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Artikel „Stimmer, Tobias“ von Ernst Polaczek in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 630–633, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stimmer,_Tobias&oldid=- (Version vom 7. Oktober 2024, 21:35 Uhr UTC)
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Stimmer **): Tobias St., Maler, gehört in die Nachfolge des jüngeren Holbein, und zwar in deren zweite Generation. Geboren wurde er als Sohn des aus dem Salzburgischen kurz vorher in Schaffhausen eingewanderten Christoph Stimmer, am 17. April 1539. Wir wissen nichts von seiner Erziehung zum Künstler. Aber man darf muthmaßen, daß er die erste Unterweisung durch seinen Vater empfangen habe, dem ebenfalls künstlerische Begabung nachgerühmt wird. Dann dürfte er auswärts reichere Ausbildungsmöglichkeiten aufgesucht haben. In Zürich ist er 1564 nachweisbar, 1565 wieder in Schaffhausen, von 1570 an in Straßburg. Von dort haben ihn größere Aufträge in den folgenden Jahren zwar wiederholt nach Frankfurt und Baden-Baden geführt, doch ist es zweifellos, daß er in Straßburg ansässig geworden und geblieben ist. Gestorben ist er am 14. Januar 1584, entweder in Straßburg oder in Baden-Baden.

Seine Thätigkeit umschreibt sich ähnlich wie die Holbein’s. Er ist Maler, und zwar Tafel- und Wandmaler gewesen, er hat Visirungen für Glasgemälde gezeichnet und Bücher mit Holzschnitten illustrirt. Doch ist die Thätigkeit des Buchillustrators – anders als bei Holbein – weitaus die umfangreichste gewesen. Seine künstlerischen Anfänge sind unklar. Wir wissen nicht, wessen Schüler er gewesen. Die Zahl der Möglichkeiten ist, wofern wir einen Lehrer in der Schweiz suchen wollen, gering, und die Hypothese Haendcke’s , der in dem Zürcher Hans Asper seinen Lehrmeister vermuthet, hat manches Einleuchtende. [631] Seine frühesten Werke sind zwei leider verschollene Zeichnungen, die 1668 im Katalog der ersten Kunstkammer von Balthasar Ludwig Künast in Straßburg unter den „Gezeichneten und gerissenen Sachen“ genannt werden: ein „Marienbild mit einem Christkindlein von Tobias Stimmer, 1562“, und „Die Creutzigung Christi, von gemeltem Meister“ (das zweite Blatt wohl identisch mit einer bei Haendcke a. a. O. S. 323 erwähnten Zeichnung, ehemals im Besitze eines Herrn Milani in Frankfurt). Dann folgen 1564 die Porträts des Züricher Bannervorträgers Jacob Schwytzer und seiner Frau Elisabeth Lochmann (jetzt im Basler Museum), Zeugnisse eines sicheren, reifen Könnens, keine zaghaften Jugendarbeiten mehr. Es ist die gleiche leidenschaftslose Kühle, wie sie Holbein besessen; aber es fehlt die subtile Auffassung, es fehlt auch der feine coloristische Geschmack. Die Wirklichkeit ist mit derben Fäusten gepackt.

Im Jahre darauf war St. wieder in Schaffhausen. Er malte auch hier Bildnisse; die Hauptthätigkeit der folgenden Jahre war jedoch der Fassadenmalerei gewidmet. Das Haus „zum großen Kesin“ schmückte er mit dem „Triumphzug des Tamerlan“, das Haus zum „Ritter“ mit historischen und allegorischen Darstellungen, die sich etwa unter der Ueberschrift „Die Tugenden eines echten Helden“ zusammenfassen lassen. Die zu schmückende Giebelwand entbehrt als Architekturwerk mit ihren verschieden breiten und verschieden hohen Durchbrechungen aller Regelmäßigkeit und Symmetrie. St., dem als glänzendes Vorbild die von Holbein bemalte Fassade des Hauses „zum Tanz“ in Basel vor Augen stand, versuchte wohl hier und da mit dem Pinsel in die zuchtlose Architektur Ordnung zu bringen, aber doch wieder nur, um seinerseits der wirklichen Fassade eine zwar lustige, aber ganz irrationale Scheinarchitektur mit perspektivischen Vor- und Rücksprüngen aufzumalen. Es quillt und überquillt von Gestalten jeglichen Maßstabs, von nackten und antikisch gerüsteten, von Rittern und Musikanten. Circe und Odysseus, Gloria und Immortalitas prangen hier. Und oben im Giebel sprengt aus dem Pfeiler Marcus Curtius von der Höhe des dritten Stockwerks herab. So barock geschwollen, so aufgetrieben muskulös erscheint hier alles, daß der Weg zurück zu den nüchtern realistischen Porträts der Basler Kunsthalle nur schwer zu finden ist. Woher die Wandlung? War es die andere Aufgabe? War es etwa ein Aufenthalt in Oberitalien, in Brescia oder Venedig, der des Künstlers Formensprache so energisch verändert hat? Raum wäre ja in den Jahren nach 1565 für die italienische Reise. Jedoch an äußeren Beweisen fehlt es vollkommen.

Das Haus „zum Ritter“ ist 1570 vollendet worden, noch im gleichen Jahre finden wir St. in Straßburg. Die Schaffhausener Uhrmacher bauen unter Leitung von Dasypodius die astronomische Uhr des Münsters, und St. decorirt sie mit seinen Malereien. Christliches und Heidnisches, Historisches und Allegorisches stehen harmlos nebeneinander. Und während diese Arbeit monumentalen Stils und Maßes vor sich geht, nimmt gleichzeitig eine ungemein fruchtbare Thätigkeit für die Buchillustration den Anfang. Der Straßburger Drucker und Verleger Bernhard Jobin, mit dem St. in verwandtschaftlichen Beziehungen stand, scheint den Anstoß gegeben zu haben, aber auch Basler und Frankfurter Verleger haben den stets bereiten Zeichenstift Stimmer’s oft in ihren Dienst gestellt. Flugblätter und Titelblätter, aber auch ganze große Bilderreihen und reich geschmückte Bilderbücher sind in schier endloser Folge entstanden, z. Th. originale Erfindungen eines lebhaften Geistes, z. Th. freie Uebersetzungen fremder Bildgedanken. Andresen verzeichnet 1872 bereits nicht weniger als 140 Einzelblätter und 26 illustrirte Werke. Seither ist [632] manches, was damals unbekannt war, hinzugekommen. Unter den 30 Bildnissen sind solche von berühmten Persönlichkeiten aus dem Kreise der Reformation. Zwei prachtvolle Helldunkelholzschnitte haben sich als die ältesten Abbildungen der Statuen von Kirche und Synagoge am Südportal des Straßburger Münsters erwiesen. In Blattfolgen hat St. die Altersstufen des Mannes und der Frau dargestellt, mit einer freilich recht anmuthlosen Kraft, in der merkwürdiger Weise von romanisirtem Geschmack nicht die Spur ist. Vieles ist auf den Bedarf von Jahrmarkt und Messe berechnet, manches auf ein gelehrtes, antiquarisch interessirtes Publicum. Die antipapistische Tendenz ist klar. Ueberall erkennt man den Geist- und Formverwandten des Johannes Fischart. Unter den Büchern stehen drei große Porträtsammlungen voran, von denen die eine noch im 16. Jahrhundert sieben Auflagen erlebt hat. Sein berühmtestes Buch war jedoch die 1576 zuerst in Basel veröffentlichte Bilderbibel, mit 170 Holzschnitten und charaktervollen Versen von Joh. Fischart. Da enthüllt sich uns eine reiche, lebendige Schilderkunst, die mit Figuren, Architektur, Landschaft nicht spart und alles in stark bewegte Umrahmungen hineinstellt. Es ist nirgends die Feinheit und Tiefe, mit der Holbein die gleiche Aufgabe bewältigt hat, aber überall Fülle; und es bedeutet etwas, daß Rubens dies Werk die „Lehrschule seiner Jugend“ genannt hat. Der Geist des Barock ist in den vielen kleinen Blättern, die Auflage um Auflage erlebt haben. Vorher schon hatte St. die „Jüdischen Geschichten“ des Flavius Josephus illustrirt, und Jagd- und Fechtbücher herausgegeben. Lange nach seinem Tode noch sind seine Holzschnitte immer wieder gerne verwendet worden.

Diese quantitativ ungeheuer reiche Production wurde unterbrochen durch eine Reise nach Frankfurt, wo St. einige Fassadendecorationen auszuführen hatte. Nichts von ihnen ist erhalten, und nichts – außer einer dürftigen Beschreibung – ist uns geblieben von dem malerischen Schmucke des „Neuen Schlosses“ in Baden-Baden, der Ende der 70er Jahre von ihm begonnen und nach seinem Tode von seinem jüngeren Bruder Abel (geb. 1542), der gleich ihm von Markgraf Philipp II. zum badischen Hofmaler ernannt wurde, zu Ende geführt worden ist. Thema war eine Ahnenreihe des markgräflichen Hauses, combinirt mit der Reihe der deutschen Kaiser, mit Monats- und Thierkreisdarstellungen. Diese Bilder sind 1689 durch die Franzosen zerstört worden, und die einst vorhanden gewesenen, noch 1835 erwähnten Copien sind seitdem spurlos verschwunden.

Um Stimmer’s persönliche Arbeit gruppirt sich die einer großen Werkstätte. Am klarsten spricht sein persönlicher Stil aus den zahlreichen Zeichnungen, die uns geblieben sind. Es ist bezeichnend für seinen Platz in der Entwicklung, daß, außer einigen Porträts, keine Naturstudien unter ihnen sind. Der Naturgegenstand bedeutet an sich nichts mehr für St., er ist bloßes Material, das mit Geschicklichkeit, aber auch mit Flüchtigkeit behandelt wird. Die Zeichnungen sind fast sämmtlich Compositionsskizzen oder Scheibenrisse, zum größeren Theil mit der Feder unter spärlicher Verwendung von Schraffenlagen, zum kleineren Theil mit dem Pinsel auf farbiges Papier breit und sicher hingeworfen. Besonders Basel, Bern, Schaffhausen und Zürich sind reich an ihnen.

Um das Bild von Stimmer’s Persönlichkeit zu runden, muß auch seine dichterische Thätigkeit mit einem Worte erwähnt werden. St. ist der Verfasser eines lustigen Schwankes, betitelt: „Komedia, ein nüw schimpffspiel von zwei jungen Eeleuten“. Er selbst hat das Manuscript mit der Dichtung congenialen Federzeichnungen illustrirt.

[633] Ein kurzes, reiches Leben! Fünfundvierzig Jahre alt, ist St. gestorben. Seine Kunst führt von der feinen Art der Kleinmeister zu der großen Maßstab und großen Apparat fordernden des 17. Jahrhunderts, von der Renaissance zum Barock.

A. Andresen, Der deutsche Peintre-Graveur III, S. 5 ff. 1872. – Berthold Haendcke, Die schweizerische Malerei im XVII. Jahrhundert; Aarau 1893, S. 323 ff. – A. Stolberg, Tobias Stimmers Malereien an der astronomischen Münsteruhr zu Straßburg. 1898. – Derselbe, Tobias Stimmer, sein Leben und seine Werke (mit 20 Lichtdrucktafeln). Straßburg 1901. – Karl Obser, in der Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins N. F. XVII, 718; XX, 680; XXIII, 563. – Festschrift der Stadt Schaffhausen zur Bundesfeier 1901. IV, S. 6. –

[630] **) Zu Bd. LIV, S. 534.