ADB:Tafel, Gottlieb Lukas Friedrich

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Artikel „Tafel, Gottlieb Lukas Friedrich“ von Carl Neumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 342–346, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tafel,_Gottlieb_Lukas_Friedrich&oldid=- (Version vom 8. Dezember 2024, 03:00 Uhr UTC)
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Tafel: Gottlieb Lukas Friedrich T. (in den lateinischen Schriften Theophil) hat als Philolog das Verdienst, Pionier der byzantinischen Studien in Deutschland geworden zu sein. Geboren als Sohn eines Landpfarrers am 6. September 1787 in Bempflingen an der rauhen Alp (heute Station an der Eisenbahn Stuttgart-Tübingen), sollte er nach dem ursprünglichen Wunsch des Vaters einen anderen als den geistlichen Beruf ergreifen. Als aber der frühe Tod des Vaters der Wittwe, einer Pfarrerstochter aus dem Remsthal, nicht viel mehr hinterließ, als die Sorge um vier kleine Kinder, riethen die Freunde doch zu der wohlgeebneten theologischen Laufbahn, und so besuchte T. zunächst die Schulen in Kannstatt und Tübingen, dann seit 1801 die niederen Seminare von Blaubeuern und Bebenhausen und kam 1805 auf das Stift nach Tübingen. Unter seinen Universitätslehrern war der berühmte Orientalist Schnurrer, und T. erinnerte sich dankbar dieser Studien, als er später Fragmente des arabischen Geographen Edrisi und des hebräischen Reiseschriftstellers Benjamin v. Tudela übersetzte und erklärte. 1810 ging T. durch Vermittlung des späteren Inspectors des Baseler Missionshauses, Chr. Blumhardt, als Hauslehrer der Adoptivsöhne des Grafen Reventlow für die Dauer „einer Olympiade“ nach Holstein. Wieder nach Württemberg heimgekehrt, wirkte er seit Ende 1814 im praktischen geistlichen Dienst als Pfarrvicar, als ihn seine Neigung immer stärker zur Philologie [343] hinüberzog. Schon seine ersten Vorlesungen, die er seit 1815 als Repetent am Stift hielt, fanden vielen Beifall. Auch betheiligte er sich an der burschenschaftlichen Bewegung. Er wurde 1818 außerordentlicher Professor für alte Litteratur an der Universität Tübingen und 1827 zweiter Ordinarius neben dem etwas phlegmatischen Conz. Seine schriftstellerische Thätigkeit war nicht gering in Erklärung und Herausgabe griechischer Schriftsteller; auch unterstützte er seinen juristischen Collegen Schrader in der Unternehmung und Vorbereitung, das corpus juris neu herauszugeben (s. A. D. B. XXXII, 428). An die Beschäftigung mit seinem Lieblingsdichter Pindar knüpfte ein Zufall seine nähere Bekanntschaft mit byzantinischen Dingen. Nachdem zwei Bände seiner „Dilucidationes Pindaricae“ 1824 und 1827 erschienen waren, machte ihn sein Schüler Stälin aufmerksam, daß die von ihm längst vermißte Einleitung zum Pindarcommentar des Byzantiners Eustath sich handschriftlich in Basel finde. Während T. nun diese Handschrift studirte, die noch eine Menge anderer Werke des gleichen Verfassers enthielt, erwachte in ihm ein lebhaftes Interesse für Eustath, seine Umgebung und seine Zeit (12. Jahrh.). Daß bei dem Tübinger Professor die Berührung mit byzantinischen Dingen, die von hundert anderen seiner Collegen nur als Unannehmlichkeit empfunden zu werden pflegte, zum Ausgangspunkt einer fruchtbaren Beschäftigung ward, ist auffällig genug. Doch darf man zwei Umstände nicht übersehen. Einmal war in der Geschichte der Universität Tübingen eine alte Beziehung zu Byzanz vorhanden. In der Geschichte des Protestantismus genießen die Verhandlungen, die im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts von Tübingen aus mit dem Patriarchen von Constantinopel gepflogen wurden, eine gewisse Berühmtheit. Durch Stefan Gerlach und Andere waren damals griechische Handschriften nach Tübingen gekommen, und wenn auch ein guter Theil davon im dreißigjährigen Kriege nach München wanderte, so blieb doch der Nachlaß des Gräcisten Crusius, eines Gelehrten, der in jenen Tagen weit über Tübingen hinaus großen Rufes genoß, zurück und war T. wohlbekannt; in dem Einladungsprogramm zur Antrittsrede seines Ordinariats hatte er schon 1827 aus dem Nachlaß von Crusius Stücke eines byzantinischen Rhetors des 15. Jahrhunderts herausgegeben. Hierzu muß man des großen Aufsehens sich erinnern, das seit Ende der zwanziger Jahre die litterarische Thätigkeit Fallmerayer’s machte. Seine extremen Ansichten über die Schicksale des griechischen Volkes im Mittelalter, seine politischen Meinungen über Rußland, in dem er die echte Nachkommenschaft byzantinischen Wesens erkannte, lenkten mit vielem Erfolg die Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Balkanhalbinsel. Die persönliche Bekanntschaft Fallmerayer’s machte T. erst 1840, als jener vor seiner Reise nach Trapezunt Tübingen besuchte. Es entstand daraus eine bleibende Freundschaft; aber in die Politik wurde T. nicht hinübergezogen. Er gab zunächst 1832 seinen Eustath heraus, nebst Quellen zur Geschichte von Trapezunt, die ihm Fallmerayer überlassen hatte. Dann aber warf sich sein Hauptinteresse auf das Studium der historischen Geographie der Balkanhalbinsel. Auf diesem Gebiet liegen seine eigentlichen Verdienste. Das Hauptstück aus diesen Studien ist die Monographie „De Thessalonica eiusque agro“ (1839), ein Werk von außerordentlicher Fülle historischen, geographischen und topographischen Wissens, welches freilich mehr hineingestopft als zu Genuß und Belehrung freigelegt erscheint. Eng verbunden mit diesem Buch sind die Schriften: „De via Romanorum militari Egnatia“ (zwei Tübinger Programme von 1837 und 1841, nebst einem Beitrag von Pouqueville), „Ueber den Fluß Wardar“ (rhein. Museum V), Neuherausgabe und Commentar zu den Strabo-Fragmenten über Thessalien und Makedonien (1844) und das Programm „Constantini Porphyrogeniti de provinciis regni Byzantini“ (1846), worin der jetzt veraltete Versuch gemacht ist, die geographischen Quellen [344] für jene Bereiche und Zeiten zu sammeln. Alle diese Beiträge zusammenzufassen, hat T. nicht unternommen. Eine Veränderung in seinem äußeren Leben trat damals ein. Als Universitätslehrer hatte er immer mit großem Beifall gelesen; seine große Frische und Originalität, der gute, oft cynisch gefärbte Humor des jovialen Junggesellen wird von allen Schülern bezeugt. Ende 1846 aber trat er Krankheits halber in den Ruhestand. Er wandte sich nach München; da ihm aber bemerkt wurde, daß er seine Pension nicht im „Ausland“ verzehren dürfe, schlug er seinen Wohnsitz in Ulm auf, bezog ein Haus bei der Donaubrücke und hat hier die letzten vierzehn Jahre seines Lebens gewohnt. Er wandte sich jetzt ganz der Quellenkritik und -herausgabe zu und hatte ein langes Programm für Veröffentlichungen aus der historischen und rhetorischen Litteratur der Byzantiner. Statt der in Aussicht genommenen Supplementa Eustathiana ließ er zunächst einige historisch wichtige Stücke seines Schützlings und philologischen Collegen Eustath in deutscher Uebersetzung erscheinen (Schrift über den Mönchsstand, 1847; Komnenen und Normannen, 1852); angesichts der Schwierigkeiten dieses in seiner Rhetorik höchst geschmacklosen und nach einer Originalität schlimmster Sorte haschenden Stilisten eine außerordentliche Leistung. Dem beigefügten Commentar muß man vorwerfen, daß er besonders in Citationen von unnützer Weitschweifigkeit ist und in profunder Gelehrsamkeit weit hinter ähnlichen Arbeiten von Du Cange zurücksteht. Schon bei seinen geographischen Arbeiten war T. die große Bedeutung von Venedig für die Kenntniß der byzantinischen Welt aufgefallen (vgl. die werthvolle Abhandlung im 5. Band Abh. der hist. Cl. der bair. Akad. 1849); jetzt verband er sich mit G. M. Thomas in München, und bei einem Aufenthalt in Wien im Herbst 1850 gewann der Plan eines venezianisch-levantinischen Urkundenbuches durch Unterstützung der kaiserlichen Akademie Gestalt. Im Juni 1852 besuchte T. Venedig, und 1856/57 erschienen drei Bände des Werkes, nachdem in einer vorläufigen Mittheilung die indices der großen venezianischen Urkundensammlungen aus dem Wiener Archiv veröffentlicht waren (Abhandl. der 3. Cl. der bair. Akad. Bd. 8, 1855). Die Anlage des Werkes ist gut; die Texte lassen zu wünschen übrig; der historisch-geographische Commentar enthält wiederum viel Gutes, aber auch Unnöthiges. Das Urkundenbuch ist, da Venedig damals österreichisch war, in die Sammlung Fontes rerum Austriacarum aufgenommen worden und steht in deren II. Abtheilung Bd. 12–14. Längst lag es in der Absicht Tafel’s, die zwei byzantinischen Historiker Theophanes und Chalkokondylas neu herauszugeben. Aber aus den großen Vorbereitungen quellenkritischer Thätigkeit, die, wie er richtig sah, allen weiteren byzantinischen Studien vorangehen sollte, erschienen nur ein Fragment des Theophanes (Sitzungsb. der Wiener Akad. phil.-hist. Cl. IX [1852]), „Meletemata critica zu Chalkokondylas’ Historia Turcica“ (1858) und die „Chronographie des Theodosios Melitnos“ in den Monumenta saecularia der bair. Akad. [3. Cl.] (1859). In dieser Beschäftigung lieferte er eine fortlaufende Kritik der Bonner Ausgabe byzantinischer Geschichtsquellen, von der er schließlich wiederholt urtheilte, sie sei höchstens als eine lobenswerthe Druckcorrectur älterer Ausgaben zu schätzen. T. war Ende der zwanziger Jahre selbst als Mitarbeiter in Aussicht genommen, scheint sich aber nach Niebuhr’s Tode zurückgezogen zu haben. Jedenfalls ist es nicht genug zu bedauern, daß der einzige Philologe neben Ben. Hase, der damals in Deutschland im Stande gewesen wäre, die neue Ausgabe auf die wissenschaftlich erforderliche Höhe zu heben, ihr „in beobachtender Stellung“ gegenüberstand, und so die Aufgabe unlustigen und in diesen Gebieten unerfahrenen Händen überlassen blieb. Daß die byzantinischen Studien nicht länger das Stiefkind der classischen Philologie bleiben dürften, hat T. energisch ausgesprochen: „Um das Räthsel der byzantinischen Geschichte deuten zu können, muß man selbständige byzantinische [345] Studien gemacht haben, die sich von den antiken Studien in Sprache und Sache gewaltig unterscheiden. Man tritt in einen neuen Lebenskreis ein, in welchen die früheren Vorstellungen, die uns die Schule gab, nicht mehr eingefügt werden können: novus incipit orbis“ (gelehrte Anzeigen der bair. Akad. Bd. 39, 3. Cl., S. 152). T. war Mitglied der bairischen Akademie und der Frankfurter geographischen Gesellschaft; die meiste Anerkennung aber fand er in Rußland, wo der Betrieb der byzantinischen Studien in den historischen Zusammenhängen eine Art natürlichen Bodens besitzt. Die Petersburger Akademie, die auf Kunik’s Anregung 1848 durch eine Preisaufgabe Muralt’s Essai de chronographie byz. hervorrief, ernannte T. zu ihrem correspondirenden Mitglied. Von seiner Thätigkeit hat ein russischer Gelehrter neuerdings das rühmende Wort ausgesprochen, daß die heutigen Byzanzforscher in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Rußland nichts anderes als das Programm ausführen, das T. aufgestellt habe (Th. Uspenski im Δελτίον der griech. hist. und ethnol. Gesellschaft II, 541). Hätte T. einen anderen Wirkenskreis besessen, derart, wie Angelo Mai an der Schüssel der vatikanischen Bibliothek Band auf Band mit handschriftlichen Mittheilungen füllen konnte, so daß sein Name durch die berühmte Ode Leopardi’s auf seinen Fund von Cicero’s De republica („Italo ardito“) unsterblich bleiben wird, oder hätte er auch nur die großen Bestände griechischer Handschriften der Münchener Staatsbibliothek zu längerer Verfügung gehabt wie Hergenröther, so würde seine ganze Thätigkeit mehr definitive Leistung gezeitigt haben. So aber konnte er nicht mehr als anregend wirken auf eine spätere Zeit, die diesen Studien bereits ein selbständiges Interesse entgegenbrachte. Die Wege hat er abgesteckt und angehauen. Der Tod des 73jährigen am 14. October 1860 lenkte für einen Augenblick die Aufmerksamkeit des großen Publicums auf seine Person; denn seine Beerdigung gab zu einem auffälligen Vorkommniß Anlaß. Der Geistliche glaubte sich durch gewisse Aeußerungen, die T. in seinen letzten Wochen gethan, berechtigt, in der Grabrede zu sagen, der Verstorbene habe zwar als ein Heide und Sünder gelebt, aber in der elften Stunde durch Mitwirkung des heil. Geistes sich bekehrt. Der anwesende Mitarbeiter und Freund Tafel’s, Thomas, wurde durch diese Worte so leidenschaftlich erregt, daß er sofort am offenen Grab eine Gegenrede improvisirte. Der Auftritt beschäftigte nicht nur die Stadt Ulm; drei Wochen später brachte die Allgemeine Zeitung einen Nekrolog auf T. ohne Namensunterschrift. Aber der Artikel ist von keinem Anderen als von Fallmerayer. In seiner energischen, farbenreichen Schreibweise protestirte er gegen die Verketzerung Tafel’s und entfaltete ein glänzendes Bild der arbeitsamen und erfolgreichen Thätigkeit des Mannes, den er immer als den „ersten Byzantologen“ Deutschlands anerkannt hatte.

Ein curriculum vitae, leider nur bis 1827, steht am Schluß der Universitätseinladung zur Antrittsrede von Tafel’s Ordinariat gedruckt (ex Joh. Dociano excerpta Crusiana); wiederholt in dem Programm von 1846 (Const. Porph.). Von besonderem Interesse ist Tafel’s Vortrag vor der Wiener Akad. über seine Studien (Sitzungsb. der W. Akad. phil.-hist. Cl. V [1850] S. 167 ff.). Nur wenige Daten giebt Klüpfel in der Gesch. und Beschr. der Univ. Tübingen. Der schwäb. Merkur brachte nur eine kurze Notiz am 16. Oct. 1860 S. 1965. Der Artikel der Allg. Ztg. steht in der Beilage Nr. 312, 1860. Daß er von Fallmerayer ist, wird mir genügend dadurch bewiesen, daß ihn Thomas in Fallmerayer’s gesamm. Werken II, 409–16 wieder abdruckte. Ueber die Vorgänge bei der Beerdigung Ulmer Schnellpost 1860 Nr. 245 u. 250. Einiges verdanke ich privaten gütigen Mittheilungen. Ein Verzeichniß der Schriften Tafel’s bis 1827 steht in dem genannten curriculum. Von 1827–1851 am Schluß der Vorrede des Buches Komnenen und Normannen (2., unveränderter Abdruck 1870). [346] Das Spätere habe ich oben bemerkt. T. war auch Mitarbeiter der ersten Ausgabe der Uebersetzungen alter Classiker („Tafel, Osiander und Schwab“), an Pauly’s Realencyklopädie und an der Neuausgabe des Thesaurus des Stephanus. – Seine Bücher hat er der Stadtbibliothek in Ulm geschenkt; sein handschr. Nachlaß befindet sich seit dem Tode von Thomas bei dessen Schwester in München. Er enthält umfangreiche Vorarbeiten zur Neuherausgabe des Georgios Monachos und Laonikas Chalkokondylas.