ADB:Tafel, Johann Friedrich Immanuel

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Artikel „Tafel, Joh. Friedr. Immanuel“ von Heinrich Spitta in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 346–348, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tafel,_Johann_Friedrich_Immanuel&oldid=- (Version vom 8. November 2024, 08:59 Uhr UTC)
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Tafel: Joh. Friedr. Immanuel T., Prof. der Philosophie und Universitätsbibliothekar in Tübingen, geb. am 17. Febr. 1796 zu Sulzbach, † am 29. August 1863 zu Ragaz. Tafel’s Eltern, die in sehr dürftigen Verhältnissen lebten, erzogen den Sohn in milder und frommer Weise und nahmen die größesten Entbehrungen auf sich, um ihm die Grundlage zu einer wissenschaftlichen Bildung zu ermöglichen. Schon früh fiel die große Begabung des Knaben auf, die sich mit einer innigen und frommen, dem Mystischen zugewendeten Gemüthsart verband. Mit Spannung hörte er den allabendlichen Vorlesungen aus J. Stilling’s Schriften zu, die ihn so sehr fesselten, daß er in seinen Freistunden die Lecture fortsetzte und Nahrung aus ihr zu ziehen suchte. Von seinem 17ten Jahre an wurde er allmählich mit den Werken Swedenborg’s bekannt und fand in ihnen den Mittelpunkt, um den sich sein ganzes späteres Leben bewegen sollte. Swedenborg’s letztes Werk: Die ganze Theologie der Neuen Kirche, erregte seinen Beifall; die Darstellung der Dreieinigkeitslehre überzeugte ihn völlig, er fand sie nicht nur ganz schriftgemäß, sondern auch sehr klar; viel schwieriger wurde ihm die Annahme der Erlösungs- und Rechtfertigungslehre Swedenborg’s; hier hatte T. schwere innere Kämpfe zu bestehen, bis er sich von der Schriftgemäßheit auch dieser Lehren überzeugte. Mit „Abscheu“ wendet er sich nunmehr von der alten Lehre: daß wir Gottes Gebote nicht halten können, daß dies aber auch nicht nothwendig sei, um die Seligkeit zu erlangen. So vertiefte er sich mehr und mehr in theologische Betrachtungen, „innere Erfahrungen“ boten sich ihm dar, auch sah er einmal „Alles um sich her wie verklärt“ und sich „wie in den Himmel versetzt“. Seine Universitätsstudien umfaßten zunächst philologische und philosophische Gegenstände: er las die Schriften von Kant, Fichte, Schelling u. A. und ging dann zur Theologie über. Immer mehr befestigte sich in ihm die Ueberzeugung von der Richtigkeit und Schriftgemäßheit der Swedenborg’schen Lehren, so daß er bei Gelegenheit einer Disputation über die Anselm’sche Genugthuungslehre sich unbefangen zu Sw. bekannte, indem er von der Ansicht ausging, daß diese Auffassung seiner Angehörigkeit zur protestantischen Kirche und der Bekleidung eines geistlichen Amts durchaus nicht im Wege stehe. In der That, trotz manches Tadels, der gegen ihn erhoben wurde, bot man ihm doch drei Vicariate an; er schlug sie jedoch aus, um nicht durch die Pflichten, die ein Predigtamt auferlegt, an der Ausführung seines großen Planes gehindert zu werden: die Wahrheit der Swedenborg’schen Lehre und ihre Segnungen im deutschen Vaterlande überallhin zu verbreiten und sie gegen theologische und philosophische Zweifel sicher zu stellen.

Dieser seiner Lebensaufgabe widmete sich T. mit Aufwendung aller seiner Kraft, unbeirrt durch Angriffe und Proteste, an denen es die Gegner nicht fehlen ließen; allein bei der geringen Theilnahme des Publicums mußte er doch bald darauf bedacht sein, ein Amt zu übernehmen; so bewarb er sich um die Stelle eines Bibliothekars an der Tübinger Universität, die ihm auch zunächst provisorisch, sodann definitiv übertragen wurde. Zwar mußte sich T. verpflichten, daß er, „so lange er ein öffentliches Amt bekleide, zur Herausgabe der Swedenborg’schen Schriften weder mittelbarer- noch unmittelbarer Weise beitragen werde“ – mit schwerem Herzen unterschrieb er, hoffte er doch auf günstige Wendung seines [347] Geschicks. Nach wenigen Jahren wurde ihm jene überaus lästige Bedingung erlassen, und da auch äußere Unterstützungen allmählich zuflossen, sah sich T. in der Lage, das unterbrochene Werk mit neuen Kräften fortzusetzen.

Die Zahl seiner Schriften ist groß. Die Herausgabe der lateinischen Originalien Swedenborg’s umfaßt 21 Nummern, die Uebersetzung der Werke Swedenborg’s deren 15, die eigenen dogmatischen Arbeiten sind in 8 Schriften niedergelegt. Hier handelt T. u. A. von dem Religionssystem und den Grundlehren der Neuen Kirche, von der Göttlichkeit der Heil. Schrift und den Hauptwahrheiten der Religion, eine mit Erläuterungen versehene Uebersetzung des Matthäusevangeliums als Anfang einer „Uebersetzung des Wortes Gottes aus dem Urtext“ war druckfertig, als der Tod ihn ereilte. Neben diesen speciell theologischen Schriften ließ er sich die Sammlung von allerlei Urkunden über Sw. und die Neue Kirche angelegen sein. Daß es bei den Abweichungen von der herrschenden kirchlichen Lehre nicht ohne Polemik abgehen konnte, ist begreiflich, so vertheidigte sich denn T., indem er gegen die Bekenntnißschriften als eine Hauptquelle des Uebels, gegen die Unsittlichkeit und Verderblichkeit des Bekenntnißzwanges schrieb und zur Begründung seiner Auffassung die Hauptlehren der Bekenntnißschriften in wörtlichem Auszug den betreffenden Stellen in der Bibel gegenüberzusetzen suchte. Zum Zwecke einer zusammenfassenden Darstellung der Swedenborg’schen Lehre und ihrer Begründung sowie ihrer Wirkungen im Publicum gründete er das „Magazin für die Neue Kirche“, welches eine Actensammlung bildet und als solche ein allgemeines culturhistorisches Interesse in Anspruch nimmt.

Auf philosophischem Gebiete war T. ebenfalls thätig, und auch diese Untersuchungen sind getragen von dem Zwecke, dem er sein Leben widmete. Begreiflicher Weise beschäftigte ihn hier besonders die Lehre der Skeptiker, ihr suchte er auf den Grund zu kommen und zugleich den Boden abzugraben. So entstand seine „Geschichte und Kritik des Skepticismus und Irrationalismus in ihrer Beziehung zur neueren Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel“; der Titel führt noch den bezeichnenden Beisatz: zugleich die letzten Gründe für Gott, Vernunftgesetz, Freiheit und Unsterblichkeit. Dieses Werk behandelt vorwiegend die Skeptiker unter den Christen und den Skepticismus seit Mitte des 18. Jahrhunderts; auch hier findet Swedenborg ehrende Erwähnung (z. B. S. 378, 443). Ganz besonders unbequem jedoch mußte dem begeisterten Anhänger Swedenborg’s das herbe, absprechende Urtheil Kant’s sein, wie es in den „Träumen eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik“ (1766) niedergelegt ist. T. behandelt den heiklen Punkt in einem Schriftchen: „Supplement zu Kant’s Biographie, oder die von Kant gegebenen Erfahrungsbeweise für die Unsterblichkeit und fortdauernde Wiedererinnerungskraft der Seele durch Nachweisung einer groben Fälschung … wiederhergestellt“ u. s. w. Die grobe Fälschung soll darin bestehen, daß das Datum des Briefes, den Kant an Frl. Ch. von Knobloch in Sachen des Swedenborg’schen Wunderberichtes schrieb, und der nach Tafel’s Auffassung sich sehr günstig über Sw. aussprechen soll, absichtlich auf das Jahr 1758 zurückgesetzt sei; thatsächlich sei er nicht nur später als dieses Jahr, sondern auch später als die Träume, und zwar im J. 1768 von Kant verfaßt. Zweck dieser von Kant’s Freunden ins Werk gesetzten Fälschung sei: das vernichtende Urtheil der Träume des älteren, reiferen Kant aufrecht zu erhalten, ein Urtheil, welches, wenn der Brief das letzte Document ist, aufgehoben und in sein Gegentheil gewendet wäre. Man wollte durch diese Fälschung Kant den Vorwurf ersparen: er sei später abergläubisch geworden. Nun ist allerdings richtig, daß jener Brief nicht im J. 1758 geschrieben sein kann; ebensowenig möglich ist es aber, daß, wie T. will, der Brief 3 Jahre nach den Träumen verfaßt sei, er muß vielmehr vor den Träumen geschrieben sein und das aus inneren [348] Gründen, die sofort ein1euchten, wenn man den Brief mit dem Vorbericht zu den Träumen und mit diesen selbst aufmerksam vergleicht. Vgl. auch zu dem ganzen Streit: Zimmermann, I. Kant und der Spiritismus. Wien 1879. Es bleibt trotz T. dabei: Kant ist für den Spiritismus Swedenborg’s nicht zu haben. Ein größeres Werk begann T. mit seiner „Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung“; hiervon erschien nur der erste Band, der ihm den Titel und Rang eines Professors der Philosophie an der Universität eintrug. Die beiden größeren philosophischen Schriften sind breit angelegt; oft treffen wir mehrere Seiten lange hier und da mit Zwischenwürfen durchsprengte Citate, sie zeugen von dem Streben nach gerechter Abwägung und geben auch ihrerseits der Lebensüberzeugung Tafel’s Ausdruck: „es ist nun klar, daß unser Denken und Erkennen keineswegs bloß durch die materiellen Organe, sondern auch und hauptsächlich durch ein von ihnen unabhängiges geistiges Auge und ein auf dasselbe einwirkendes göttliches Licht und Leben bedingt ist.“ (Schluß des ersten Bandes der Fundamentalphilosophie.)

Eingehende Mittheilungen aus seinem Leben hat er selbst gegeben (Magazin für die Neue Kirche, Bd. III, S. 202 f.). – Vgl. auch Ch. Düberg, Leben und Wirken von Dr. Joh. Fr. Imm. Tafel, Wismar 1864, in 2. Auflage herausgeg. von Th. Müllensiefen, Basel 1868, eine von begeisterten Anhängern verfaßte Biographie. – Inbetreff der Werke Tafel’s vgl. außer der obengenannten Schrift von Düberg auch Klüpfel, K. Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen. 1849, S. 506, Anm. 1.