Grundlage und Ausgangspunkt aller kirchlichen Thätigkeit. Sie stellt den Clerus auf, der nunmehr das Organ dieser kirchlichen Thätigkeit bildet. Je nachdem sich diese Thätigkeit auf das Ganze der Gemeinde oder einen Theil derselben oder auf sich beständig verändernde Gemeinde auswirkt, werden die Einzeldisciplinen der Liturgik und Homiletik, der gebundenen und freien Seelsorge, der Katechetik und Mission ausgeschieden. Auf einfachste Weise wird derart in einer schwierigen Materie Licht geschaffen. Schweizer’s „Homiletik“ aus dem Jahre 1848 und seine 1875 herausgegebene „Pastoraltheorie oder die Lehre von der Seelsorge“ geben Zeugniß von dem tiefen Verständniß ihres Verfassers für die praktischen Aufgaben der Kirche wie für die klare wissenschaftliche Definirung dieser Aufgaben. Erst 1844 that sich für S. das eigentliche Pfarramt am Großmünster auf. Er war indessen schon als Vicar ein wohlbekannter Prediger geworden. Die Gebildeten fanden Gefallen an der tiefen Lebensweisheit, die Ungebildeten am schlichten Vortrag dieser Predigten; die kirchlich gesinnten nahmen die wohlthuende religiöse Wärme und christliche Gedankenführung darin wahr, die der Kirche bisher entfremdeten die vernunftgemäße Darlegung der christlichen Heilsgedanken. Wichtige Zeitereignisse wurden mit großem Geschick in den Kreis dieser Betrachtungen hineingezogen. 38 Jahre lang hat er also die Gemeinde im besten Sinne des Wortes erbaut. Wie sehr ihm alle Unnatur in der Predigt zuwider war, zeigt er in einer polemischen Broschüre: „Die Restauration in der Predigt“ (1863).

Ganz besondere Verdienste erwarb sich nun aber S. auf dem Gebiet der Dogmatik und Dogmengeschichte. Ueberaus einleuchtend hat er in seiner 1844 bis 1847 erschienenen „Glaubenslehre der evangelisch reformirten Kirche“ die Eigenart des reformatorischen Lehrbegriffs dargethan und bewiesen, es könne eine Union der reformirten und lutherischen Kirche jedenfalls nie in der Weise verstanden werden, daß erstere einfach der letzteren sich assimilire. Habe die lutherische Kirche gleich von Anfang an mehr die judaisirende Verirrung im Katholicismus bekämpft, so die reformirte mehr die paganisirende. Uebereinstimmend hätten daneben Zwingli und Calvin die Machtvollkommenheit Gottes zum Mittelpunkt aller Dogmen gemacht.

Ein monumentales Werk sind die 1854–56 erschienenen „Protestantischen Centraldogmen, in ihrer Entwickelung innerhalb der christlichen Kirche dargestellt“, worin S. auf Grund eines zum Theil mit vieler Mühe zu Tage geförderten Quellenmaterials aufzeigt, was im 16. Jahrhundert vom protestantischen Princip erkämpft, im 17. Jahrhundert festgehalten und schulgemäß ausgeführt wurde, bis dann, nach den umbildenden und theilweis zersetzenden Einflüssen des 18. Jahrhunderts die Neuzeit um einen mit der vorhandenen Bildung vermittelnden Lehrbegriff sich bemüht. Ein umfassendes Quellenmaterial ist in diesem Werke trefflich gesichtet; die Darstellung der oft recht spröden Materie mitunter von plastischer Wirkung. Das hochbedeutende Werk ist bis zur Stunde noch zu wenig gewürdigt. Am besten aber lernen wir Schweizer’s tieffromme und wissenschaftlich-philosophische Art aus seiner 1863–1877 in zwei Auflagen veröffentlichten „Christlichen Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen“ kennen. Glaubenslehre, nicht Dogmatik nennt er absichtlich dieses Werk; Dogmatik sei Kirchensatzungswissenschaft. Er will aber keine solche schreiben, sondern was die historisch-religiöse Erfahrung uns darbietet, müsse an unserm frommen Gefühl gemessen, an der in uns selbst groß gezogenen religiösen Idee als Wahrheit geprüft werden. Durch und durch philosophisch gehalten, schöpft dieses für alle Gebildeten geschriebene Werk so recht aus dem Vollen und Ganzen des heutigen christlichen Gemeindebewußtseins.

Mit diesen nach Inhalt und Umfang hervorragenden Publicationen ist [775] Schweizer’s litterarische Thätigkeit aber nicht erschöpft. Eine Reihe kürzerer Abhandlungen erschienen in den Studien und Kritiken, den Theologischen Jahrbüchern und besonders in der Protestantischen Kirchenzeitung, zu deren Herausgebern er zählte. Eine Anzahl dieser Aufsätze ist dann noch in besonderer Sammlung unter dem Titel „Nach rechts und links“ (1876) veröffentlicht worden. Keine wichtige Erscheinung auf theologisch-philosophischem Gebiet ist S. entgangen. In gründlicher Polemik wandte er sich u. a. gegen die Hartmann’sche Philosophie, gegen Straußens alten und neuen Glauben und gegen die Janssen’sche Geschichtschreibung. „Zwingli’s Bedeutung neben Luther“, die erweiterte akademische Rede, welche er 1884 beim 400jährigen Jubiläum Zwingli’s gehalten, ist seine letzte Publication und eine Art Testament die 1878 herausgegebene, nicht umfang- aber desto inhaltsreichere „Zukunft der Religion“, worin er besonders ansprechend auch über die Grenzen des religiösen und wissenschaftlichen, speciell des naturwissenschaftlichen Erkennens redet. Bluntschli hat eingehend mit ihm über diese Publication correspondirt. Neben den Collegien über praktische Theologie, Symbolik, Dogmengeschichte u. s. w. las S. bei großem Zuspruch über philosophische und christliche Ethik, welch’ erstere insbesondere auch von Nichttheologen mit vielem Interesse gehört wurde. Dogmatik zu lesen entschloß sich S. noch, als nach dem Tode Al. Em. Biedermann’s dieses Fach an der Zürcher Hochschule eine Zeit lang eines freisinnigen Vertreters ermangelte.

Auf dem Katheder hat S. überaus klar vorgetragen. Die schwierigsten theologisch-philosophischen Materien gewannen durch seine Darstellung bedeutend an Durchsichtigkeit. Die Sprache war edel, die ganze Form des Vortrages, besonders auch in den größeren akademischen Reden, oft von classischer Vollendung. Die Kirchenleitung mochte seines gewichtigen Urtheils nicht ermangeln. Drei Jahrzehnte hat er in der obersten Kirchenleitung des Kantons Zürich gesessen und öfters wurde bei wichtigen kirchlichen Entscheidungen des gesammten schweizerischen Vaterlandes sein Rath eingeholt.

Schweizer’s Bedeutung ist anläßlich seines 50jährigen Docentenjubiläums im J. 1884 voll und ganz in Nahen und fernen Kreisen gewürdigt worden. Es wurden damals dem schlichten Manne die Huldigungen, welche nicht bloß aus schweizerischer Kirche und von schweizerischen Universitäten, sondern gleichzeitig aus Deutschland, Holland und Frankreich einliefen, fast zu viel. Nach kurzer, ziemlich schmerzloser Krankheit ist Alexander S. am 3. Juli 1888 verschieden. Bis 1871 hatte er sein Pfarramt am Großmünster inne gehabt, bis acht Tage vor seinem Tode seine akademische Wirksamkeit geübt.

Eine Selbstbiographie A. Schweizer’s ist unter der Aufschrift: „Prof. Dr. theol. A. Schweizer, biographische Aufzeichnungen, von ihm selbst entworfen“, mit einem wohlgelungenen Porträt in Lichtdruck von seinem Sohn, Staatsarchivar Dr. Paul S. herausgegeben worden (Zürich, F. Schultheß, 1888). – Ein vollständiges Verzeichniß der zahlreichen litterarischen Publicationen Schweizer’s findet sich in der Theol. Zeitschrift aus der Schweiz, Jahrg. 1885, S. 110 ff. vor. Ebenda, Jahrg. 1884: Zum 50jährigen Dozentenjubiläum des Herrn Prof. Dr. A. Schweizer; Jahrgang 1885: Die praktische Theologie nach A. Schweizer.

[772] **) Zu Bd. XXXIII, 371.