ADB:Lotze, Hermann (1. Artikel)
[WS 1], geb. in Bautzen am 21. Mai 1817, † in Berlin am 1. Juli 1881, Sohn eines Militärarztes, besuchte das Gymnasium zu Zittau und bezog Ostern 1834 die Universität Leipzig, wo er neben dem Fachstudium der Medicin, welches er völlig berufsmäßig betrieb, mit größtem Eifer auch philosophische Vorlesungen hörte und reiche Anregung durch Chr. Aug. Clarus, E. H. Weber, Volkmann, G. Th. Fechner und insbesondere durch den Philosophen Chr. H. Weiße empfing. Nachdem er im März 1838 in der philosophischen Facultät promovirt, hierauf am 17. Juli desselben Jahres durch eine Dissertation „De futurae biologiae principiis philosophicis“ die medicinische Doctorwürde erlangt und dann einige Zeit in Zittau sich aufgehalten hatte, habilitirte er sich im Herbst 1839 als Privatdocent in der medicinischen Facultät Leipzigs und im Mai 1840 mittelst einer Dissertation „De summis continuorum“ zugleich auch in der philosophischen Facultät. Auf eine kleine Abhandlung „Bemerkungen über den Begriff des Raumes“ (1841 in H. J. Fichte’s Zeitschrift) folgte eine „Metaphysik“ (1841), in welcher er ebenso wie in der etwas späteren „Logik“ (1843) erklärlicher Weise noch nicht den durchgebildeten Standpunkt seiner reiferen Werke einnahm, sondern vorerst überwiegend kritisch an Hegel und Herbart seine Kräfte zu messen versuchte. Inzwischen aber hatte er „Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften“ (1842, 2. Aufl. 1848) veröffentlicht und war zu Weihnachten 1842 zum außerordentlichen Professor der Philosophie ernannt worden, woneben er die Stelle eines Privatdocenten der medicinischen Facultät beibehielt. Da ihn Rud. Wagner in Göttingen zur Betheiligung an dem „Handwörterbuch der Physiologie“ einlud, verfaßte er für dieses Unternehmen zunächst den Artikel „Leben und Lebenskraft“ (1843), worin er die Unklarheiten des Schelling’schen Dynamismus aufwies, und in der Fortsetzung des Werkes waren aus seiner Feder die Abhandlungen „Instinct“ (1844), sowie „Seele und Seelenleben“ (1846). R. Wagner war es auch, welcher anregte, daß L. 1844 auf den seit dem Herbste 1841 erledigten Lehrstuhl Herbart’s nach Göttingen berufen wurde, woselbst er eine lange Reihe von Jahren als einflußreicher Lehrer wirkte. In den „Göttinger Studien“ erschienen seine Aufsätze „Ueber den Begriff der Schönheit“ (1845) und „Ueber Bedingungen der Kunstschönheit“ (1847). Hierauf folgten die naturwissenschaftlichen Schriften, „Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens“ (1851) und „Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele“ (1852) und sodann jenes Hauptwerk, durch welches Lotze’s Ansehen auch in weitere Kreise drang, nämlich „Mikrokosmus, Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit“ (3 Bde., 1856–64, 2. Aufl. 1869–72, 3. Aufl. 1876–80), womit sowol erläuternde Berichte in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ (1856 und 1859), als auch die gegen H. J. Fichte gerichteten „Streitschriften“ (1. Heft, [289] 1857) zusammenhingen. Nicht unerwähnt möge bleiben, daß er auch „Quaestiones Lucretianae“ (im „Philologus“ 1852) schrieb und als Erzeugniß einer Ferienmuße eine metrische lateinische Uebersetzung der Antigone des Sophokles veröffentlichte (1857). Nachdem er in dem von der historischen Commission der Münchener Akademie herausgegebenen Unternehmen einer Geschichte der Wissenschaften die „Geschichte der Aesthetik in Deutschland“ (1869) bearbeitet hatte, begann er, seinen nunmehr längst ausgereiften speculativen Anschauungen die erforderliche systematische Gestaltung zu geben, und so erschien „System der Philosophie, erster Theil: Drei Bücher der Logik“ (1874, 2. Aufl. 1880) und „Zweiter Theil: Drei Bücher der Metaphysik“ (1879); den dritten Theil, welcher Ethik, Aesthetik und Religionsphilosophie enthalten sollte, konnte er nicht mehr vollenden. Durch eine Schrift G. Th. Fechner’s veranlaßt, verfaßte er den Aufsatz „Alter und neuer Glaube, Tagesansicht und Nachtansicht“ (in „Deutsche Revue“, Mai 1879). Das Letzte, was L. schrieb, war „Anfänge spiritistischer Conjecturalkritik“ (in der „Deutschen Revue“, 4. Jahrg., 1. Bd., S. 321 ff.), eine launige Verspottung des Spiritismus. Schon in den J. 1866 und 1867 hatten ihn die Universitäten Berlin, Bonn und Leipzig zu gewinnen versucht, er lehnte jedoch auf Zureden seines Amtsgenossen Heinrich Ritter ab; aber im Frühjahre 1881 folgte er schließlich einem Rufe nach Berlin, woselbst seine Wirksamkeit nur nach Wochen zählte, indem er am 1. Juli einem Herz- und Lungenleiden erlag, welches in milderer Form ihn bereits seit Jahren belästigt hatte. – L., welcher an Kenntniß der Naturwissenschaften unter den Vertretern der Philosophie eine hervorragende Stellung einnahm, hatte in seinen musterhaften biologischen und psychologischen Schriften bezüglich der materiellen Vorgänge und Kräfte die mechanische Naturerklärung auf Grund exactester Forschung durchgeführt und erweitert, ja er wurde bis 1855 nicht zu den Philosophen, sondern zu den Physiologen gezählt. Aber er hatte bis dahin seine idealistischen Ueberzeugungen, welche vielfach an die von Chr. H. Weiße empfangene Anregung anknüpften, nur zurückgestellt oder sich mit gelegentlicher Andeutung begnügt; denn es galt ihm grundsätzlich der natürliche Mechanismus nur als der eine unerläßliche Bestandtheil, nie aber als das Ganze der Philosophie, da, wie er sich selbst ausdrückte, wol die Ausdehnung des Mechanismus eine ausnahmslose, hingegen die Bedeutung desselben eine untergeordnete sei. Indem er sich auf die unmittelbaren Erlebnisse des Gemüthes stützte, wies er darauf hin, daß es wahrhaft ideale Interessen gebe, welche darum, weil sie von der mechanischen Naturerklärung nicht befriedigt werden können, noch lange nicht als Märchen oder Hirngespinnste abzuweisen seien. Dabei aber hatte er die Einsicht gewonnen, daß der Idealismus auf dem Wege, welchen er durch Fichte, Schelling, Hegel betreten, nicht als Wissenschaft bezeichnet werden könne, und indem er somit in wissenschaftlicher Untersuchung mittelst einer Berichtigung und Umarbeitung der Begriffe dem idealen Impulse Zucht und Ordnung einzuflößen beabsichtigte, konnte er den methodischen Verdiensten Herbart’s Anerkennung zollen, mit welchem er auch inhaltlich durch Hinneigung zu Leibniz einige Berührungspunkte besaß, während er in den Principien des Systemes weit von ihm geschieden war. Indem er einen höchsten idealen Lebensinhalt als das Wesenhafte aller Wirklichkeit darzulegen bestrebt ist, erlangen die Thatsachen des Gemüthes, welche in ethisch-ästhetischen und religiösen Empfindungen vorliegen, eine principielle Stellung, so daß er in Folge eines persönlichen Lebensgefühles in der That die Metaphysik aus der Ethik ableitet, wobei er von einem an sich subjectiven Standpunkte aus zur vollen Objectivität des höchsten Ideales zu gelangen hofft. Die Idee des Guten, die Existenz eines persönlichen Gottes und [290] die Freiheit des Willens sind bei ihm die Kernpunkte eines eigenthümlichen Theismus, welcher unverkennbar in pantheistische Anschauungen hinüberstreift. Man könnte, wenn solch kurze Stichworte zureichend wären, sein System als eine spinozistische Modification des Leibnizianismus bezeichnen, da ihm alle Einzeln-Wesen als gesetzlich zweckmäßige Modificationen der Einen absoluten lebendigen Persönlichkeit gelten und er den Causalzusammenhang als Folge des fortwährend (nicht nur einmal) thätigen göttlichen Lebens faßt. Indem er auf solche Weise ebensosehr den schulmäßigen dualistischen Theismus wie den starren Monismus jeder Art abzulehnen versucht, knüpfen sich ihm hieran scharfsinnigste Untersuchungen über Räumlichkeit, über Wechselwirkung, über Freiheit und Teleologie, welche hier nicht näher dargelegt werden können. Mit subtilster Sorgfalt verhört er überall die streitenden Parteien, um schließlich Frieden zu stiften, und während er manche Einkleidungsformen jenes werthvollen Kernes, welchen er unerbittlich festhalten will, abstreift und preisgibt, gelangt er mit einem ihm eigenen Spürsinne zu Möglichkeiten einer Erklärung, bei welchen er sich und seine Leser zu beruhigen beabsichtigt. Mag auch vieles Einzelne oder selbst der ganze Aufbau des Systems als anfechtbar betrachtet werden, so wird neben der Geschichte der Aesthetik aus den späteren Schriften Lotze’s zweifellos die neue Bearbeitung der Logik auch in Zukunft ihre äußerst anregende Wirkung bewähren, und im Allgemeinen bleibt ihm das unbestrittene Verdienst, nicht nur durch scharfsinnige Analyse, sondern auch durch Darlegung einer idealistischen Weltanschauung einen förderlichen Einfluß bis in weitere Kreise hinein ausgeübt zu haben, zu welch letzterem in nicht geringem Grade sein meisterhaft geschmackvoller Stil beitrug.
Lotze: Rudolf Hermann L.- Die Dictate aus Lotze’s Vorlesungen fanden jüngst sämmtlich ihre Veröffentlichung. Die sämmtlichen Schriften Lotze’s mit Einschluß der Recensionen u. dgl. sind aufgezählt in „Grundzüge der Psychologie, Dictate aus d. Vorlesungen von H. Lotze“ (1881), S. 93 ff. Ueber sein Leben und seine Philosophie: E. Rehnisch in der Nationalzeitung, 1881, Nr. 390–94 (in französischer Uebersetzung in Ribot’s Revue philosophique, 1881, October). Falckenberg in der Allg. Zeitung, 1881. Beilage Nr. 233. Rud. Seydel in den Grenzboten, 1881, 3. Quartal, S. 283 ff. Baumann in den Philosophischen Monatsheften, 1881, S. 613 ff. Kurt Bruchmann in Unsere Zeit,1881, 2. Bd., S. 600 ff. Hugo Sommer in „Im neuen Reich“, 1881, Nr. 36. Ths. Achelis in der Vierteljahrsschrift f. wiss. Phil., 1882, S. 1 ff. Meßner’s Neue evangelische Kirchenzeitung, 1881, Nr. 29 f. Websky’s Protestantische Kirchenzeitung, 1881, Nr. 31 f. Edm. Pfleiderer, Lotze’s philosophische Weltanschauung nach ihren Grundzügen (2. Aufl. 1884). „Von und über Lotze“ in der Neuen evangelischen Kirchenzeitung, 1882, Nr. 47. O. Caspari, Lotze in seiner Stellung zur neuesten Geschichte der Philosophie (1883).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Über diese Person existiert in Band 52 ein weiterer Artikel.