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Artikel „Gerok, Karl“ von Hermann Mosapp in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 307–315, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gerok,_Karl_von&oldid=- (Version vom 15. Oktober 2024, 00:09 Uhr UTC)
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Gerok: Karl G., schwäbischer Prediger und Dichter, ist geboren am 30. Januar 1815 in dem württembergischen Oberamtsstädtchen Vaihingen an der Enz, wo sein Vater, Christoph Friedrich G., seit einem Jahre als Diakonus angestellt war. Schon im Februar 1815 wurde derselbe als Diakonus nach Stuttgart versetzt, das somit die eigentliche Heimathstadt Gerok’s geworden ist, und stand dort ein volles Menschenalter, 1815–1848, als beliebter, im Segen wirkender Prediger und pflichttreuer Seelsorger im hauptstädtischen Kirchenamt. Er war ein begabter, kenntnißreicher, ernstgesinnter, würdevoller [308] und gemessener Mann, von echter Herzensfrömmigkeit, aber ohne engherzige Schranken, feinsinnig und weitsichtig allem Schönen und Edlen zugeneigt; die Mutter, Charlotte geb. Lenz, wie der Vater aus einer Pfarrfamilie entsprossen, eine Frau von warmem Herzen, aufgeschlossenem Geist und unermüdlicher Arbeitstreue, dabei immer heiter und gelassen. Diese glückliche Veranlagung der Eltern leitete die Erziehung ihres zahlreichen Kinderkreises, in welchem Karl der Aelteste war, in den Bahnen edler Menschlichkeit und wahrer Frömmigkeit, liebreichen Ernst paarend mit fröhlichem Humor, nichts menschlich Schönes dem regen, hochbegabten Knaben verschließend und dabei doch der Stellung des Pfarrhauses nichts vergebend und das christliche Vollkommenheitsideal nie aus den Augen lassend. Frühzeitige Begabung Gerok’s für das Reich des Schönen in Dichtkunst und Malerei erhielt reiche Nahrung durch die Anregungen der Hauptstadt; vor allem aber wurden die Bildungsschätze des trefflichen Stuttgarter Gymnasiums fast spielend von ihm angeeignet. So mannichfaltige Möglichkeiten des Berufes die vielseitige Begabung dem Knaben und Jüngling dargeboten hätte, so stand doch in stillschweigender Uebereinstimmung zwischen ihm und den Eltern von frühe an fest, daß er keinen andern Beruf ergreifen sollte als den des Geistlichen, der ihm im Vater und in zwei Großvätern sowie einer Reihe städtischer Amtsbrüder des Vaters ehrwürdig und groß vor den Augen und der Seele stand. 1832–37 bereitete er sich für denselben an der heimischen Hochschule Tübingen als Zögling des altehrwürdigen theologischen Seminars oder „Stifts“ mit hingebendem Fleiße vor. Der hochfliegende ideale Sinn des Studenten wurde durch ruhige, klare Verständigkeit, seine fröhliche Lebenslust durch eifrigen Wissenstrieb temperirt, und über sein ganzes Wesen breitete sich die liebenswürdige Anmut eines reinen, offenen Gemüthes. Die ernsten Fragen und Zweifel, die jeder tiefer angelegte Theologiestudent innerlich durchzukämpfen hat, sind ihm nicht erspart geblieben. Am Anfang war es die Philosophie Hegel’s und die Theologie Schleiermacher’s, mit denen es sich auseinanderzusetzen galt, und am Schlusse drohte das eben neu erschienene „Leben Jesu“ von D. Fr. Strauß dem gewonnenen Standpunkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber G. war von Hause aus eine so harmonische, positive Natur und hatte das gläubige Christenthum im Elternhause in so vortrefflicher Vertretung, nicht als System von Formeln und Dogmen, sondern als lebendige Herzensfrömmigkeit kennen gelernt, daß weder die Philosophie und Kritik seinem persönlichen Glauben, noch die wissenschaftliche Theologie seiner Neigung und Begabung fürs praktische Amt ernstlicheren Schaden bringen konnte und er in ehrlichem Kampfe alles prüfend das Beste und Tiefste sich bewahrte: den abgeklärten Glaubensfrieden. Daneben versenkte er sich mit Lust in das um Tübingen verlockend schön aufgeschlagene Buch der Natur, wie in die großen Schöpfungen deutscher und ausländischer Dichter, an denen er sein eigenes, schon in der Knabenzeit stillverschwiegen bethätigtes Talent weiter bildete und die ihn schon jetzt zu manchen wohlgelungenen eigenen Schöpfungen begeisterten, die aber, selbst den nächsten Freunden völlig unbekannt, jahrzehntelang im Pulte verschlossen blieben.

Nach glänzend bestandener Anstellungsprüfung trat G. im Frühjahr 1837 ins geistliche Amt ein. Als Stuttgarter Pfarrgehilfe hatte er das Glück, im Elternhause selbst leben und unter der wohlwollenden, aber parteilos kritisirenden Aufsicht des eigenen Vaters seine ersten Schritte in Predigt und Seelsorge thun zu dürfen. Ueberraschend schnell gelang es ihm, den Ton zu finden, der zu Herzen geht: nicht den Kathederton wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, auch nicht den Prophetenton zürnenden Ernstes, sondern den milden, freundlich [309] einladenden Hirtenton, der das Wort Gottes auf alle Lebensverhältnisse und Lebensräthsel das rechte Licht werfen läßt, ohne daß er daneben, seinem angeborenen künstlerischen Talent entsprechend, die Schönheit, Glätte und Ebenmäßigkeit der Form aus dem Auge ließ. So zog der junge Vicar sich bald ein für seine Jugend sehr ansehnliches Zuhörerpublicum heran, und das war und blieb ihm ein Sporn, in der Predigt stets sein Bestes zu geben und nur Vollausgereiftes und Wohlvorbereitetes seinen Hörern zu bieten, ein Grundsatz, dem er lebenslang treu geblieben ist und mit dem er ein gut Theil seines Ruhmes begründet und verdient hat. Unterbrochen wurde diese praktische Lernzeit durch eine zehnmonatliche Studienreise, die den Candidaten in alle wissenschaftlich und künstlerisch bedeutsamen Städte Deutschlands führte und ihn mit den damaligen Größen auf Kathedern und Kanzeln persönlich bekannt machte, seinen geistigen Gesichtskreis weitete, seine inneren Schätze mehrte. 1840–43 hatte er als Repetent am Tübinger Stift weitere Gelegenheit zu wissenschaftlicher Vertiefung und Bereicherung, die ihn mit ihrem Ausklang, einem Stuttgarter Stadtvicariat, in die definitive Amtsthätigkeit überleitete.

Im Januar 1844 trat er als Diakonus in Böblingen (drei Stunden von Stuttgart) ins selbständige Pfarramt ein und gründete noch im gleichen Jahre seinen Hausstand mit Sofie Kapff von Tübingen, seiner noch jetzt lebenden Wittwe, die ihm in 46 Jahren eine verständnißvolle Gattin gewesen ist und sein Leben mit freundlichem Sonnenschein beleuchtet hat. Neben dem Einleben ins praktische Amt gab ihm die fünfjährige relative Mußezeit in dem kleinen Landstädtchen neue Gelegenheit zu wissenschaftlicher Arbeit, wie er sie in mehreren noch heute beachtenswerthen Aufsätzen in den „Studien der württembergischen Geistlichkeit“ niederlegte. Diese und seine rasch bekannt werdenden Erfolge als Prediger lenkten die Aufmerksamkeit der Heidelberger Universität auf den jungen Diakonus, die ihn als Professor der Theologie und Director des Predigerseminars berief. Es ist kein Zweifel, daß G. auch im akademischen Lehramte vermöge seiner praktischen Formvollendung und seiner wissenschaftlichen Schulung vorzügliches geleistet hätte. Dennoch hat er aus Liebe zum Pfarramt den verlockenden Ruf ausgeschlagen, und hat es nicht zu bereuen gehabt. Denn als 1848 sein Vater von Stuttgart weg als Generalsuperintendent nach Ludwigsburg berufen worden war (er zog sich von da 1860 in den Ruhestand nach Stuttgart zurück, wo er 1865, die Mutter 1866 starb), eröffnete sich für den Sohn eine ganz ähnliche Laufbahn, wie sie der Vater einst durchmessen, in der Hauptstadt, der er nun 41 Jahre lang angehörte und in der er die höchsten Stufen kirchlicher Würde erstieg: 1849–52 als Diakonuts, 1852–62 als Archidiakonus und Decan der Landdiöcese Stuttgart, 1862–68 als Decan der Stadtdiöcese, vom Herbst 1868 an bis zu seinem Tode als Oberhofprediger und Oberconsistorialrath mit dem Titel eines Prälaten. Es ist hier nicht der Ort, der vielen Kleinarbeit zu gedenken, welche das hauptstädtische Pfarramt mit seinen schon in damaliger Zeit hochgesteigerten Anforderungen an Zeit und Kraft seines Trägers erforderte und welche G. mit unermüdetem Eifer in Predigt und Seelsorge leistete; auch sei nur im Vorübergehen aufmerksam gemacht auf die zahlreichen Nebenämter, die seine Geschäftslast vermehrten, wie die Mitgliedschaft des Strafanstaltencollegiums und des Centralvorstandes der Gustav-Adolfstiftung, die Vorstandschaft der k. Commission für die Erziehungshäuser und des Stuttgarter Diakonissenhauses. Wichtig und hervorragend, wenn auch nicht viel in die Oeffentlichkeit tretend, war sein Antheil an der Kirchenleitung des Württemberger Landes durch zwei Jahrzehnte, der [310] nicht zum wenigsten in dem bedeutsamen Personalreferat über die Besetzung sämmtlicher Pfarrstellen bestand. So war Stuttgart die Stadt nicht bloß seiner Kindheit und Jugend, seines Reifens und Lernens, sondern blieb auch die Stätte seines beruflichen Wirkens, seine Lebensheimath, seine Lieblingsstadt, der er in Anhänglichkeit treu blieb, auch als den berühmt gewordenen ehrenvolle Berufungen nach Hamburg, Bonn und Dresden ihr entführen wollten und die ihn darum wol als einen ihrer größten Söhne mit dem Ehrenbürgerbriefe auszeichnen durfte.

Versuchen wir, die Persönlichkeit Gerok’s, wie sie in der Erinnerung von Tausenden noch plastisch unvergänglich steht, in knappen Umrissen uns zu vergegenwärtigen. Hochgewachsen und schlank von Gestalt, aufrecht und auch im Alter ungebeugt, mit leichtem, gelenkem Schritt, mit durchgeistigtem Gesicht und einem milden, klaren, halb in die Ferne gerichteten Blick, mit langem, lockigem Haar, das, auch im ehrwürdigen Silber des Alters glänzend, doch noch reich und voll um die Schläfen wallte, von einem Schimmer des Hochsinnes und der Anmuth, einem Hauch ewiger Jugend umflossen, so sah man ihn auf Amtsgängen die Straßen, auf Spaziergängen die Höhen Stuttgarts durchschreiten. Bei persönlicher Berührung fühlte sich der Besucher wol zunächst etwas enttäuscht; er fand nicht einen sprudelnden Geist, nicht einen gewandten Unterhalter, nicht einen liebenswürdigen Plauderer, der etwa den Reichthum seines Innenlebens bereitwillig bloßgelegt hätte; im Gegentheil machte er leicht den Eindruck schüchterner Unbeholfenheit, scheuer Abgeschlossenheit, zugeknöpfter Unzugänglichkeit. Aber diese äußere Form, die zum Theil auch eine Selbsthülfe der Natur gegen zudringliche Besucher war, war nur die Hülle, unter der sich für den, der ihm näher treten durfte, ein goldenes Herz barg, ein Herz voll unendlicher Weichheit und Zartheit, voll echter Bescheidenheit und Demuth, voll Milde und Güte, sinnig und innig, froh im Genusse des Schönen und des Lebens überhaupt, aber gefestigt und geborgen gegen alles Widrige der Erde durch das Heiligthum des Glaubens, wie auch durch den schalkhaften, heiteren Humor des abgeklärten Lebenskenners und des frommen, gereiften Christen. Dieses Herz schlug in warmen Tönen für seine schwäbische Heimath, für sein theures Württemberger Land und sein Königshaus, dem er in amtlicher Stellung in Freud und Leid als Seelsorger, ja als Freund zur Seite stand, und es erglühte begeistert für die Größe und Herrlichkeit des großen deutschen Vaterlandes, für seinen Kaiser und dessen ehernen Kanzler, für die Macht und Größe des neuen Reiches. Es hat auch im Drang vieler Amtsgeschäfte den stillen Tempel der Freundschaft nicht geschlossen und nicht bloß den „alten, lieben Gesichtern“ ein treues Gedächtniß bewahrt, sondern auch noch in grauen Haaren die Saiten neuer Freundschaft erklingen lassen, so mit dem geistesverwandten Emil Frommel. Und, was das tiefste Geheimniß seiner Persönlichkeit war: er war ein Mann, der trotz seiner hohen kirchlichen Stellung, trotz seines überzeugten und freudig bekannten Christenthums der menschlichen Freude am Schönen nicht entsagte, ja, der gerade Menschliches und Christliches in seiner Person aufs liebenswürdigste und überzeugendste vereinigte, der zeigte, wie altbewährte, lautere Frömmigkeit mit dem, was die alte und die neue Zeit an edlem Bildungsstoff bietet, sich nicht etwa nur nothdürftig und gezwungen vereinigen lasse, sondern wie sich beides gegenseitig fordere und bedinge. Ihm gehörte auch das menschlich Schöne und Erhabene mit zur Harmonie der göttlichen Weltordnung, als irdisches Abbild himmlicher Vollendung, als „bunt gewirkter Saum am Kleid seines Gottes“. So hat er in edler Harmonie Christliches und Menschliches vereint, religiöse Weihe hineingetragen ins Alltagsleben und dadurch das Christenthum auch solchen nahegebracht und hochachtenswerth [311] gemacht, die in demselben nicht wie er das Centrum ihres Wesens hatten. Hier war einer der so seltenen christlichen Charaktere zu sehen, in dem Frömmigkeit und Bildung einen edelsten Bund geschlossen hatten, in dem Kopf und Herz, Lehre und Wandel harmonisch zusammenklangen. Als solcher christlicher Charakter lebt G. fort in seinen Predigten und Gedichten.

G. der Prediger ward am frühesten erkannt und bekannt. Wir haben gesehen, wie schon der junge Vicar die Hörer scharenweise sammelte und wie schon der junge Diakonus zu akademischen Ehren gelangen sollte. Naturgemäß ist er in dieser seiner Hauptthätigkeit nicht von Anfang fertig gewesen, sondern mit den Jahren gereift, gewachsen und geworden. Aber charakteristische Eigenart zieht sich doch durch seine ganze Predigerthätigkeit von den frühesten Jahren bis zum Ende hindurch. Das ist, formell betrachtet, einmal der treue Fleiß und die künstlerische Sorgfalt, mit der sie ausgearbeitet, durchdacht, disponirt, niedergeschrieben und ausgeglättet sind. G. hat nie der bequemen Manier gehuldigt, sich „vom Geist erleuchten“ zu lassen und zu improvisiren; er hat seine Kanzelreden selbst im heißesten Drang der Amtsgeschäfte immer Wort für Wort niedergeschrieben und memorirt; aber das Künstlerische an ihnen besteht eben in der vollendeten Natürlichkeit, der man gar keine Kunst ansieht und die Mühe nicht anspürt, die darauf verwendet ward. Die Mittel der Sprache standen dem dichterisch denkenden und fühlenden Redner ungesucht in reichster, wechselnder Fülle zu Gebote; aber das Vollendete an diesen sprachlichen Kunstwerken war, daß sie die höchste Hofgesellschaft gleich sehr fesselten wie dem einfachen Mann des Volkes und auch der schlichten Dienstmagd verständlich und erbaulich waren. Ein persönliches Naturbedürfniß war G. dabei die klare und strenge logische Gliederung, welche die Gedanken der Predigt in Thema, Theilen und Untertheilen concinn ordnet, so daß sie sich ansehen wie ein architektonisches Kunstwerk, in dem überall Ebenmaß und Symmetrie der Glieder herrscht; und doch wird diese kunstvolle Form niemals zur spielenden Künstelei, niemals drängt sie sich vorlaut hervor, sondern ordnet sich einfach und schlicht dem Inhalte der Rede unter. Und dieser Inhalt der Predigt war nun, entsprechend dem oben Gesagten, weder akademische Entwicklung der christlichen Lehre in dogmatischer, apologetischer oder polemischer Form, noch ein trockenes Moralisiren oder ein treiberisches Methodisiren, sondern es galt für ihn: das Christenthum der Bibel dem Menschen des 19. Jahrhunderts einladend und überredend nahezubringen und zu zeigen, wie alles Menschliche seine edelste Blüthe erst erreicht, getaucht in das Licht des Christenthums. Meisterhaft wußte er die Schrift auszulegen und auf das Leben anzuwenden, allem eine praktische Beziehung auf das, was bessert und erbaut, zu geben. Von dem testimonium animae naturaliter christianae, an das er gerne anknüpfte, wußte er höher hinauf und tiefer hinab zu führen zu den Geheimnissen des Christenthums. Den ganzen reichen Umkreis von Natur und Kunst, Dichtung und Wissenschaft, Geschichte und Vaterland wußte er dienstbar zu machen für seine Predigt, Honig daraus zu ziehen, christlichen Geist darein zu gießen. Tages- und Weltbegebenheiten wie die Erfindung des Telegraphen oder die Legung des ersten unterseeischen Kabels, Zeitereignisse wie die Revolutionsbewegungen, die Kriege von 1866 und 1870, die Mordattentate auf den alten Kaiser, oder Festfeiern litterarischer Art wie die Gutenbergfeier 1867 oder die Schillerfeier 1859 hat er stets auf der Kanzel behandelt, aber meisterhaft dabei die schmale Grenze innegehalten, daß das Wort Gottes und die Predigt nicht Mittel zu weltlichen Zwecken werden darf. Gerade dieser weite und freie Horizont seiner Predigten, der auch Weltleuten Hochachtung vor der Person und damit vor der Sache abnöthigte, machte G., ohne daß er [312] es wollte, zu einem der edelsten und wirkungsvollsten Apologeten des vorigen Jahrhunderts. Dazu kam, daß die gereifte Form und der gediegene Inhalt der Predigt noch unterstützt wurden durch einen würde- und weihevollen, wahrhaft erbaulichen Vortrag, durch eine meisterhafte aber ungekünstelte Action, wie durch den ganzen feierlichen, ehrwürdigen Ernst einer priesterlichen und prophetischen Charakter in sich vereinigenden Kanzelerscheinung. So war es nicht zu verwundern, wenn diese Vorzüge seiner Predigtweise ihn mit den Jahren mehr zum berühmten und vielbegehrten Festprediger im engeren und weiteren Vaterlande machten und ihm den Ehrennamen des „schwäbischen Chrysostomus“ erwarben. Wie so manchem Feste der Kirche oder der inneren Mission, besonders des Gustav-Adolfvereins hat er die rechte Weihe gegeben, die geschichtlichen Beziehungen der Städte und Länder mit frommem Sinn fürs Ewige verwerthend und aus den Lehren der Geschichte die Gegenwart mahnend, stärkend und tröstend, wie bei der Enthüllung des Wormser Lutherdenkmals (1868) oder bei der Feier am Schwedenstein bei Lützen (1882) und anderen Feiern mehr! Eines war bei seiner Berufung auf die Oberhofpredigerstelle freilich zu bedauern: daß der kleine Raum der Schloßcapelle es nur einem beschränkten Kreise von Hörern möglich machte, ihn sonntäglich zu hören. Für alle die, die ihn nicht hören konnten und nun nicht mehr hören können, hat er bis zu einem gewissen Grade Ersatz gegeben durch die gedruckte Herausgabe seiner Predigten. Schon in den fünfziger Jahren erging von dankbaren Hörern die Aufforderung dazu an ihn; die sorgfältige Ausarbeitung jeder Predigt im Verein mit der überaus schönen und klaren Handschrift ermöglichte leicht die Ausführung. So erschienen im Laufe der Jahre eine stattliche Reihe von Predigt- und Redensammlungen, nämlich: „Evangelienpredigten“ (Stuttgart 1856), „Epistelpredigten“ (das. 1858), „Pilgerbrot“ (das. 1866), „Aus ernster Zeit“ (das. 1873), „Hirtenstimmen“ (das. 1880), „Brosamen“ (das. 1887), weiter „Von Jerusalem nach Rom, Bibelstunden über die Apostelgeschichte“ (das. 1868), endlich nach seinem Tode vom ältesten Sohn herausgegeben: „Vor Feierabend“ (die drei letzten Predigten, das. 1890; wieder abgedruckt in) „Der Heimat zu“ (Predigten der letzten Jahre, das. 1893), „Trost und Weihe“, eine Sammlung Casualreden (das. 1890), endlich: „Die Psalmen in Bibelstunden“, drei Bände (das. 1891). Nicht zu vergessen ist hier die von weitgehendster Belesenheit in der Predigtlitteratur aller Zeit zeugende, werthvolle Bearbeitung der „Homiletischen Andeutungen“ (durch fremde und eigene Fingerzeige) zu seines Freundes Gotth. Victor Lechler Bearbeitung der Apostelgeschichte in J. P. Lange’s Bibelwerk (Bielefeld 1861).

Aber noch auf viel weitere Kreise wirkte und wirkt G. der Dichter. Schon der Knabe führte ein still verborgenes Traumleben im idealen Reiche der Dichtung. Er hatte nicht bloß lange Zeit Schiller und Goethe unter seinem nächtlichen Kissen liegen, sondern sog durch treues Auswendiglernen ihrer und so mancher anderer classischer Dichtwerke einen Schatz von poetischer Luft und Form in sich ein, der ihm schon frühe im Kreise der Geschwister als Dichter und Märchenerzähler treues Geleit gab, der den wachsenden Jüngling schon zu Schöpfungen größeren Stils begeisterte und der im Manne und Greise noch unvermindert wirkte. Von wem G. am meisten beeinflußt war, ist eine schwer zu entscheidende, müssige Doctorfrage; es zeigt sich auch darin wieder das harmonische Ebenmaß seiner Persönlichkeit, daß er sich nicht exclusiv der Gefolgschaft eines einzigen hingab, sondern gleichermaßen von allen den Großen der Dichtkunst, von Schiller, Goethe, Uhland, Just. Kerner, Alb. Knapp, Gust. Schwab, Eman. Geibel, Ed. Mörike Elemente in sich aufgenommen hat. Was ihn zum Dichter besonders befähigte, das war seine hohe Begabung für die bildende Kunst, [313] sein Zeichen- und Maltalent, mit welchem er auch in dilettantischen Versuchen Schönes leistete und das seiner Dichtungsweise auf den verschiedensten Gebieten der Poesie den Charakter des Anschaulichen, des Malerischen in der Schärfe der Zeichnung und der Pracht der Bilder aufprägte. Mit der ganzen demüthigen Bescheidenheit, die G. eigen war, hütete er die dichterischen Producte seiner Jugend wie einen vor Jedermanns Augen zu verbergenden Schatz und übergab auch vieles wieder dem Feuer. Was uns noch aus jenen ersten Zeiten hinterlassen ist, läßt darauf schließen, daß mit dem Betreten der reiferen Jünglingsjahre der Dichter fertig war. Schöneres und Edleres hat z. B. G. nie gedichtet als das tiefempfundene „Ich möchte heim“ in den Palmblättern; es stammt aus seinem 27. Jahre. Ein Freund, Fritz Köstlin, war es, der gleichsam Pathenstelle bei der Veröffentlichung der Gerok’schen Gedichte vertrat: er hat, ohne Gerok’s Wissen, zuerst im J. 1855 eines seiner Gedichte im Nürtinger Wochenblatt veröffentlicht und nun zwei Jahre lang an dem Dichter gearbeitet, bis derselbe sich entschloß, ein Bändchen seiner religiösen Lieder unter dem Titel „Palmblätter“, aber noch nicht mit Nennung des vollen Namens, sondern zuerst nur mit dem verschämten Zeichen „K. G.“ herauszugeben (Stuttgart 1857); und dieses Erstlingswerk ist das classische Werk der Gerok’schen Muse geworden, das er mit nichts Späterem übertroffen oder überboten hat, das heut zu Tage in mehr als 100 Auflagen und über 400 000 Exemplaren verbreitet, in eine Reihe europäischer Sprachen übersetzt ist. Und wie zaghaft und wenig seines Talentes bewußt zeigt sich der Schöpfer dieser herrlichen Lieder in der nun veröffentlichten Correspondenz mit dem litterarischen Berather Fr. Köstlin, mit dem viele Briefseiten über einzelne Wendungen und Verse gewechselt werden! Hatte G. hier in „heiligen Worten, heiligen Zeiten, heiligen Bergen, heiligen Wassern“ den reichen Bildersaal der heil. Schrift durchwandert, so wandte er sich einem speciellen Buche derselben, der Apostelgeschichte zu in seinen „Pfingstrosen“ (Gütersloh 1864). Aber getreu seinem Wesen, das neben dem Christlichen das Menschliche nicht verachtet, sondern ehrt und adelt, fügt er zu den bisher behandelten religiösen auch weltliche Stoffe in den „Blumen und Sternen“ (Stuttgart 1867), vermischten Gedichten, die den himmlischen Sternen irdische Blumen von Land und Meer, von Welt und Zeit, von Haus und Herd zugesellen. Und mit welch gewaltigen Schwingungen die Kriegsereignisse von 1870/71 seine Seele bewegten, davon zeugen die vaterländischen Kriegs- und Friedenslieder „Deutsche Ostern“ (das. 1871). Eine neue Folge der Palmblätter erschien unter dem Titel „Auf einsamen Gängen“ als „festliche Klänge, heilige Bilder, Sprüche und Grüße“ 1878; eine neue Folge der Blumen und Sterne mit dem Titel „Der letzte Strauß“ und den Abschnitten: „Von Himmel und Erde, aus Sage und Geschichte, aus Welt und Kirche, von Haus und Herz“ 1884; als allerletzter Strauß noch das liebliche Bändchen „Unter dem Abendstern“ (das. 1886), nicht zu vergessen der köstlichen 13 Kinderlieder zu den Bildern von Paul Mohn „Christkind“ (das. 1887). Auch der Dichter G. läßt sich ganz ähnlich charakterisiren wie der Prediger. Auch die Dichterpersönlichkeit wurzelt in Gottes Wort als dem Centrum; aber von hier aus richtet sich sein Auge weitschauend auf alles, was menschlich schön und erhaben ist in Natur, Geschichte und Vaterland, alle diese Gebiete in christliche Beleuchtung stellend, mit frommem Schimmer verklärend. Je länger je mehr ging kein patriotisches Ereigniß in Welt und Kirche vor sich, das G. nicht zu einem „Gelegenheitsgedicht“ im edelsten, im Goethe’schen Sinne des Wortes begeistert hätte; und je älter er wird, desto andächtiger versenkt er sich in das Buch göttlicher Schöpfung und Natur, das ihm nicht bloß auf Alpenmatten oder an Meeresgestaden, [314] sondern in den unscheinbarsten Feldblumen der Heimath anbetungswürdig wird. So ergänzt seine Dichterthätigkeit die des Predigers harmonisch und gehört in gewissem Sinne mit zu seinem geistlichen Wirken, denn noch viel mehr Tausenden als seinen Predigthörern und -lesern sind seine Lieder – und nicht bloß die geistlichen – mit ihrem lebensvollen Bekenntniß christlicher Weltanschauung zu Trost und Erhebung geworden. Und das nicht am wenigsten durch ihre vollendete Kunstform, durch den perlenden Wohllaut, den melodischen Fluß ihrer Verse, durch den eigenen Reiz ihrer bewegten Rhythmen, ihrer Kehrverse, durch die ganze mühelos-spielende Handhabung des Technischen, die doch nie zum bloßen Reim- und Wortgeklingel wird, sondern stets die Form dem Gedanken unterzuordnen weiß. Eigentliche Kirchenlieder hat G. kaum gedichtet, doch werden sicherlich manche Lieder von ihm in späteren Gesangbüchern ihre Stelle finden, wie z. B. das Confirmationslied „Seid eingedenk“ oder das schon erwähnte: „Ich möchte heim“. – Von sonstigen schriftstellerischen Arbeiten Gerok’s, die mit seiner Dichterthätigkeit zusammenhängen, sei hier nur noch erwähnt sein christlich-ästhetisches Glaubensbekenntniß, ein Vortrag über „Illusionen und Ideale“ (Stuttg. 1887), sowie die Herausgabe einer Auswahl aus Matth. Claudius’ Werken (1882), der geistlichen Lieder Paul Gerhardt’s (1882) und Luther’s (1883).

Hochgeehrt von König und Kaiser, von Kirchen- und Stadtgemeinde, in Württemberg und ganz Deutschland, von der heimischen Hochschule, die ihn 1877 mit dem theologischen Doctorhut schmückte, von dem Frankfurter Hochstift, das ihn 1875 zu seinem Ehrenmitglied und Meister ernannte, beglückt durch ein schönes, reiches Familienleben, in welchem 4 Söhne und 3 Töchter ihm heranblühten, im Vollbesitz der körperlichen und geistigen Kräfte, hat G. ein selten schönes Alter „unter dem Abendstern“ erleben dürfen. Ohne längeres Siechthum, mitten heraus aus der Vollkraft des Wirkens und Schaffens ist er nach nur fünftägiger Krankheit der Influenza des Winters 1889/90 infolge einer hinzutretenden Lungenentzündung am 14. Januar 1890 im Alter von 75 Jahren erlegen. Sein Grabdenkmal auf dem Stuttgarter Pragfriedhof, nicht weit vom Haupteingang zur rechten Hand, zeigt in Marmor die Symbole seiner Dichtung: Harfe und Palmblatt, Blume und Stern nebst seinem Bildniß in Medaillonform; und am sinnigsten Platze, unter den Fenstern der Schloßcapelle, in der er 21 Jahre gewirkt, gegenüber der alten Stiftskirche, an der er 11 Jahre gestanden, zwischen dem Standbild seines großen Meisters Schiller und der Reiterstatue des alten Kaisers haben ihm 1898 seine Verehrer ein Denkmal erbaut, zu welchem Adolf Donndorf die Büste des Dichters und den Genius der Poesie mit Harfe und Palmzweig geschaffen. Eine „Gerok-Straße“ führt in weitem Bogen über eine der grünen Höhen um Stuttgart hin, die der leichte Fuß auch noch des Greisen so oftmals durchwandert hat, zu einem entzückenden Aussichtspunkt, der „Geroksruhe“. Unverlöschlich aber lebt sein Denkmal in den Herzen vieler Tausende, die den edlen Menschen und frommen Christen, den geistgesalbten Prediger und gottbegnadeten Dichter in dem, was sie ihm verdanken, treulich verehren und die, wenn sie seiner gedenken, etwas fühlen von dem Zauber ewiger Jugend.

Litteratur, a) Quellenwerke: Jugenderinnerungen von K. G. (Bielefeld u. Leipzig 1874, 4. Aufl. 1890); K. G., ein Lebensbild aus seinen Briefen u. Aufzeichnungen zusammengestellt v. G. Gerok (Stuttg. 1892). b) Nekrologe u. Gedächtnißreden: Palmblätter auf K. Gerok’s Grab, niedergelegt bei der Trauerfeier (Grabrede von Friedr. Braun und Leichenpredigt von Karl Burk, Stuttg. 1890); Staatsanzeiger f. Württ. 1890, S. 72 f.; Ev. Kirchen- u. Schulblatt f. Württ. 1890, S. 27 f.; Allg. ev.-luth. Kirchenzeitung [315] 1890, S. 149 ff.; P. Lang in Schwäb. Kronik (Beibl. d. Schwäb. Merkurs) 1890, S. 1019 f., 1045 f.; G. Knapp in Besondere Beilage d. Staatsanzeigers f. Württ. 1890, S. 269 ff.; O. Schanzenbach in Grüßgott, illustr. Sonntagsbl. 1899, S. 222 ff.; J. Klaiber in Schwäb. Kronik 1890, S. 2323 f.; W. Frhr. v. Gemmingen ebendas. 1898, S. 1495 f. c) Biographien u. litt. Essays: H. Mosapp, K. G., ein Bild seines Lebens und Wirkens (Stuttg. 1890); ders., K. G. in seiner Wirksamkeit für den Gustav-Adolf-Verein (Barmen 1890); ders. in Realencyklopädie f. protest. Theologie u. Kirche (von Herzog-Hauck), VI, 608 ff.; F. Braun, Erinnerungen an K. G. (Leipzig 1891); R. Schmeißer, K. G. als Schulmann, nachgewiesen aus seinen Dichtungen (Jena 1892); Reinthaler in Deutsch-evang. Blätter (von W. Beyschlag u. E. Haupt) 1901, S. 22 ff.