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Artikel „Hehn, Victor“ von Theodor Schiemann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 115–121, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hehn,_Victor&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:07 Uhr UTC)
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Hehn: Victor H., geb. am 8. Oct./26. Sept. 1813 zu Dorpat, † am 21. März 1890 zu Berlin. Der livländische Zweig der Hehn entstammt einer fränkischen Bauernfamilie, die seit 1602 im Dorfe Römershofen bei Schleusing nachweisbar ist. Victor Hehn’s Großvater, Johann Martin, wurde – wir wissen nicht auf Grund welcher Beziehungen – als junger Theologe 1766 nach Dorpat berufen, um die Stellung eines Rectors an den vereinigten Staats- und Stadtschulen zu übernehmen. Drei Jahre danach zum Prediger ordinirt, wurde er Diakonus an der Hauptkirche Dorpats zu St. Johann. Er vermählte sich mit der Tochter des um die Verwaltung der Stadt, wie um die Erforschung der Landesgeschichte gleich hochverdienten Dorpater Justizbürgermeisters Fr. K. [116] Gadebusch (A. D. B. VII, 298) und starb als Prediger an der esthnischen Kirche zu Odenpäh. Von den 9 Kindern dieses auch als Sprachforscher hervorragenden Mannes, ist Gustav Heinrich (geb. 1794, † 1823) der Vater Victor’s. Ursprünglich Theologe und Nachfolger des Vaters in Odenpäh, hat Gustav Heinrich 1800 sein Amt aufgegeben, weil er es mit seinen religiösen Ueberzeugungen nicht mehr meinte vereinigen zu können. Er zog nach Deutschland, studirte Philosophie und Jurisprudenz, und kehrte 1803 als Erlanger Dr. in die Heimath zurück. Er ist dann 20 Jahre lang am Dorpater Landgericht thätig gewesen. Gustav Heinrich war zweimal verheirathet. Von seiner ersten Frau geschieden, heirathete er in zweiter Ehe Amalie Wilde, die ihm 1813 als ersten Sohn Victor, den berühmten Sprachforscher und Culturhistoriker gebar.

Als der Vater starb, blieb die Wittwe in nicht gerade dürftigen, aber doch engen Verhältnissen zurück, die zur größten Sparsamkeit nöthigten, wenn die Erziehung ihrer drei Kinder den Bildungsansprüchen der Familie genügen sollte. Victor H. besuchte erst eine gutgeleitete Privatschule und absolvirte danach das Dorpater Gymnasium. Mit 17 Jahren wurde er Student, 1830 als stud. phil. an der Landesuniversität immatriculirt, doch gestatteten ihm die beschränkten Mittel der Mutter nicht, an dem studentischen Treiben theilzunehmen. Er hat vornehmlich philosophische und litterarische Studien getrieben und konnte, als er 1834 sein Staatsexamen bestand, als ein ungewöhnlich tüchtig vorgebildeter Philologe gelten. In Dorpat lagen damals die classischen Studien in guten Händen: Morgenstern (A. D. B. XXII, 231) und Neue, zwei wirklich hervorragende Gelehrte, sind vornehmlich seine Lehrer gewesen, beide ihrer Geistesrichtung nach auch den Realien zugewandt. Auch der Nationalökonom Friedländer und der Philosoph Jäsche, ein strenger Kantianer, scheinen auf seinen Bildungsgang von Einfluß gewesen zu sein, dagegen lagen die historischen Studien ganz darnieder. Nach dieser Richtung hin ist H. Autodidact gewesen, wenn auch nicht unerwähnt bleiben darf, daß der Professor der Geschichte, Friedrich Kruse, den Schwerpunkt seiner Studien in die Prähistorie legte. So unkritisch Kruse’s Methode auch war, ist doch immerhin möglich, daß er dazu beigetragen hat, den Blick Hehn’s auf die Geschichte der Urzeiten zu richten. Das wesentliche aber war wol der erstaunliche Umfang seiner Belesenheit. H. las mit der Feder in der Hand und die Excerpte, die er sorgfältig aufbewahrte, zeigen, daß er schon damals sammelnd den Quellen nachging, die ihn zu den Anfängen menschlicher Cultur führen sollten. Sein Blick richtete sich dabei vornehmlich auf Italien; um erst in Deutschland sein Wissen zu vertiefen und dann so lange irgend möglich in Italien weilen zu können, mußte er erwerben, denn das ganz geringfügige Capital, das er vom Vater ererbt hatte, hätte höchstens zu einer Reise von kurzer Dauer gereicht.

So wurde er Hauslehrer, erst in Wilna bei dem aus dem polnischen Kriege bekannten General v. Geismar, dann in Livland bei einem Herrn v. Lilienfeldt auf Weinsel bei Lemsal. Er hat in den vier Jahren, die ihm so hingingen, erstaunlich viel recipirt, seine litterarischen Neigungen und ein schönes musikalisches Talent, das er durch theoretische Studien vertieft hatte, gepflegt, sich aber in seiner pädagogischen Thätigkeit keineswegs glücklich gefühlt. Seine Gesundheit verlangte Schonung, im Verkehr war er schüchtern und meist zurückhaltend. Um so freier und kühner fanden seine Gedanken ihren Ausdruck in seinen Briefen und in den Aufzeichnungen, die seine Lectüre begleiteten. Im Sommer 1838 endlich war er so weit, um mit seinen sorgsam gesparten Geldmitteln die ersehnte Studienreise antreten zu können. Sie führte ihn über Schweden nach Deutschland, und da noch zwei Monate bis zum Beginn [117] des Wintersemesters in Berlin ausstanden, fand er Zeit zu einer Rheinreise. Dann folgten die Berliner Tage, die, knapp genug, nur das Wintersemester umfassen sollten, aber schließlich bis zum Mai 1839 ausgedehnt wurden. Es sind doch wol die für die wissenschaftliche und philosophische Richtung seines Lebens bestimmenden Eindrücke, die er hier aufnahm. Böckh, den er ein Genie erster Größe nennt, Lachmann und Bopp führten ihn in das Studium der vergleichenden Sprachforschung ein, die zum Fundament wurde, auf dem seine späteren Arbeiten ruhen. Dazu kam dann der Einfluß der junghegel’schen Schule, endlich die allgemeine Anregung, die ihm aus den Zeitungen politisch, aus den Theatern und Museen litterarisch und künstlerisch zufloß. Er hatte das Glück, in Berlin einen engen Freundschaftsbund – den ersten und wol auch den letzten seines Lebens – mit einem wissenschaftlich gleichgerichteten, hochbegabten, etwas jüngeren Landsmann, Georg Berkholz, zu schließen, so daß der lebendige Austausch der neuen Eindrücke und der neuen Erkenntniß der ganzen Zeit seines Berliner Aufenthalts einen weiteren Reiz gab. Wäre nicht die alles überwiegende Sehnsucht nach dem Süden gewesen, er hätte, den Bitten des Freundes nachgebend, wol noch ein zweites Semester in Berlin verbracht. Aber er trug es nicht länger. Mitte Mai 1839 brach er auf, zu Fuß, den Wanderstab in der Hand, durch Sachsen die Elbe hinauf nach Prag, über Franken, wo er in Römershofen die letzten seines Geschlechts findet, nur Frauen, denn der Manneszweig der Hehn ist dort erloschen, nach Nürnberg, Regensburg, München, über die Alpen an den Comersee und so fort, genau den Weg, den er im Schlußcapitel seines berühmten Buches über Italien dem „jungen Doctor“ für seine erste Wanderung durch Italien empfiehlt. Er solle, so schreibt H., mit Oberitalien beginnen, dann zum Apennin aufsteigen und das kunst- und geschichtsreiche Toscana durchwandern, dann nach kürzerem Verweilen in Rom bis Girgenti und Syracus vordringen, um endlich auf der Rückkehr durch einen bleibenden Aufenthalt in der ewigen Stadt das Werk zu beschließen und die Erziehung zu vollenden. Er fügt hinzu: „Du magst auch ein Tagebuch führen, da trage Abends deine Klagen, deine bösen Erfahrungen, deine kategorischen Aussprüche, deine kindischen Entzückungen ein – aber lasse niemand hineinblicken, noch viel weniger gib es in den Druck, denn alles, was darinsteht, ist unreif und voreilig, und wenn du diese ersten Blätter später wieder aufnimmst, wirst du selbst über deine Thorheit staunen oder lachen.“ Das Tagebuch Hehn’s aus dieser seiner ersten italienischen Reise liegt uns heute gedruckt vor. Nicht von ihm, sondern nach seinem Tode herausgegeben als ein kostbares biographisches Material zum Verständniß einer bedeutenden Persönlichkeit. Es zeigt uns den jungen H. recipirend und in plastischer Anschaulichkeit reflectirend. Alles was er empfängt, gestaltet sich ihm zu lebendiger Anschauung, drängt ihn zur Prüfung, zu historischer Controle an der Hand der Schriftsteller des Alterthums, die ihm überall als treue Begleiter zur Seite stehen. Je länger je mehr steigt der Gedanke an eine Geschichte der Cultur Italiens vor seiner Seele auf, aber die Fülle der Anregung, die er in sich aufgenommen hat, ist so gewaltig, daß er noch Jahre brauchen wird, auch nur einen Theil der Probleme darstellend zu lösen, die ihm als Ergebniß seiner italienischen Reise, als würdige Aufgaben einer Lebensarbeit vorschweben und ihn nicht ruhen lassen.

Am 10. März 1840 trat er die Heimreise an. Erst über Toulon, Marseille, Lyon nach Paris, dann über Belgien nach Deutschland zurück. Mitte October ist er wieder in Berlin, wo er noch einen Monat mit dem Studium der Pflanzenphysiognomie Humboldt’s eifrig beschäftigt ist. Die ersten Anregungen zu seiner „Wanderung der Kulturpflanzen und Hausthiere“ [118] scheinen ihm hier gekommen zu sein. Sehr schweren Herzens hat H. die Rückreise angetreten. Ende des Jahres war er wieder in Dorpat; er absolvirte ohne jeden Zeitverlust das Examen für die Stelle eines „Oberlehrers der alten Sprachen“ und wurde im Februar 1841 wissenschaftlicher Lehrer an der höheren Kreisschule der kleinen livländischen Hafenstadt Pernau. Unter ziemlich engen Verhältnissen hat er dort bis 1846 ausgeharrt in einem Beruf, der ihm innerlich verhaßt war, denn H. war kein Pädagoge, und seiner in sich gekehrten Natur fehlte jenes Etwas, das eine unbändige Jugend in Zügel hält. Seine Hoffnung war, sich durch seine Arbeit eine Stellung zu erringen, die seinen geistigen Anlagen mehr entsprach. Er begann mit der Umarbeitung seiner Reisetagebücher, und wol im Zusammenhang damit sind die beiden ersten Arbeiten entstanden, mit denen er vor die Oeffentlichkeit trat. 1843 erschien als Schulprogramm die feinempfundene Abhandlung „Zur Charakteristik der Römer“, 1844 eine zweite Programmschrift: „Ueber die Physiognomie der italienischen Landschaft“. Eine andere Abhandlung: „Ueber das Lateinschreiben der heutigen Philologen“ blieb ungedruckt, eine zweite, ganz druckfertige: „Ueber die Authenticität der Reden des Thucydides“ stellte er zurück, als er im April 1846 die Aufforderung erhielt, als Lector der deutschen Sprache und Litteratur an die Universität Dorpat zu ziehen. Gleichsam, um mit einer Periode seiner Entwicklung abzuschließen, veröffentlichte er, kurz bevor er sein neues Amt antrat, in einer angesehenen livländischen Zeitschrift, dem „Inland“, einen Aufsatz über die Stadt Pernau. Es ist eine meisterhafte historisch-geographische Skizze, die in eine Schilderung von Stadt und Bewohnern, wie er sie kennen gelernt hatte, ausmündet. In Dorpat hat H. fünf glückliche Jahre verbracht, die zwar nicht zur Veröffentlichung größerer litterarischer Arbeiten führten, aber für ihn ungemein fruchtbar und fördernd wurden, weil seine Vorlesungen das gesammte Gebiet der deutschen Litteratur bis in die Gegenwart hinein umfaßten und sich mit einer Einführung in das Studium des Gothischen combinirten. Er arbeitete seine Collegienhefte bis zu stilistischer Vollendung aus und zog durch die Originalität und Tiefe seiner Auffassung die besten Kreise der Stadt neben den Studenten in seine Vorlesungen. Sie sind im Manuscript fast vollständig erhalten und würden noch heute, wenn man sich zur Veröffentlichung entschließen wollte, eine Zierde in der Reihe unserer Litteraturgeschichten sein. Neben der Arbeit ging ein anregender persönlicher Umgang her. Bis 1850 hatte er seinen Freund Berkholz – dem jede staatliche Anstellung verboten war und der sein reiches Wissen als Hauslehrer verschwenden mußte – in nächster Nähe, dann waren es die Collegen an der Universität, zumal der Jurist Osenbrüggen, livländische Edelleute, die in Dorpat lebten, vornehmlich das gastliche Haus des Baron Bruiningk, dessen Gemahlin, eine geborene Fürstin Lieven, ihm eng befreundet war. Aber gerade der Verkehr mit dieser geistreichen Frau sollte zu einer verhängnißvollen Wendung in seinem Leben führen. Der Antheil der Baronin an der Befreiung Kinkel’s hatte die Beschlagnahme ihrer Papiere und in Dorpat die Verhaftung derjenigen Personen zur Folge, die mit ihr in Correspondenz gestanden hatten. H. erfuhr in Pernau, wo er den Sommer bei seinem jüngeren Bruder Richard verbrachte, von der Verhaftung Osenbrüggen’s, kehrte aber trotzdem nach Dorpat zurück, weil er wußte, daß in seinen Briefen an Frau v. Bruiningk nichts irgend Verfängliches sich finden könne. Als er aber in Dorpat eintraf, wurde er sofort verhaftet und nach Petersburg geschafft, wo er in den Kasematten der Peter-Paulsfestung einige Wochen in enger Untersuchung verbringen mußte und dann, da ihm nichts nachgewiesen werden konnte, weil er vollkommen unschuldig war, die Polizei aber nicht Unrecht [119] haben durfte, zur Verbannung nach Großrußland verurtheilt. Den Ort seines Aufenthalts stellte man ihm frei, nur solle es keine der Residenzen und nicht eine Universitätsstadt sein. Er solle in Staatsdienste treten, jedoch nicht im Unterrichtsministerium, vorher aber drei Monate in der Peter-Paulsfestung absitzen. H. wählte Tula, wo er Verwandte hatte, und Mitte November 1851 ist er dort eingetroffen. Man machte ihn zum „Beamten zu besonderen Aufträgen“ beim Gouverneur. Es war eine Stellung, die jedoch nur nominell für ihn bestand, so daß er völlig unbehindert in Tula seiner Wege gehen konnte und, da er bald durch Ertheilung von Musikunterricht auch einen kleinen Nebenerwerb fand, in leidlich bequemen Verhältnissen leben konnte. Was ihm fehlte, waren Bücher und wissenschaftlicher Verkehr; erst sehr allmählich gelang es ihm, die Trümmer seiner Bibliothek herüberzuretten. Was ihm über die Oede des Verkehrs hinüberhalf, waren Sprachstudien – er lernte russisch – und sein Goethe. In ihm zumal hat er gelebt und in allergrößtem Umfang das Fundament zu einer Goethebiographie gelegt, die zwar nie niedergeschrieben wurde, aber doch als Vorstudie zur Arbeit seines Greisenalters, der Gedanken über Goethe, diente. Auch die nach seinem Tode veröffentlichte Studie über Hermann und Dorothea ist in Tula entstanden. Sie blieb wie so vieles, was er entworfen hatte, liegen als Theil eines Ganzen, das zu groß angelegt war. Wichtig für seine geistige Art war, daß sich ihm in Tula der Blick für das besondere slavische Wesen schärfte: die Eigenthümlichkeiten der Rassen des Volksthums bilden fortan einen sorgfältig vervollständigten Theil seiner Sammlungen. Er pflegte sie unter der Ueberschrift „De moribus“ zu vereinigen, und dieses ethnographische Interesse führte ihn dann weiter zu neuen Untersuchungen, welche bestimmt waren, festzustellen, welches das Erbe war, das von Urzeiten her durch die Erlebnisse der Altvordern als inhärente Anlage oder als Instinct in die Seele der gegenwärtig lebenden Volksgenossen übergegangen war. So erweiterte sich ihm selbst in seinem „Tomi“, wie er es zu nennen pflegte, der Gesichtskreis. Eine Culturgeschichte Europas, das schien ihm ein hohes Ziel, und wenn in seinem Schicksal eine günstige Wendung eintreten sollte, meinte er wol es erreichen zu können.

Diese Wendung brachte der Tod Nicolaus’ I. Im April 1855 wurde H. „begnadigt“ und bald danach als Hülfsarbeiter an der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek angestellt. – Schon ein Jahr später avancirte er zum Oberbibliothekar, und damit trat er in eine Lebensstellung, die nach allen Richtungen hin seinen Wünschen zu entsprechen schien. Er war 42 Jahre alt, wenn gleich zart und schwächlich, so doch ohne organische Fehler und leidlich gesund. Er fand als Collegen an der Bibliothek Berkholz, seinen besten Freund, wieder und an der damals noch in ihren hervorragendsten Vertretern aus Deutschen bestehenden Akademie der Wissenschaften einen ungemein fördernden und anregenden Umgang. Männer wie Böthlingk, Schiefner, Kunik, v. Middendorf gehörten zu seinem intimeren Umgangskreise, auch die geistvolle Hofdame der Großfürstin Helena Pawlowna, Editha v. Rahden, zog ihn heran; endlich in der öffentlichen Bibliothek hatte er einen Bücherschatz zu steter Verfügung, wie ihn die begehrende Phantasie des Gelehrten nur immer wünschen mochte. Das alles regte zur Production an. Eine lange Reihe kleinerer Arbeiten: Vorträge, Correspondenzen, wissenschaftliche Gutachten sind ihm so entstanden, das Wesentliche aber waren die beiden Hauptwerke, die schon damals seinen Ruhm in der litterarischen und wissenschaftlichen Welt begründeten. 1864 erschien sein Buch über „Italien“, das er bescheiden Ansichten und Streiflichter nannte und das noch bei seinen Lebzeiten dreimal aufgelegt wurde, 1869 aber die [120] „Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang von Asien nach Griechenland und Italien, sowie in das übrige Europa“. Die von H. gewählte Charakterisirung des Inhalts als „historisch-linguistische Skizzen“ ist für das Urtheil, mit dem er selbst an das Ergebniß seiner Studien herantrat, bezeichnend. Er hat nie gemeint abgeschlossen zu haben und sah in dem Einzelnen stets nur Bruchstücke des großen Gesammtbildes der Cultur Europas, das ihm vorschwebte. Auch die Studie „Ueber das Salz“ ist solch ein Bruchstück aus dem Zusammenhang seiner culturhistorischen Studien, ganz wie ein Aufsatz über den Humanismus, den er schon vor einer Reihe von Jahren in der Baltischen Monatsschrift unter einem Pseudonym veröffentlicht hatte. Der in meiner Biographie Hehn’s irrthümlich als seine Arbeit citirte Aufsatz über die Juden ist nicht von ihm, sondern von dem Redacteur des Journal de St. Pétersbourg, Horn, verfaßt. Daneben hat H. lebhaften Antheil an dem politischen Treiben der Gegenwart genommen, wie seine Correspondenzen in der Baltischen Monatsschrift und einige im Concept erhaltene Correspondenzen für ein nicht nachweisbares reichsdeutsches Blatt zeigen. Er stand der russischen Wirklichkeit ironisch und skeptisch beobachtend gegenüber und hat in der Petersburger Periode seines Lebens ein fortlaufendes Tagebuch geführt, dem er die Ueberschrift de moribus Ruthenorum gab. Seine Absicht war auch hier, den Stoff im Zusammenhang zu verarbeiten, aber er ist über einen Anlauf nicht hinausgekommen, so daß, um den Schatz dieser Beobachtungen nicht verloren gehen zu lassen, nichts übrig blieb, als sie in der Reihenfolge der Eintragungen zu veröffentlichen (Stuttgart 1892). Endlich hat H. noch einen sehr wesentlichen Antheil an der auf Befehl Alexander II. vom Grafen Modeste Korff unternommenen großen Materialiensammlung zur Geschichte Kaiser Nikolaus I. Die Charakteristik der auswärtigen Politik des Zaren (Ein Blick auf die auswärtige Politik des Kaisers Nikolaus I), die er auf Grund dieser Materialien 1857 verfaßte, gehört auch heute noch zum lehrreichsten, was über diese Frage geschrieben worden ist.

So gingen ihm die Petersburger Jahre hin, in angeregtem Verkehr, steter Reception und langsamer Production. Aber wo er mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat, war es stets ein wissenschaftliches Ereigniß und eine Bereicherung unserer classischen Litteratur. Er ist von Petersburg aus noch viermal nach Italien gezogen, gewöhnlich aber verbrachte er den Sommer in Pernau, wo sein Lieblingsbruder Richard lebte. Sein Tod 1868 riß eine schmerzliche Lücke in den Zusammenhang von Hehn’s Leben, die nie ganz ausgefüllt wurde. Als H. sein 60. Lebensjahr erreicht hatte, nahm er seinen Abschied. Er war inzwischen zum wirklichen Staatsrath und damit zur Excellenz und zum erblichen Edelmann erhoben worden, hat aber weder von diesem noch von jenem Prädicat je Gebrauch gemacht. Die Pension, die ihm die 30 Jahre seines Staatsdienstes eintrugen und die Zinsen des kleinen Capitals, das er von seiner Mutter geerbt hatte, gestatteten ihm einen lange treu gehegten Wunsch zu erfüllen. Im October 1873 siedelte er nach Berlin über. Seine Hoffnung war, die reichen Arbeitspläne, die noch in ihm lebendig waren, auszuführen. Aber diese Hoffnung ist ihm nicht erfüllt worden. In den 17 Jahren, die ihm noch zu leben beschieden waren, hat er nicht eigentlich neues mehr producirt. Die „Gedanken über Goethe“ fielen wie eine reife Frucht vom Baume seiner Tulaer und Petersburger Studien. Es ist kein Gedanke in ihnen, den er nicht vor langen Jahren schon vorgedacht hatte. Wenn dieses Buch trotzdem als ein classisches Meisterwerk in der Goethelitteratur bestehen wird, erkennen wir daran, wieviel H. noch hätte leisten können, wenn die Verhältnisse seiner productiven Thätigkeit günstiger gelegen hätten. [121] Seine Uebersiedlung nach Berlin kam zu spät; er war verwöhnt durch die bequeme Arbeitsgelegenheit, welche die kaiserliche Bibliothek in Petersburg ihm geboten hatte. Zur Arbeit im Lesesaal der Berliner kgl. Bibliothek konnte er sich nicht entschließen, noch weniger zum Entleihen von Büchern. So blieb er auf seine, wenig umfangreiche Handbibliothek beschränkt. Dazu kam, daß ein wissenschaftlich anregende Umgang, wie er ihn in Petersburg gewohnt war, fehlte. Er hatte keinen Familienverkehr und kein berufsmäßiges Arbeitsfeld. Gewiß hätte seine Ernennung zum Mitglied der Berliner Akademie eine Wandlung herbeiführen können. Aber daran scheint niemand gedacht zu haben. Auch dauerte es geraume Zeit, ehe er sich in Berlin geistig acclimatisirte. Sein Verkehr war wesentlich auf das Zusammentreffen in einer Weinstube beschränkt. Erst in der sogen. Julian’schen Akademie, d. h. in dem Kreise, der sich um Julian Schmidt sammelte, dann in einer anderen Gesellschaft, deren Mittelpunkt Lothar Bucher und Moritz Busch waren. Was ihn mit beiden verband, war seine Bewunderung für den Fürsten Bismarck. Aber er litt zugleich an der Brutalität, die bei Busch in erstaunlich herber Weise zum Ausdruck kommen konnte. Berlin hat H. auch zum Antisemiten gemacht. Er legte Sammlungen de moribus Judaeorum an und sorgte um die Corrumpirung der modernen deutschen Sprache.

So ging sein Leben einförmig und weniger inhaltreich hin, als seiner Persönlichkeit entsprach. Die älteren Freunde starben einer nach dem anderen. Sein Gönner Graf Modeste Korff, die Baronin Editha v. Rahden, Georg Berkholz, sein Bruder Julius. Was an die Stelle trat, war ihm kein Ersatz. Auch fehlte es dem alt gewordenen Junggesellen an einer rechten Häuslichkeit. Nach nur dreitägiger Krankheit ist er am 21. März 1890 einsam gestorben. H. war in seiner wissenschaftlichen Arbeit ein großer Charakter, von unbeugsam ernster Thatkraft, im Leben dagegen schüchtern und zurückhaltend. Er hat den Schlag, der ihn 1851 traf, eigentlich niemals verwunden. Aber ohne allen Zweifel gehört er in die Reihe der geistigen Koryphäen Deutschlands im 19. Jahrhundert.

Vgl. O. Schrader, Victor Hehn. Ein Bild seines Lebens und seiner Werke. Berlin 1891. – G. Dehio, Lebensnachrichten über Victor Hehn in der Einleitung zur 4. Auflage von Hehn’s Italien. 1892. – Theodor Schiemann, Victor Hehn, ein Lebensbild. Stuttgart 1894. – Richard M. Meyer, Deutsche Charactere. Berlin 1897. Daselbst auch die erschöpfende Aufzählung seiner Arbeiten.