Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Nestroy, Johann“ von Richard Maria Werner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 447–455, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nestroy,_Johann&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 05:10 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Nestler von Speyer
Nächster>>>
Nethenus, Matthias
Band 23 (1886), S. 447–455 (Quelle).
Johann Nestroy bei Wikisource
Johann Nestroy in der Wikipedia
Johann Nestroy in Wikidata
GND-Nummer 118587080
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|23|447|455|Nestroy, Johann|Richard Maria Werner|ADB:Nestroy, Johann}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118587080}}    

Nestroy: Johann N., der bekannte Schauspieler und Possendichter, war geboren zu Wien am 7. December 1802 und starb zu Graz am 25. Mai 1862. Er entstammte einer angesehenen Wiener Familie, sein Vater war Advocat und gab dem Sohne eine gute Erziehung. N. besuchte das Gymnasium und wurde dann für die Laufbahn des Vaters bestimmt. Aber neben der Juristerei widmete er sich in Wien der Ausbildung seiner schönen Baßstimme. Nun war in Wien damals kein geselliges Vergnügen so hoch entwickelt als die Dilettantentheater; manche derselben erfreuten sich einer weit über das Gewöhnliche hinausgehenden Vortrefflichkeit und bilden wichtige Momente in der Geschichte des Wiener Theaters, ich erinnere nur an das Theater der originellen Frau Reißner auf der Landstraße. N. wirkte häufig bei solchen Haustheatern, den damaligen Theaterschulen, mit, und als er dann am römischen Rechte keinen Gefallen fand, beschloß er, sich ganz der Bühne zu widmen und beschritt die weltbedeutenden Bretter zuerst als Sarastro in der Wiener Oper mit gutem Erfolge. Nach einigen Rollen kam er nach Amsterdam als Opernsänger und wurde ein Jahr darnach für Brünn gewonnen. Hauptsächlich wirkte er in der Spieloper und [448] versuchte sich auch schon ab und zu in komischen Rollen, ebenso in Lemberg und Preßburg, wenn er in diesen beiden Städten wirklich engagirt war; „der Aufmerksame“ schreibt (Graz, 3. Juni 1826, Nr. 66): „Herr Nestroy ist die neueste Acquisition. Sein letzter Aufenthalt war Brünn, sein vorletzter Amsterdam …“ Erst während dieses Engagements von 1826 bis 1831 in Graz, wo er als Figaro im „Barbier“ und als Kaspar im „Freischütz“ mit großem Glücke debütirte, machte er ganz den Uebergang zum Komiker; seine erste komische Rolle war der Longimanus in Raimund’s „Diamant des Geisterkönigs“; er gefiel zwar nach den Recensionen in Kollmann’s „Aufmerksamen“ sowol in der Oper, als im Schauspiel, aber am meisten und bald ausschließlich verwendet wurde er in den Possen jener Zeit und in den Stücken Raimund’s; er spielte die Rollen, welche dieser Dichter in Wien „creirt“ hatte, so wird besonders seine Leistung im „Bauer als Millionär“ gerühmt.

In Wien soll er übrigens während dieser Zeit noch in classischen Stücken vor das Publicum getreten sein und Rollen wie Lionel, Burleigh u. dgl. gespielt haben. Mit einem Worte, N. suchte noch sein Genre. In Graz wurde er anfangs noch „unser trefflicher Sänger und Komiker“, dann aber seit September 1830 nur mehr „unser beliebter Komiker“ genannt; schon lange war er nicht mehr in der Oper aufgetreten, denn Eine Rolle hatte seine Richtung entschieden. Schon in Graz spielte er (December 1827) mit köstlichem Witz und größter Naturwahrheit den Sansquartier in dem Stücke „Zwölf Mädchen in Uniform“; wenn er aus der Wachtstube als alter Invalide heraustrat, das linke Auge mit einer Binde bedeckt, in der einen Hand das Augenglas, in der andern das berühmte Buch, dann ging ein Schmunzeln durchs Publicum, bald aber wurde durch den drolligen Commentar classischer Werke die Lachlust der Zuschauer aufs Höchste gesteigert. Stets neue Witze, neue Spässe und neue Zoten wußte N. zu erfinden, seine bizarre Laune ließ kein Stück ungerupft und carikirte das Erhabenste. In Kollmann’s Zeitschrift „Der Aufmerksame“ (22. December 1827, Nr. 153) heißt es: „Hr. N. als Sansquartier gab eine lustige Hogarth’sche Art Invaliden, der mehr in der Liederlichkeit als im Dienst ergraut zu seyn schien. Seine steifen Knochen, seine hochaufgepolsterte Halsbinde, lassen vermuthen, daß er sich seiner Hinfälligkeit eben nicht sehr zu rühmen habe, und man möchte wetten, daß ihm das Auge eher in einer Schenke, als auf dem Schlachtfelde ausgeschlagen worden ist. Seine altzierliche Art zu reden, seine Neigung zur abenteuerlichen Lectüre machen es wahrscheinlich, daß er allerley hat werden wollen, nichts gewesen, und endlich Soldat geworden ist, um als solcher ebenfalls nichts zu seyn. Daher ist er mehr invalider Rekrut, als Soldat. Diesen so aufgefaßten Charakter hat Hr. Nestroy trefflich und zur wahren Unterhaltung des Publicums gegeben.“ Mit dieser Rolle und mit dem Adam im „Dorfbarbier“ eroberte er bei einem Gastspiele auf dem Josephsstädter Theater die Herzen der Wiener wie im Sturm. Der geriebene Director Carl gewann ihn für das Theater an der Wien, wo er seit 1831 auftrat.

Er kam dadurch in eine ziemlich feste theatralische wie litterarische Tradition, denn die fünf Wiener Theater hatten ihr bestimmtes Genre; im Kärnthnerthortheater pflegte man die italienische Oper, das Burgtheater stand damals unter spanischem Einflusse. Das Theater in der Josephstadt hatte die am wenigsten ausgeprägte Physiognomie, wechselte den Geschmack mit jedem Besitzer. Im Theater an der Wien gab es vor Allem die Kinderkomödien, jene auch heute noch in Provinzstädten beliebte Dressur der armen Kleinen, welche sich als Große geben und bewegen müssen. Aehnlich tief standen die Spectakel- und Ausstattungsstücke, deren litterarischer Werth nur durch Grade unter Null ausgedrückt werden könnte; ab und zu wurden Tragödien dargestellt, aber durch [449] den aus Bayern eingewanderten Theaterroutinier Carl war an dieser Bühne der Hanswurst in einer Modernisirung beliebt geworden. Dem Hanswurst, dieser Schöpfung Stranitzky’s, waren nacheinander der „Kasperl“, dann der „Thaddädl“ gefolgt, Carl schuf den „Parapluimacher Staberl“, eine stehende Figur, welche zahlreiche Stücke trug: Staberl in tausend Aengsten, Staberl als Zauberer, Staberl in der Wolfsschlucht, Staberl als Krampus, Staberl hier und Staberl da. Höher stand das Theater in der Leopoldstadt, welches hauptsächlich vier Gattungen pflegte; erstens die Parodie und Travestie: hatte in Wien ein neues Stück gefallen, das Theater in der Leopoldstadt brachte eine Parodie, hatte eine Schauspielerin etwa als Johanna d’Arc, Jungfrau von Orleans, einen großen Erfolg erzielt, das Theater in der Leopoldstadt brachte eine Johanna Dalk, Jungfrau von Obenaus, und erzielte großen Erfolg; sang die Catalani in Wien, gewiß betrat die Bühne in der Leopoldstadt eine „falsche Catalani“, wie etwa heute das Auftreten der Sarah Bernhard zu einem Stücke „Sarah und Bernhardt“ Anlaß gibt; dann parodirte man antike Mythologie, was uns noch aus Offenbach’s „Orpheus in der Unterwelt“ etc. geläufig ist; schon das Théatre italien von Gherardi enthält ähnliche Stücke; der Olymp wurde nach Wien versetzt, den Göttern Wiener Tracht und Wiener Wesen beigelegt, Jupiter wurde zum Wiener Bürger, welcher unter dem Pantoffel der zungenfertigen Juno steht und gerne Seitensprünge macht. Aus dieser Gattung entwickelte sich die dritte, die Feerie, welche in eine erträumte, aus allegorischen, mythologischen und sagenhaften Bestandtheilen zusammengesetzte Welt einführte und in Verbindung mit der irdischen Welt stand, Raimund’s „Verschwender“ kann uns diese Gattung am besten repräsentiren; blieb die Feenwelt weg, so ergab sich viertens das Wiener Localstück, welches Tagesfragen, neue Moden und Stadtereignisse etwa in der Weise des Fürsttheaters im Prater behandelte. Goedeke hat in seinem „Grundriß“ III, 796–805 mit feinem Verständnisse und großer Kenntniß diese Verhältnisse klar gelegt. In der Hauptsache bin ich seiner Darstellung gefolgt, habe jedoch Manches ändern müssen.

In diese Tradition trat nun N. und versuchte sich bald nicht bloß als Komiker, sondern auch als Possendichter. Schon in Graz hatte er begonnen, besonders für die Benefize selbst Stücke zusammen zu stellen; so wissen wir von einem Drama „Der Tod am Hochzeitstage“ (?), „Ydor, der Wanderer aus dem Wasserreiche“ (1828), „Funkelnagelneues Mischmasch“ (1830); im Jahre 1827 soll von dem Schüler Raimund’s ein Stück aufgeführt worden sein, welches heißt: „Die Verbannung aus dem Zauberreiche, oder dreißig Jahre aus dem Leben eines Lumpen“ *). Man könnte Nestroy’s Charakter nicht besser versinnbildlichen, als durch diesen Titel. Mit der Nachahmung Raimunds zugleich die Parodie, und Parodie ist das Losungswort, welches uns aus allen Stücken Nestroy’s entgegen tönt. Da begegnen uns entweder Parodien einzelner Werke wie „Der Einsilbige, oder: ein dummer Diener seines Herren“ (aufgeführt am 16. Januar 1829, Parodie auf Grillparzer? „Ein treuer Diener seines Herrn“), „Zamperl, der Tagedieb“ (1882), „Robert der Teuxel“ (1833), oder Parodien einer ganzen Gattung, wie „Nagerl und Handschuh, oder die Schicksale der Familie Maxenpfutsch“ (1832), „Der gefühlvolle Kerkermeister, oder Adelheid, die verfolgte Wittib“ (1832), „Die Zauberreise in die Ritterzeit“ (1832). Den Gipfel dieser Richtung und wol auch seines Könnens bezeichnet die berühmte Zauberposse „Der böse Geist Lumpacivagabundus, oder das liederliche Kleeblatt“ (10. April 1833), welche noch heute überall des größten Erfolges sicher ist und [450] in alle bedeutenderen Sprachen übersetzt wurde *). Der Vergleich mit Raimund drängt sich uns geradezu auf; Alles ist parodirt, das Reich Stellaris’ mit seinen lockeren, schuldenmachenden, flotten Bürschlein, die bizarre Verspottung des Goethe’schen Faustprologs, die Wette zwischen dem bösen Geiste Lumpacivagabundus und der Fee Fortuna ist der directeste Hohn auf Raimund’s halbmelancholische, poetische Cheristanefabel. Aus den anmuthenden, harmlosen Figuren der Valentingruppe im „Verschwender“ ist das liederliche Kleeblatt Zwirn, Leim und Knieriem hervorgewachsen. Alles ist ins Gemeine gezogen und Nestroy’s Verschwender verstehen es nicht, ihr Geld mit Eleganz durchzubringen, wie Flottwell. Nichtsdestoweniger sind Nestroy’s Gestalten von lebendigster Naturwahrheit und bleiben Muster genialer Individualisirung. Mit der Parodie „Der Zauberer Sulphur-elektromagnetikophosphoratus, oder die Fee Wallpurgisblocksbergiseptembrionalis“ und dem zweiten Theil des „Lumpazi“ (beide 1834) schließt dieser Zweig der Nestroy’schen Dichtungsweise. Er entschied, wie wir kaum bezweifeln können, Raimunds Geschick. Dieser vom Lorbeer des Burgtheaters träumende Dichter, welcher sich nur widerwillig in die Richtung des Komikers drängen ließ, hatte sich bemüht, die Posse zu heben, und es war ihm gelungen, die Wiener an seine feinere Kost zu gewöhnen; das Gemüthliche des Wieners trat bei ihm in der Form des Gemüthvollen entgegen, er bot wirkliche Poesie, einfach, künstlerisch, rein, kindlich. Da kam N. und zerpflückte hohnlachend die lustige Feenwelt, bezeichnete die Raimundische Richtung als eine simple, kindische, und mischte dem puren Wein Tropfen betäubenden Giftes: Cynismus und Gemeinheit bei. Eine gut verbürgte Anekdote erzählt uns, Raimund habe nach langem Sträuben endlich eine Vorstellung des „Lumpacivagabundus“ besucht, anfangs saß er stumm auf der ersten Gallerie, schüttelte nur zuweilen den Kopf, wenn schallendes Gelächter, tolles Klatschen die Späße lohnte. Mit einem Male wird er selbst von der Komik einer Situation, von einem ätzenden Witz gepackt und beginnt zu lachen, und als Alles zu Ende war, fuhr er mit zitternder Hand über die Stirn und sagte zu seiner Begleiterin: „Das kann i nit! Aber i sich, das g’fallt, i hab selber lachen müssen – na, so is’s halt mit mir und meine Stuck gar. Alles umsonst!“ Nicht Neid sprach diese Worte, sondern der gute poetische Kern in Raimund’s Wesen, aber Nestroy’s Princip lautete: „Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten – lachen sollen die Leut’, und mir soll die G’schicht a Geld tragen, daß ich auch lach’, das ist der ganze Zweck. G’spaßige Sachen schreiben und damit nach dem Lorbeer trachten wollen, das ist grad so, als wenn Einer Zwetschkenkrampus macht, und gibt sich für einen Rivalen von Canova aus.“ Schärfer kann der Gegensatz zweier Richtungen sich nicht aussprechen. Es kann kein Zweifel obwalten, auf wessen Seite die Kunst steht.

Nachdem N. das Werk Raimund’s zerstört hatte, wandte er sich dem echten Wiener Localstück zu, hier sind „Der Talisman“ (1840), „Das Mädl aus der Vorstadt“ (1841) und das prächtige Stück „Einen Jux will er sich machen“, die besten Vertreter; in dem letztgenannten zeigt sich diese Gattung am reinsten, im „Mädl“ spielt schon, wie so oft bei N. das Verbrechen herein und zerstört den ruhigen Genuß. Mit dem Jahre 1843 endet diese Periode, den Abschluß bildet etwa „Liebesgeschichten und Heirathssachen“. Dann geräth N. in eine durch französischen Einfluß bedingte Richtung, welche am besten durch den „Zerrissenen“, eine Nachahmung des „L’homme blasé“, bezeichnet ist (1844). Mit [451] unnachsichtlicher Schärfe rückt er nicht so sehr der Gemüthlichkeit, als dem Gemüth selbst zu Leibe, geistreich, pointirt führt er nach dem Grundsatze „nur der geistlose Mensch kann den Harm überseh’n, der überall durch die fadenscheinige Gemüthlichkeit durchblickt“ einzelne Characterbilder vor, Caricaturen, genial, aber verzerrt. Das Diabolische, Zersetzende, Grübelnde von Nestroy’s Wesen tritt dabei zu Tage, das ihn selbst zur Verspottung des Erhabensten, Heiligsten treibt, ihn nicht ruhen läßt und ihn reizt, in jedem Menschen den Uebelthäter aufzusuchen; er hat ausdrücklich gesagt: „Ich glaub’ von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich noch selten getäuscht“. Dieser Gedanke leitete ihn bei seinen Possen, für ihn war unter dem Himmel und im Himmel nichts heilig und erhaben, Alles schien nur ein Ziel für seinen Spott und seinen – Cynismus. Von der Zote machte N. den ausgedehntesten Gebrauch und konnte auch als Schauspieler durch Einen Blick, Eine Bewegung das Ernsteste zu einer schreienden Zote werden lassen. Und die Wiener folgten ihrem neuen Lieblinge durch Dick und Dünn; er verstand es, sich in Gunst zu erhalten und war als Schauspieler wie als Possendichter unermüdlich. Vom August 1831 bis zum Frühjahre 1845 spielte er im Theater an der Wien, dann zog er mit Director Carl in das umgebaute Leopoldstädtertheater, welches den Namen seines neuen Besitzers bis heute behielt. Seit dem Tode Carl’s (14. August 1854) leitete N. diese Bühne auch als Director bis zu seinem Rücktritt am 31. October 1860. Wie er selbst scherzte, war er während dieser Zeit sein fleißigstes Mitglied, er trat während seiner sechsjährigen Directionszeit 1421mal auf, also fast fünfmal in der Woche, da im Ganzen 2074 Vorstellungen in jener Periode stattfanden. Außerdem gastirte er in Oesterreich und Deutschland wiederholt. Nachdem er sich von der Bühne zurückgezogen und in Graz angekauft hatte, kam er noch zweimal für längere Zeit nach Wien, so daß er thatsächlich durch dreißig Jahre die Wiener Vorstadtbühne beherrschte und die Wiener an seinen Geschmack gewöhnte. Man darf sich nicht darüber täuschen, daß N. viel Unheil in Wien angerichtet hat. Er erzog den Wiener zum Großstädter, machte den harmlosen, gemüthlichen Phäaken, der lebte und leben ließ, zum nörgelnden unangenehmen Kritiker, dem Ernst und Idealität, Gefühl für das Erhabene und Rechtsgefühl mangelt, der sich an Nestroy’s Grundsatz hält: erlaubt ist nicht nur Alles, was nicht verboten ist, sondern Alles, was nicht entdeckt wird. Selbst das Verbrechen wird in Nestroy’s Possen nur verlacht, oder ist so mit dem Erlaubten verknüpft, daß beide nicht mehr unterschieden werden können. Darin liegt meines Erachtens eine bleibende Schädigung des Wienerthums.

Man möchte N. die Personification jenes Geistes nennen, welcher Wien damals im Innersten aufwühlte und die Revolution von 1848 vorbereiten half; jenen Geist der Kritik, der Alles zersetzte. N. sagte einmal ausdrücklich vom Verhältnisse seiner Stücke zu den Wienern: „Sie haben’s ja nit anders haben wollen!“ So wurzelt N. mit seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Schriftstellerei in Wien. Diese knüpft an die Arlequinaden und Hanswurstiaden an und enthält sowol in der Fabel als in den Charakteren eine Menge typischer Dinge. Das läßt sich im Einzelnen zeigen; ich greife nur zwei Charaktere heraus, welche uns in den verschiedensten Verkleidungen begegnen; das ist einmal jener Typus N., in dessen Darstellung er unübertrefflich war, jene Ledig, Eberhard Ultra, Blasius Rohr, Peter Spann, Nebel, Lorenz, Lips, Schnoferl, Weinberl, Schlucker, Eulenspiegel, Nitschke, Willibald, Fabian Strick etc., jene Streber, miserablen aber amüsanten Betrüger und Spitzbuben, jene lumpigen Philosophen, welche mit Allem ihren Schabernack treiben, suffisante Burschen voll treffender Bemerkungen, unwiderstehlicher Einfälle und voll zudringlichster [452] Frechheit. Sie haben, was der Wiener „a Goschen“ nennt, wofür das Hochdeutsche keinen Ausdruck, der Berliner das nicht vollständig gleiche „schnodderig“ hat; es sind bedenkliche Existenzen, welche mühelos „vorwärtskommen möchten“, einen Universalhang zum „Gaudée“ und „eine specielle Abneigung gegen die Arbeit“ haben. Im Gegensatz hierzu bilden die Klaus, Rochus, Thomas Pflöckl, Florian Fett, Tatelhuber, Gluthammer, Dominik, Melchior, Damian Stutzel, Sebastian Faden u. s. w. u. s. w. die Rollen, welche N. für Scholz schrieb. Der dumme Kerl von Wien; dummgutmüthig, naiv zudringlich, unbeholfen und ungeschickt, voll natürlicher unbewußter Komik, grob, rücksichtslos und so blöd, daß man über ihn lachen muß. Der Hausknecht Melchior mit seinem geflügelten Worte „das is classisch“, der Schlossermeister Gluthammer mit seinem Phlegma sind wol die besten Vertreter dieses Typus. Nur solche Figuren zeichnet N. mit sorgfältigster Individualisirung, alle Nebenfiguren sind kaum untermalt, besonders die besseren Classen nur schematisirt, Figuren ohne Blut in den Adern, wahre Geduldproben für die Schauspieler. Aber alle komischen Personen haben sogenannte dankbare Rollen, denn N. weiß, was wirkt, und suchte unermüdlich die Wirkung der vollendeten Werke zu erhöhen. Das können wir deutlich sehen, wenn wir etwa ein gedrucktes Stück mit der Aufführung vergleichen. Man wird überrascht sein über die großen Freiheiten, welche sich die Darsteller scheinbar gestatten; es sind aber keine Freiheiten, sondern Zusätze, welche sich aus der Zeit Nestroy’s durch Tradition vererbt haben. Man würde völlig fehl gehen, wenn man sich an die gedruckten Werke Nestroy’s hielte und darnach eine Charakteristik versuchte. Das geht schon aus dem einfachen Grunde nicht an, weil von seinen nahezu siebzig Possen nur dreizehn im Drucke erschienen sind; alle anderen werden blos handschriftlich als Soufflirbücher verbreitet. N. hatte mit Director Carl, welcher durch sein berüchtigtes Ausbeutungssystem reich geworden ist, einen harten Contract. In einem ungedruckten Briefe an Dr. Märzroth, welchen mir die Güte des Adressaten zu benutzen gestattet hat, bedauert er keinen Beitrag zu dessen Almanach „Brausepulver“ senden zu können, obwol er bereits zwei Gegenstände auszuarbeiten versuchte; „die Form aber, welche nicht die dramatische seyn konnte, trat mir jedesmahl hemmend entgegen … Die dramatische Form jedoch zu wählen, erlaubt mir meine Verbindlichkeit gegen Director Carl nicht, indem ich Alles, wenn es auch nur eine Scene wäre, ihm zur Benützung für seine Bühne abzuliefern verpflichtet bin, und erst 18 Monathe nach erfolgter Darstellung im Druck erscheinen lassen darf“.

Dieser Brief ist in doppelter Beziehung interessant, er bezeugt uns einmal, daß N. die dramatische Form zur zweiten Natur geworden war, und dann erklärt er uns, warum Nestroy’s Possen nicht sogleich nach ihrer Vollendung auch gedruckt wurden. Wenn dann die Posse „abgespielt“ war, anderthalb Jahre nach ihrer Aufführung sie drucken zu lassen, mochte N. vielfach überflüssig erscheinen, und so blieb die überwiegende Mehrzahl seiner Werke völlig ungedruckt; zudem verfügte er testamentarisch, daß seine handschriftlichen „Sachen“ nicht gedruckt werden dürften. Die meisten Theatermanuscripte gehörten zum Fundus instructus des Carltheaters, wurden aber von Carl’s Erben bei dem Verkaufe der ganzen Bibliothek an das neue Brünner Stadttheater zum größten Theile zurückbehalten. Trotzdem gewährt der Einblick in das Brünner Material interessanten Aufschluß. Mir wurde durch die Freundlichkeit des damaligen Directors Dr. Frankel im Jahre 1883 Einsichtnahme gestattet. Das Soufflirbuch des Lumpacivagabundus stimmt mit dem Druck von 1835, aber zahlreiche Correcturen zeigen, wie allmälig bei den Proben die Komik herausgearbeitet und das Ganze in die jetzt auf der Bühne geläufige Form gebracht wurde. In der Scene I. 9 beim Kaufe des Looses fehlt in der Hs. wie in der ersten Ausgabe der Spaß [453] mit dem Thaler, dann ist aber im Soufflirbuch bemerkt „Extempore. Lazzi mit dem Thaler.“ Der Scherz mit dem Rufen des Schneiders im ersten Acte ist gleichfalls späterer Zusatz. Die Scene zwischen dem Kleeblatt und dem „Hausirer“ (I. 9) lautete ursprünglich:

 Hausirer.
Nr. 439.
 Leim.
Das kann ich nicht brauchen.
 Hausirer.
Nr. 8521.
 Knieriem.
Das ist ein alt’s Numero. etc.

Erst bei den Proben ist die Verspottung der Litanei daraus geworden, jetzt sagen nämlich Leim, Zwirn und Knieriem nach jeder Nummer im Chorus „Nix für uns“, ein komischer Zusatz, welchen der Bühnenkomiker übrigens dem Kanzelkomiker Abraham a Scta. Clara abborgte; dieser behauptet im 23. Discurs seines „Gehab Dich wohl“ (Passauer Ausgabe Bd. II, 408) von den Weltleuten, sie riefen in der Fasten: „Häring, Häring, nix für uns; Stockfisch, nix für uns; Kraut, nix für uns; Knödl, nix für uns; Sterz, nix für uns; Nocken, nix für uns; Strudl, nix für uns“, bis es dann beim Gerichtstag heißen werde: „Himmel! Himmel! nix für uns! nix für uns!“ Die amüsanteste Scene des „Lumpaci“ III. 4, das Vorlesen des Briefes durch den Meister Hobelmann ist zuerst in der Fassung der Originalausgabe, dann aber auf einem eingeklebten Zettel mit zahlreichen Aenderungen vorhanden, welche die allmälige Entstehung der komischen Details deutlich erfassen lassen. Noch eine Kleinigkeit sei erwähnt, weil sie mir sehr charakteristisch erscheint: eine Figur des Dramas ist „Strudl, Gastwirth zum goldenen Nockerl in Wien“; Leim glaubt in ihm den Bräutigam seiner „Peppi“ erkennen zu müssen und ruft daher II. 6, nach dem Soufflirbuch: „O Strudl, Dich wünsch’ ich in die Hölle!“ Daraus wird dann schon in der Originalausgabe (S. 56) „O Strudl! – Der Strudl liegt mir im Magen, wie ein Knödel“; dabei ist sogar die Inversion von Interesse, weil sie dem Darsteller des Leim gestattet, den Witz ganz zur Geltung zu bringen. In der Wirthshausscene des ersten Actes wurden Reden des Schneiders später dem Schuster in den Mund gelegt und so die Charakterzeichnung einheitlich verschärft. Das Studium der Originalmanuscripte wird gewiß reiche Ausbeute gewähren, und die Theatertradition, welche jetzt noch lebendig ist, müßte für Denjenigen wichtig werden, der N. nicht mehr gesehen hat und so des besten Commentars zu seiner Wirkung entbehrt. Das ist nothwendig, denn N. war ein Theatermann, welchem nichts zu gering erschien, was den Eindruck auf das Publicum vergrößern konnte; nicht nur die Maske, selbst die Costüme waren, wie sein Wort lauten würde „classisch“. So hat er z. B. die Namen seiner Personen komisch und parodistisch gebraucht, selbst dann, wenn im ganzen Stück der Name nicht genannt wurde, sondern nur auf dem Theaterzettel erschien. Dadurch scheidet sich eine Figur scharf von der anderen und läßt sich im Gedächtniß behalten. Einige Beispiele genügen: ein Hausherr heißt Zins, mit Vornamen Georg Michael, weil Georgi und Michaeli die Wiener Zinstermine waren; der Seiler: Faden oder Strick; ein Reicher: Goldfuchs; Maxner ein armer Schlucker; ein zu Grunde gegangener Rentier: Hr. v. Brauchengeld; eine alte Jungfer heißt Anastasia Mispel, oder Lucia Distel. Witze mit solchen Namen sind selten. N. hat bessere Mittel, um Lacherfolge zu erzielen. Er versteht es vortrefflich, komische Situationen herbeizuführen ohne das Unwahrscheinliche wahrscheinlich machen zu müssen; das ließe sich am besten an der Posse „Einen Jux will er sich machen“ zeigen. Oder er wählt einzelne „Bilder“ („Talisman“, „Eulenspiegel“, [454] „Lumpaci“), welche jedoch im innigsten Zusammenhange stehen, entweder Eine oder mehrere Personen entwickeln helfen. Oder aber es werden uns die komischen Folgen irgend eines Mißverständnisses, einer Verwechselung dargestellt („Unverhofft“, „Der Zerrissene“).

In diese Situationen stellt nun N. seine komischen Personen, wobei sein Reichthum unerschöpflich scheint. Die Verbindung von Person und Situation ist meist ganz natürlich, fast selbstverständlich, und Eines erhöht die Wirkung des Andern. Und alles das wird dann ausgestattet mit den köstlichsten, drolligsten, tollsten Witzen und Einfällen, welche sich sehr gut in verschiedene Gruppen theilen lassen, in Wortspiele, Wiener Anspielungen, ausgeführte Vergleiche (den sogenannten Saphir’schen „Humor“), höheren Blödsinn, sinnige oder alberne Wendung, stehende Redensart, Antithese, unerwartete Wortfügung, Ueberraschung. Vieles ist Gemeingut, „geflügeltes Wort“ geworden, wenn es auch von Büchmann wie alles Wienerische bei Seite gelassen wurde. Natürlich konnte der Wiener Komiker die Couplets nicht entbehren, welchen schon Stranitzky, und seitdem alle Possendichter große Beachtung geschenkt hatten. Bei N. sind die Stoffe meistens die alten der Satire auf alle Stände, Pantoffelhelden, Hörnerträger, heirathssüchtige alte Jungfern etc. etc. N. ist nicht immer sehr glücklich in der Wahl des Zeitpunktes für die Einfügung der Couplets. Wiederholt wählt er das Quodlibet, um darin Opern und Opernsänger zu verspotten. Hier wie überall trifft er mit seiner Parodie den Nagel auf den Kopf. Ein Muster litterarischer Parodie ist z. B. „Judith und Holofernes“, worin Hebbel’s „Judith“ gesteigert und dadurch ad absurdum geführt wird (1847); auch der „Tannhäuser“, obwol nicht ganz Nestroy’s Eigenthum, wäre hier zu nennen.

Könnten wir Raimund’s Art als Humor bezeichnen, so müßte Nestroy’s Weise parodistische Komik heißen. Aber sein Wesen ist damit nicht ganz erschöpft; wie er im Leben nach dem übereinstimmenden Zeugnisse Derer, welche ihm näher standen, ein Mensch war, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte, so bricht mitunter auch in seinen Stücken sein Gemüth durch, aber es ist, als machte er sich sogleich über sich selbst lustig und verspotte uns, wenn wir ihm Glauben schenken. Leichtsinnig, fröhlich, eine echte Komödiantennatur war er im Leben und ließ sich nichts anfechten. Raimund’scher Empfindungen, Raimund’scher Sentimentalität war er nicht fähig, oder witzelte solche Regungen augenblicklich weg. Er sah überall Niedertracht, Raimund das Leid; er lachte die Menschen aus, während Raimund sie bedauerte; er verzerrte, Raimund verschönte; Raimund suchte die Disharmonie des Lebens zu lösen, N. steigerte sie; Raimund’s Humor war rührende Kindlichkeit, welche mit weit offenen Augen in die Welt starrte, Nestroy’s bizarre Laune war superkluge Gescheitheit, welche die Mängel der Welt mit scharfen Augen erfaßte; Raimund scheint immer wie aus einem schönen Traume, der noch in ihm nachzittert, zur traurigen Wirklichkeit zu erwachen, N. dagegen alles Schöne, Edle auf Erden für einen phantastischen Traum und nur den Schmutz für Wirklichkeit zu halten; jener ist Idealist, dieser Pessimist; jener quält sich selbst, dieser alle Andern. So vertreten uns Beide Lebensauffassungen, welche sich gegenseitig ausschließen. Aber im Leben war N. ängstlich, zurückhaltend, übermäßig bescheiden, der Teufel packte ihn erst, wenn er die Bühne betrat, sei es als Schauspieler, sei es als Schriftsteller. Am 29. April 1862 trat er zum letzten Male auf, und zwar in Graz als „Pitzel“ in seiner Posse „Umsonst“. Kaum einen Monat später traf ihn ein Nervenschlag in seinem sechzigsten Lebensjahre.

Ueber N. als Schauspieler und Possendichter findet sich das meiste in Feuilleton’s zerstreut; eine litterar-historische Würdigung fehlt noch. Sehr gut ist das Heft „Aus Nestroy“, Wien 1885 in dritter Auflage, von L. [455] Rosner zusammengestellt, von Friedrich Schlögl eingeleitet. – Wurzbach, Biogr. Lexikon. – Schlögl, Vom Wiener Volkstheater, Wien u. Teschen o. J. – R. M. Werner, Wiener Montags-Revue, 5. Februar 1883, Nr. 6.

[449] *) Wol eine Parodie von Lambert’s nach dem Französischen bearbeiteten Schauspiele: „Dreyßig Jahre aus dem Leben eines Spielers“.

[450] *) Melanie Metternich bestätigt in ihrem Tagebuch (Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren V, 421) die große Wirkung des Stückes, welches sie am 15. April 1833 zum ersten Male sah.