ADB:Muralt, Hans Conrad von
J. Caspar Escher (Bd. VI S. 359), dessen Vermählung mit Muralt’s einziger Schwester im J. 1806 den späteren Uebergang des großartigen Etablissements in den ausschließlichen Besitz beider Schwäger vorbereitete. Als der Vater M. 1812 aus der kaufmännischen Vorsteherschaft zurücktrat, wurde M. statt seiner Mitglied des Directoriums und dadurch in allen Angelegenheiten des zürcherischen Handels und des dem Directorium unterstellten Postwesens zu vorzüglicher Mitwirkung berufen. Daneben war er seit 1797 Offizier in der zürcherischen Miliz, wurde 1807 Oberstlieutenant der Cavallerie und 1813 Chef des „Ersten Auszuges“ (der sogenannten Standeslegion), während die Beiziehung als Secretär zu Tagsatzungscommissionen ihn auch mit dem eidgenössischen Militärwesen bekannt machte. Nach der Umgestaltung des Bundes und der kantonalen Verfassung durch die Ereignisse von 1813 begann für M. eine politische Laufbahn. Im J. 1814 zum Mitgliede des zürcherischen gesetzgebenden Großen Rathes ernannt, nahm er zunächst an der neuen Organisation des Militärwesens Antheil; er wurde 1816 Oberst und Inspector der Cavallerie und Mitglied der obersten Militärbehörde. Gleichzeitig in den städtischen Angelegenheiten thätig, erfüllte er 1818 mit Stadtrath Wieland von Basel einen Auftrag der Städte Zürich, Basel und St. Gallen mit glücklichem Erfolge: in Paris bei der französischen Regierung die Rückerstattung des Zwangsanleihens von über 2 Millionen Livres zu betreiben, das General Massena im Jahre 1799 den drei Städten auferlegt hatte. Es gelang den beiden Abgeordneten, für ihre auf Artikel XIX des Pariser Friedens von 1814 sich stützende Forderung den wirksamen Beistand des Herzogs von Wellington zu gewinnen, der als Oberbefehlshaber der noch in Frankreich stehenden Besatzungstruppen der Alliirten in Paris weilte und zum Schiedsrichter in solchen Rückerstattungsfragen bezeichnet war. 1821 beschwichtigte M., als eidgenössischer Commissär in’s Tessin gesandt, die Bewegungen, die dort durch Oesterreichs Krieg gegen Sardinien und innere Parteiung im Canton erregt worden. Im folgenden Jahre wurde M. vom Großen Rathe in auszeichnender Weise zum Mitgliede der zürcherischen Gesandtschaft an der Tagsatzung ernannt, an [55] deren Berathungen über das Project des sogenannten Retorsionsconcordates, welches sich gegen Frankreichs beschwerende Zollpolitik richten sollte, er im zürcherischen Sinne voller Freiheit des Handels und Ablehnung des Projectes gewichtigen Antheil nahm. 1823 wurde er nach dem Hinschied des verdienten Escher von der Linth (Bd. VI, 365) Mitglied der zürcherischen Regierung (des Kleinen Rathes) und 1828 auch des engeren Ausschusses derselben, dem Staatsrathe. Im Finanz- und Militärwesen wurde er hier vorzüglich thätig und die nämlichen Verwaltungszweige nahmen ihn jetzt auch in den schweizerischen Angelegenheiten mehr und mehr in Anspruch. Als Präsident des zürcherischen Directoriums (seit 1829), als zürcherischer Gesandter auf Tagsatzungen der Jahre 1823–1830, als eidgenössischer Oberst (1830), als Vicepräsident der obersten eidgenössischen Militärbehörde – neben dem jeweiligen Bundeshaupte, deren Vorstand, – und als Abgeordneter bei Verhandlungen mit dem Auslande über Zoll- und Handelsangelegenheiten war M. vielseitig thätig. In inneren politischen Fragen war seine Stellung in der zürcherischen Regierung eine besondere. Persönliche und gesellschaftliche Beziehungen freundschaftlichster Art verbanden ihn mit der Mehrzahl der Staatsmänner älterer Generation, deren Haupt Reinhard war; er theilte mit ihnen viele Erinnerungen und den Aberwillen gegen die Grundsätze und das Verfahren der Anhänger der Revolutionsepoche. Aber dem Blicke des mehr durch das Leben, als durch schulgerechte Studien gebildeten, nach allen Seiten hin in ausgedehntem Verkehr stehenden Mannes, der zudem sich fleißig mit der Tageslitteratur politischen und historischen Inhaltes bekannt machte, konnte es nicht entgehen, daß die bestehenden Formen des Gemeinwesens den Bedürfnissen der Zeit nicht entsprechend und dem heranwachsenden Geschlechte allzu enge seien. Seine eigene vermittelnde Natur, die ihm nicht gestattete, Parteimann im vollen Sinne des Wortes zu sein, trug dazu bei, ihm oft eine wenig dankbare Stellung zu schaffen. Inzwischen bewahrte ihm seine Haltung die Achtung bei Freunden und Gegnern und als die Pariser Julitage von 1830 in der Schweiz die Umgestaltung einer Reihe von cantonalen Verfassungen, auch der zürcherischen, zur Folge hatten, wurde M. nicht nur wieder Mitglied der Regierung, sondern, nach Usteri’s Tode, am 13. April 1831 auch zum Bürgermeister (einem der zwei Regierungshäupter) erwählt. Jetzt fielen auf ihn die mühevollsten Aufgaben. Denn er hatte nicht nur an der unter mancherlei Kämpfen sich vollziehenden neuen Organisation des Cantons sich zu betheiligen, sondern Monate lang als zürcherischer Gesandter der schweizerischen Tagsatzung in Luzern und als Vicepräsident der obersten Militärbehörde den Berathungen beizuwohnen, welche eine militärische Besetzung der schweizerischen Grenzen für den befürchteten Fall eines europäischen Krieges vorbereiteten. Insbesondere aber wurde ihm der dornenvolle Auftrag zu Theil, als Vorstand von Tagsatzungsrepräsentanten eine Vermittlung in den tiefen Wirren anzubahnen, welche den Canton Basel zerrissen, wobei die parteiische Haltung des zürcherischen Großen Rathes Muralt’s Stellung nicht wenig erschwerte. Seine Bemühungen waren fruchtlos. Die Baseler Vorgänge führten aber auch in der Eidgenossenschaft selbst und im Canton Zürich Bewegungen herbei, in Folge deren M. sich veranlaßt sah, mit sieben seiner Amtsgenossen im März 1832 aus dem zürcherischen Regierungsrathe auszutreten und sich auf den Beisitz im Großen Rathe zu beschränken. Auch die Stelle eines eidgenössischen Obersten legte er jetzt nieder. Den städtischen Angelegenheiten, denjenigen des Handels und der Industrie, als Präsident der Handelskammer, die 1835 an die Stelle des aufgelösten Directoriums trat, der Gründung der Bank in Zürich, deren Präsident er wurde, den frühesten Studien und Arbeiten für eine Eisenbahn Zürich–Basel (die freilich erst nach Jahren zu Stande kam) widmete M. [56] nun seine Kräfte. Als Abgeordneter der Eidgenossenschaft wirkte er in Zoll- und Handelssachen bei Unterhandlungen mit dem Königreich der Niederlande und mit dem deutschen Zollverein mit. Er ging in gleichen Zwecken 1836 als schweizerischer Bevollmächtigter nach Stuttgart. Er nahm seine Gewohnheit fleißiger Lectüre aller bedeutenden politischen und historischen Schriften wieder auf und schrieb 1838 sein Leben Reinhard’s („Hans von Reinhard, Bürgermeister des eidg. Standes Zürich und Landammann der Schweiz“, Zürich 1838), das erste Buch, welches die neuere Geschichte der Schweiz aus Originalquellen ausführlicher darstellte. In diesen friedlichen Beschäftigungen traf ihn unerwartet der Ruf, zum zweiten Male an die Spitze des zürcherischen Gemeinwesens zu treten, als 1839 die Straußischen Wirren in Zürich eine Umwälzung der Dinge herbeiführten. M. hatte sich im Großen Rathe aus Gründen religiöser Ueberzeugung und staatsmännischer Einsicht gegen die Berufung von Strauß zum Lehrstuhl der Dogmatik ausgesprochen. Ihn bezeichnete nun das allgemeine Vertrauen zum Mitglied und Haupte der neu zu bestellenden Regierung und er hielt für Pflicht, der an ihn ergehenden Aufforderung zu folgen, obwol er damit den angenehmsten, glücklichsten persönlichen Verhältnissen entsagte und die Last und Schwierigkeiten, die ihn erwarteten, wohl ermaß. Als der Große Rath am 18. September 1839 ihn zum Bürgermeister erwählte, unterzog er sich dieser Wahl und übernahm damit auch auf den 1. Januar 1840 die vorörtliche Leitung der schweizerischen Dinge, die 1839 und 1840 Zürich oblag. Am 6. Juli 1840 eröffnete er die schweizerische Tagsatzung. Aber bereits kündigten sich in ihren Verhandlungen die Kämpfe an, welche die Bundesrevisionsfrage in der Eidgenossenschaft erzeugen sollte. Mehr und mehr wurde die Bundesverfassung zum Angelpunkt, um den sich auch die cantonalen, durch die Zürcher Ereignisse allenthalb geschärften Parteiungen bewegten, und mehr als die Schwierigkeiten der inneren zürcherischen Politik wurde M. jetzt wieder durch die eidgenössischen Angelegenheiten, die aargauische Klosteraufhebung, die Jesuitenberufung in Luzern u. s. f. in Anspruch genommen. Als ihm gewiß wurde, daß auf eine friedliche Ausgleichung der Gegensätze, um die er sich bemühte, nicht zu hoffen sei, reichte er nach vier sorgenvollen Jahren dem Großen Rathe sein Entlassungsgesuch ein, dem die Behörde am 16. December 1844 in den ehrenvollsten Ausdrücken entsprach. Auch aus dem Großen Rathe selbst trat er jetzt, nach dreißig Jahren der Mitgliedschaft, zurück. In den ihm liebgewordenen Kreisen der Handelskammer (bis 1849), der Bank in Zürich (bis 1865), in städtischen Angelegenheiten, auch in der eidgenössischen Linthbaupolizeicommission (bis 1862) blieb M. bis ins höchste Alter für öffentliche Zwecke thätig. Im 86. Jahre zog er sich ganz in die Stille zurück. Ungewöhnlich frühe und zahlreiche Lücken, die der Tod in rascher Folge in den Kreis seiner Familie gebracht hatte, der Verlust seiner Gattin im 65. Jahre glücklichster Ehe trübten die letzte Lebenszeit des Greises, den im 90. Jahre ein sanfter Hinschied von seinen Prüfungen erlöste.
Muralt: Hans Konrad v. M., Bürgermeister in Zürich, geb. 31. Oct. 1779, † am 7. December 1869. – M., der Sohn eines angesehenen Mitgliedes und Vorstehers (Directors) der zürcherischen Kaufmannschaft, Heinrich v. M. († 1823), trat, nach erhaltener vorzüglicher Ausbildung, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in das Handlungshaus seines Vaters ein, dem er – nach dem frühen Tode eines älteren Bruders – allein zur Seite stand. Während der Revolutions- und Kriegsjahre in der Schweiz, 1799 für längere Zeit nach Stuttgart ausgewandert, kehrten Vater und Sohn nach Eintritt ruhigerer Zustände nach Zürich heim, wo sich M. bald als gewandter und glücklicher Geschäftsmann hervorthat. Mit großer Leichtigkeit der Auffassung in allen Dingen und unermüdlicher Thätigkeit verband er reiche gesellige Bildung, einen offenen und geraden Charakter ritterlichen Gepräges und ein Wohlwollen gegen Jedermann, die ihm allgemeine Achtung und Vertrauen gewannen. Er erhielt und hob mit dem Vater den Flor des Hauses. 1805 betheiligten sie sich an der Gründung der Baumwollenspinnerei und Maschinenfabrik der „Neumühle“ von- Schweizerische Zeitschrift f. Gemeinnützigkeit, IX. Jahrgang, 1870, Heft I (Nekrolog Muralt’s von dem Unterzeichneten). Briefe von M. in: „Leben der beiden Bürgermeister D. von Wyß“, Zürich 1885.