Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil/Kapitel III

<<<
Kapitel III
>>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil
Seite: 146–243
von: Ernst Cassirer
Zusammenfassung:
Anmerkung:
Bild
[[Bild:|250px]]
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wikisource-Indexseite
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[146]
KAPITEL III
DIE SPRACHE IN DER PHASE DES ANSCHAULICHEN AUSDRUCKS
I. Der Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen

So wenig wie in der Erkenntnislehre, so wenig läßt sich in der Sprachbetrachtung ein scharfer Grenzstrich zwischen dem Gebiet des Sinnlichen und dem Gebiet des Intellektuellen in der Weise ziehen, daß beide dadurch als gegeneinander abgesonderte Bezirke bezeichnet würden, deren jedem eine eigene und selbstgenügsame Art der „Wirklichkeit“ zukommt. Die Kritik der Erkenntnis zeigt, daß die bloße Empfindung, in der lediglich eine sinnliche Qualitätsbestimmung gesetzt, von jeder Form der Ordnung aber abgesehen wird, in keiner Weise ein „Faktum“ der unmittelbaren Erfahrung, sondern vielmehr lediglich das Ergebnis einer Abstraktion ist. Die Materie der Empfindung ist niemals rein an sich und „vor“ aller Formung gegeben, sondern sie schließt schon in ihrer ersten Setzung eine Beziehung auf die Raum-Zeit-Form ein. Aber dieser erste bloß unbestimmte Hinweis erhält im stetigen Fortgang der Erkenntnis seine fortschreitende Bestimmung: die bloße „Möglichkeit des Beisammen“ und die „Möglichkeit des Nacheinander“ entfaltet sich zum Ganzen des Raumes und der Zeit, als einer zugleich konkreten und allgemeinen Stellenordnung. Man wird erwarten dürfen, daß die Sprache, als Spiegelbild des Geistes, auch diesen fundamentalen Prozeß in irgendeiner Weise widerspiegelt. Und in der Tat gilt das Kantische Wort, daß Begriffe ohne Anschauungen leer seien, nicht minder für die sprachliche Bezeichnung als für die logische Bestimmung der Begriffe. Auch die abstraktesten Gestaltungen der Sprache weisen noch deutlich den Zusammenhang mit der primären Anschauungsgrundlage auf, in der sie ursprünglich wurzeln. Auch hier trennt sich die Sphäre des „Sinns“ nicht schlechthin von der der „Sinnlichkeit“, sondern beide bleiben aufs engste ineinander verwoben. Der Schritt von der Welt der Empfindung zu der der „reinen [147] Anschauung“, den die Erkenntniskritik als ein notwendiges Moment im Aufbau der Erkenntnis, als eine Bedingung des reinen Ichbegriffs, wie des reinen Gegenstandsbegriffs aufweist, hat daher in der Sprache sein genaues Gegenbild. Es sind auch hier die „Formen der Anschauung“, in deren Aufbau sich die Art und Richtung der in der Sprache waltenden, geistigen Synthesis zunächst bekundet, und nur durch das Medium dieser Formen hindurch, nur durch die Vermittlung der Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl vermag die Sprache ihre wesentlich logische Leistung: die Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen zu vollziehen.

Vor allem ist es die räumliche Anschauung, an der sich dieses Ineinander des sinnlichen und des geistigen Ausdrucks in der Sprache durchgehend beweist. Gerade in den allgemeinsten Ausdrücken, die die Sprache zur Bezeichnung geistiger Prozesse erschafft, tritt die entscheidende Mitwirkung der räumlichen Vorstellung aufs deutlichste hervor. Noch in den höchstentwickelten Sprachen begegnet diese „metaphorische“ Wiedergabe geistiger Bestimmungen durch räumliche. Wie sich im Deutschen dieser Zusammenhang in den Ausdrücken des Vorstellens und Verstehens, des Begreifens, des Begründens und Erörterns u. s. f. wirksam erweist[1], so kehrt er fast gleichartig nicht nur in den verwandten Sprachen des indogermanischen Kreises, sondern auch in völlig unabhängigen und weit entlegenen Sprachgebieten wieder. Insbesondere die Sprachen der Naturvölker sind überall durch die Genauigkeit ausgezeichnet, mit der sie alle räumlichen Bestimmungen und Unterschiede von Vorgängen und Tätigkeiten gleichsam unmittelbar malend und mimisch zum Ausdruck bringen. So kennen z. B. die amerikanischen Eingeborenensprachen nur selten irgendeine allgemeine Bezeichnung des Gehens, sondern sie besitzen statt dessen spezielle Ausdrücke für das aufwärts und abwärts gehen, sowie für die sonstigen mannigfachen Nuancen der Bewegung – und ebenso wird im Ausdruck der Ruhelage das Stehen unter- und oberhalb, innerhalb und außerhalb eines bestimmten Bezirks, das Stehen um etwas herum, das Stehen im Wasser, im Wald u. s. f. genau unterschieden und gesondert bezeichnet. Während die Sprache hier eine große Anzahl von Unterschieden, die wir am Verbum ausdrücken, ganz unbezeichnet läßt oder nur sehr geringes Gewicht auf sie legt, werden alle Bestimmungen des Ortes, der Lage und [148] der Entfernung durch Partikeln von ursprünglich lokaler Bedeutung stets aufs sorgfältigste bezeichnet. Die Strenge und Genauigkeit, mit der diese Bezeichnung durchgeführt wird, wird von den Kennern dieser Sprachen oft geradezu als ihr fundamentales Prinzip und als ihr eigentlicher charakteristischer Grundzug angesehen[2]. Von den malayo-polynesischen Sprachen sagt Crawfurd, daß in ihnen die verschiedenen Stellungen des menschlichen Körpers so scharf unterschieden würden, daß ein Anatom, ein Maler oder Bildhauer daraus unmittelbar Nutzen ziehen könnte – im Javanischen z. B. werden 10 verschiedene Arten des Stehens und 20 des Sitzens durch je ein besonderes Wort wiedergegeben[3]. Ein Satz, wie unser Satz ‚der Mann ist krank‘ kann in verschiedenen amerikanischen Sprachen nur so ausgedrückt werden, daß in ihm mitbezeichnet wird, ob das Subjekt, auf das sich die Aussage bezieht, sich in größerer oder geringerer Entfernung vom Sprechenden oder Angesprochenen befindet, ob es für beide sichtbar oder nichtsichtbar ist; ebenso wird häufig der Ort, die Lage, die Stellung des Kranken durch die Form des Satzwortes angedeutet[4]. Hinter dieser Schärfe der räumlichen Charakteristik treten alle anderen Bestimmungen zurück oder sie kommen nur durch die Vermittlung von Ortsbestimmungen zur indirekten Darstellung. Dies gilt ebenso wie für die zeitlichen, auch für qualitative und modale Unterschiede. So steht z. B. der Zweck einer Handlung für die konkrete Anschauung stets in nächster Beziehung zu dem räumlichen Ziel, das sie sich setzt, und zu der Richtung, in der dies Ziel verfolgt wird: demgemäß wird häufig der „Finalis“ oder „Intentionalis“ des Verbums durch Zufügung einer Partikel gebildet, die eigentlich der Ortsbezeichnung dient[5].

In alledem offenbart sich ein gemeinsamer, auch erkenntniskritisch höchst bedeutsamer Zug des sprachlichen Denkens. Kant fordert, um die Anwendung der reinen Verstandsbegriffe auf die sinnlichen Anschauungen zu ermöglichen, ein Drittes, Mittleres, in welchem beide, obwohl [149] sie an sich völlig ungleichartig sind, übereinkommen müssen – und er findet diese Vermittlung in dem „transzendentalen Schema“, das einerseits intellektuell, andererseits sinnlich ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich nach ihm das Schema vom bloßen Bild: „das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen und an sich demselben nicht völlig kongruieren[6].“ Ein solches „Schema“, auf das sie alle intellektuellen Vorstellungen beziehen muß, um sie dadurch sinnlich faßbar und darstellbar zu machen, besitzt die Sprache in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhältnisse. Es ist, als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtsein erst dadurch faßbar, daß sie sie auf den Raum projiziert und in ihm analogisch „abbildet“. An den Verhältnissen des Beisammen, des Neben- und Auseinander gewinnt es erst das Mittel zur Darstellung der verschiedenartigsten qualitativen Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Gegensätze.

Schon an der Bildung der ursprünglichsten Raumwörter, die die Sprache kennt, läßt sich dies Verhältnis erkennen und beleuchten. Sie wurzeln noch ganz in der Sphäre des unmittelbar-sinnlichen Eindrucks; aber sie enthalten auf der anderen Seite den ersten Keim, aus dem die reinen Beziehungsausdrücke hervorwachsen. So sind sie ebensowohl dem „Sinnlichen“ wie dem „Intellektuellen“ zugekehrt: denn wenn sie in ihrem Anfang noch ganz stofflich sind, so schließt sich in ihnen andererseits die eigentümliche Formwelt der Sprache erst eigentlich auf. Was das erste Moment betrifft, so tritt es schon in der lautlichen Gestaltung der Raumworte zutage. Abgesehen von den bloßen Interjektionen, die aber noch nichts „besagen“, die noch keinen objektiven Bedeutungsinhalt in sich schließen, gibt es kaum irgendeine Klasse von Worten, denen der Charakter von „Naturlauten“ so stark aufgeprägt wäre, als den Worten zur Bezeichnung des Hier und Dort, des Fernen und Nahen. Die deiktischen Partikeln, die zur Bezeichnung dieser Unterschiede dienen, lassen sich in der Gestaltung, die sie in den meisten Sprachen erfahren, noch fast durchweg als Nachwirkungen direkter „Lautmetaphern“ erkennen. Wie der Laut in den verschiedenen Arten des Zeigens und Hinweisens selbst nur als Verstärkung der Gebärde dient, so tritt er auch [150] seiner gesamten Beschaffenheit nach hier noch nicht aus dem Gebiet der vokalen Geste heraus. So begreift es sich, daß es fast überall dieselben Laute sind, die in den verschiedensten Sprachen zur Bezeichnung gewisser örtlicher Bestimmungen verwendet werden. Abgesehen davon, daß Vokale verschiedener Qualität und Helligkeit der Abstufung im Ausdruck der räumlichen Entfernung dienen, sind es gewisse Konsonanten und Konsonantengruppen, denen eine ganz bestimmte sinnliche Tendenz innewohnt. Schon in den ersten Lallwörtern der Kindersprache scheiden sich scharf die Lautgruppen mit wesentlich „zentripetaler“ Tendenz von denen mit „zentrifugaler“ Tendenz. Das m und n trägt ebenso deutlich die Richtung nach innen, wie die nach außen sich entladenden Explosivlaute, das p und b, das t und d das entgegengesetzte Streben bekunden. In dem einen Falle bezeichnet der Laut ein Streben, das auf das Subjekt zurückweist; im anderen schließt er eine Beziehung auf die „Außenwelt“, ein Hinweisen, Fortweisen, Zurückweisen in sich. Wenn er dort den Gebärden des Greifen-, Umfassen-, Zu-sich-heranziehen-Wollens entspricht, so entspricht er hier den Gebärden des Zeigens und Wegstoßens. Aus diesem ursprünglichen Unterschied erklärt sich die merkwürdige Gleichartigkeit, mit der die ersten „Worte“ der Kindersprache über die ganze Erde verbreitet sind[7]. Und dieselben Lautgruppen finden sich in wesentlich übereinstimmender oder ähnlicher Funktion, wenn man die demonstrativen Partikeln und Pronomina verschiedener Sprachen bis zu ihrem Ursprung und zu ihrer frühesten lautlichen Gestalt zurückzuverfolgen sucht. Für die Anfänge des Indogermanischen unterscheidet Brugmann eine dreifache Form des Hinweisens. Der „Ich-Deixis“ steht hier inhaltlich und sprachlich die „Du-Deixis“ gegenüber, welch letztere selbst wieder in die allgemeine Form der „Der-Deixis“ übergeht. Hierbei ist die Du-Deixis durch ihre Richtung und durch den dieser Richtung entsprechenden charakteristischen Laut, der in der urindogermanischen Demonstrativwurzel *to sich darstellt, bezeichnet, während die Rücksicht auf Nähe und Entfernung in ihr zunächst noch keine Rolle spielt. Nur das „Gegenüber“ zum Ich, nur die allgemeine Beziehung auf das Objekt als Gegenstand wird in ihr festgehalten; nur der Kreis außerhalb des eigenen Körpers wird in ihr erstmalig hervorgehoben und abgegrenzt. Die weitere Entwicklung führt dann dazu, innerhalb dieses Gesamtkreises die einzelnen Bezirke deutlicher gegeneinander abzuheben[8]. Es scheidet sich das Dies [151] und Jenes, das Hier und Dort, das Nähere und Entferntere. Damit ist durch die denkbar einfachsten sprachlichen Mittel eine Gliederung der räumlichen Anschauungswelt erreicht, die in ihren geistigen Folgen von unabsehbarer Bedeutung ist. Der erste Rahmen, in den sich alle weiteren Unterscheidungen einfügen werden, ist geschaffen. Daß eine solche Leistung einer bloßen Gruppe von „Naturlauten“ zufallen kann, – das wird erst ganz verständlich, wenn man sich gegenwärtig hält, daß der Akt des Zeigens selbst, der in diesen Lauten festgehalten wird, neben seiner sinnlichen Seite eine rein geistige Seite besitzt – daß sich schon in ihm eine neue selbständige Energie des Bewußtseins ausprägt, die über das Gebiet der bloßen Empfindung, deren auch das Tier fähig ist, hinausreicht[9].

Man begreift es demgemäß, daß gerade die Gestaltung der Demonstrativpronomina zu jenen ursprünglichen „Elementargedanken“ der Sprachbildung gehört, die in den verschiedensten Sprachgebieten gleichartig wiederkehren. Überall findet sich der Gebrauch, daß bestimmte Unterschiede in der Lage oder Entfernung des Objekts, auf welches hingedeutet wird, durch den einfachen Wechsel des vokalischen oder konsonantischen Lautes ausgedrückt werden. Der stumpfere Vokal drückt hierbei meist den Ort der angeredeten Person, das „Dort“ aus, während der Ort des Redenden durch den schärferen Vokal bezeichnet wird[10]. Was die Bildung der Demonstrativa durch konsonantische Elemente betrifft, so ist es fast durchweg die Gruppe des d und t, oder auch die des k und g, des b und p, der die Rolle des Hinweises in die Ferne zufällt. Die indogermanischen, die semitischen und die ural-altaischen Sprachen zeigen in diesem Gebrauch eine unverkennbare Übereinstimmung[11]. In einzelnen Sprachen dient ein Demonstrativum zur Bezeichnung dessen, was im Wahrnehmungsbereich des Sprechenden, ein anderes für das, was im Wahrnehmungsbereich [152] des Angesprochenen liegt; oder es wird die eine Form für ein dem Redenden nahestehendes, die andere für ein vom Redenden und Angeredeten gleich weit entferntes, eine dritte für ein abwesendes Objekt gebraucht[12].

So bildet auch für die Sprache die genaue Unterscheidung der räumlichen Stellen und der räumlichen Entfernungen den ersten Ansatzpunkt, von dem aus sie zum Aufbau der objektiven Wirklichkeit, zur Bestimmung der Gegenstände fortschreitet. Auf der Differenzierung der Orte gründet sich die Differenzierung der Inhalte – des Ich, Du und Er auf der einen, wie der physischen Objektkreise auf der anderen Seite. Die allgemeine Erkenntniskritik lehrt, daß der Akt der räumlichen Setzung und der räumlichen Sonderung für den Akt der Objektivierung überhaupt, für die „Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand“ die unentbehrliche Vorbedingung ist. Das ist der Kerngedanke, aus dem heraus Kant seine „Widerlegung des Idealismus“, als eines empirisch-psychologischen Idealismus, geschaffen hat. Schon die bloße Form der räumlichen Anschauung trägt in sich den notwendigen Hinweis auf ein objektives Dasein, auf ein Wirkliches „im“ Raume. Die Entgegensetzung eines „Innen“ und „Außen“, auf welcher die Vorstellung vom empirischen Ich beruht, ist selbst nur dadurch möglich, daß zugleich mit ihm ein empirischer Gegenstand gesetzt wird: denn das Ich vermag sich des Wechsels seiner eigenen Zustände nur dadurch bewußt zu werden, daß es ihn auf ein Dauerndes, auf den Raum und auf ein Beharrliches im Raume bezieht. „Nicht allein, daß wir alle Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (die Bewegung), in Beziehung auf das Beharrliche im Raume (z. B. Sonnenbewegung in Ansehung der Gegenstände der Erde) vornehmen können, so haben wir sogar nichts Beharrliches, was wir dem Begriffe einer Substanz als Anschauung unterlegen könnten, als bloß die Materie … Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß [153] intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat dieses Ich auch nicht das mindeste Prädikat der Anschauung, welches als beharrlich der Zeitbestimmung im innern Sinne zum Korrelat dienen könnte[13].“ Das Grundprinzip dieses Kantischen Beweises besteht darin, daß hier die besondere Funktion des Raumes als ein notwendiges Mittel und Vehikel für die allgemeine Funktion der Substanz und deren empirisch-gegenständliche Anwendung aufgewiesen werden soll. Erst aus dem wechselseitigen Ineinandergreifen beider Funktionen gestaltet sich für uns die Anschauung einer „Natur“, eines selbständigen Inbegriffs von Objekten. Indem ein Inhalt räumlich bestimmt, indem er durch feste Grenzsetzungen aus der unterschiedslosen Gesamtheit des Raumes herausgehoben wird, gewinnt er damit erst eine eigene Seinsgestalt: der Akt des „Herausstellens“ und Absonderns, des ex-sistere, gibt ihm erst die Form selbständiger „Existenz“. Im Aufbau der Sprache prägt sich dieser logische Sachverhalt darin aus, daß auch hier die Konkretion der Orts- und Raumbezeichnung es ist, die zum Mittel dient, um die Kategorie des „Gegenstandes“ sprachlich immer schärfer herauszuarbeiten. In verschiedenen Richtungen der Sprachentwicklung läßt sich dieser Prozeß verfolgen. Wenn die Annahme zutrifft, daß die Endungen des Nominativs bei den Masculina und Neutra der indogermanischen Sprachen aus bestimmten Demonstrativpartikeln hervorgegangen sind[14], so hat hier ein Mittel der Ortsbezeichnung dazu gedient, um die charakteristische Funktion des Nominativs, um seine Stellung als „Subjektskasus“ zum Ausdruck zu bringen. Zum „Träger“ der Handlung vermochte er erst dadurch zu werden, daß ihm ein bestimmtes örtliches Kennzeichen, eine räumliche Determination beigegeben wurde. Noch wesentlich schärfer aber tritt sodann dieses Ineinander der beiden Momente, diese geistige Wechselwirkung zwischen der Kategorie des Raumes und der der Substanz an einem eigentümlichen sprachlichen Gebilde hervor, das geradezu aus dieser Wechselbestimmung herausgewachsen zu sein scheint. Überall dort, wo die Sprache den Gebrauch des bestimmten Artikels ausgebildet hat, zeigt sich, daß das Ziel dieses Artikels in der bestimmteren Herausbildung der Substanzvorstellung besteht, während sein Ursprung unverkennbar dem Gebiet der räumlichen Vorstellung angehört. Da der bestimmte Artikel eine relativ späte sprachliche Bildung ist, so läßt sich [154] dieser Übergang vielfach an ihm noch unmittelbar deutlich machen. Im Indogermanischen läßt sich die Entstehung und Ausbreitung des Artikels geschichtlich noch im einzelnen verfolgen. Er fehlt hier nicht nur dem Altindischen, dem Altiranischen und Lateinischen, sondern auch der älteren griechischen, insbesondere der Homerischen Sprache: erst die attische Prosa wendet ihn regelmäßig an. Auch im Germanischen hat sich der Gebrauch des bestimmten Artikels erst im Mittelhochdeutschen als Regel festgesetzt. Die slawischen Sprachen haben einen abstrakten Artikel mit durchaus konsequenter Anwendung überhaupt nicht entwickelt[15]. Ähnliche Verhältnisse zeigen sich im semitischen Sprachkreis, in welchem der Artikel zwar im allgemeinen verwendet wird, in denen aber einzelne Sprachen, wie das Äthiopische, die hierin auf einer älteren Stufe stehen geblieben sind, gleichfalls keinen Gebrauch von ihm machen[16]. Wo immer aber dieser Gebrauch durchdringt, da ist er deutlich als eine einfache Abspaltung aus dem Kreise der demonstrativen Pronomina zu erkennen. Aus der Form der „Der-Deixis“ geht der bestimmte Artikel hervor – der Gegenstand, auf den er sich bezieht, wird durch ihn als das „Draußen“ und „Dort“ Befindliche, vom „Ich“ und „Hier“ örtlich Geschiedene gekennzeichnet[17].

Aus dieser Genesis des Artikels heraus wird es verständlich, daß er seine allgemeinste sprachliche Funktion, als Ausdruck der Substanzvorstellung zu dienen, nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Reihe von Vermittlungen hindurch, erlangt. Die Kraft der „Substantivierung“, die ihm eignet, bildet sich erst allmählich heraus. In den Sprachen der Naturvölker finden sich gewisse Demonstrativpronomina, die ganz im Sinne des bestimmten Artikels gebraucht werden; aber dieser Gebrauch bleibt nicht eindeutig auf die Klasse der „substantivischen“ Wörter bezogen. Im Ewe steht der Artikel, der hier dem Wort, auf das er hinweist, nachgestellt wird, nicht nur nach Substantiven, sondern auch nach dem absoluten Pronomen, nach Adverbien und nach Konjunktionen[18]. Und auch dort, wo er sich im Kreise der Dingbezeichnung, der eigentlich-„gegenständlichen“ Vorstellung hält, läßt sich noch deutlich verfolgen, daß der allgemeine Ausdruck der „Objektivierung“, den er in sich [155] schließt, erst allmählich aus spezielleren Bedeutungen sich entfaltet. Je weiter wir den Gebrauch des Artikels zurückverfolgen können, um so „konkreter“ scheint dieser Gebrauch zu werden: statt einer universellen Form des Artikels finden wir hier verschiedene Arten desselben, die je nach der Qualität der besonderen Objekte und Objektkreise wechseln. Die allgemeine Funktion, der er sprachlich und gedanklich dient, hat sich hier von der Besonderheit der Inhalte, auf welche sie angewandt wird, noch nicht gelöst. Die indonesischen Sprachen kennen neben dem sachlichen Artikel einen eigenen persönlichen Artikel, der vor die Namen von Individuen oder Stämmen oder auch vor Verwandtschaftsnamen tritt, nicht um sie in irgendeiner Weise näher zu qualifizieren, sondern lediglich um sie als Personennamen, als Eigennamen zu kennzeichnen[19]. Die Sprache der Ponca-Indianer unterscheidet scharf zwischen den „Artikeln“, die für unbelebte, und denen, die für belebte Gegenstände gebraucht werden: unter den ersteren erhalten weiterhin z. B. horizontale und runde Gegenstände, verstreute Objekte oder Kollektiva je einen besonderen Artikel; während in der Anwendung des Artikels bei einem belebten Wesen genau auseinandergehalten wird, ob es sitzt oder steht oder sich bewegt[20]. In besonders merkwürdiger und lehrreicher Weise aber zeigen gewisse Erscheinungen der Somali-Sprache die konkret-anschauliche Grundbedeutung, die dem Artikel ursprünglich eignet. Das Somali besitzt drei Formen des Artikels, die sich durch den auslautenden Vokal (–a, –i und –o [resp. u]) von einander unterscheiden. Das Bestimmende für die Anwendung der einen oder anderen Form ist hierbei das räumliche Verhältnis der Person oder Sache, von der die Rede ist, zum redenden Subjekt. Der auf –a auslautende Artikel bezeichnet eine Person oder Sache, die sich in unmittelbarer Nähe des Subjekts befindet, für dasselbe sichtbar ist und auch tatsächlich von ihm gesehen wird; der auf –o auslautende bezieht sich auf eine von ihm mehr oder weniger entfernte Person oder Sache, die aber in den meisten Fällen ebenfalls in Sicht des Redenden ist, während der mit –i endende Artikel einen Inhalt bezeichnet, der dem Subjekt irgendwie bekannt, aber ihm nicht sichtbar gegenwärtig ist[21]. Hier läßt es sich gleichsam mit Händen greifen, daß die allgemeine Form der „Substanziierung“, der Gestaltung zum [156] „Ding“, die sich im Artikel ausdrückt, wie sie aus der Funktion des räumlichen Hinweises entspringt, so in ihr zunächst noch durchaus gebunden bleibt: – daß sie sich den verschiedenen Demonstrationsarten und ihren Modifikationen aufs nächste anschmiegt, bis endlich, in einem relativ späten Stadium, die Ablösung der reinen Substanzkategorie von den besonderen Formen der räumlichen Anschauung sich vollzieht. –

Versucht man weiterhin, den Wegen zu folgen, die die Sprache einschlägt, um von den ersten scharf ausgebildeten örtlichen Unterscheidungen zu allgemeinen Raumbestimmungen und Raumbezeichnungen zu gelangen, so scheint sich auch hier zu bewähren, daß die Richtung dieses Prozesses von innen nach außen geht. Die „Unterscheidung der Gegenden im Raume“ nimmt ihren Ausgang von dem Punkt, in welchem sich der Sprechende selbst befindet, und sie dringt von hier aus in konzentrisch sich ausbreitenden Kreisen zur Gliederung des objektiven Ganzen, des Systems und Inbegriffs der Lagebestimmungen vor. Die Unterschiede des Ortes sind anfangs aufs engste verknüpft mit bestimmten materiellen Unterschieden – und von diesen ist es insbesondere die Unterscheidung der Gliedmaßen des eigenen Leibes, die als Ausgangspunkt aller weiteren Ortsbestimmungen dient. Nachdem sich für den Menschen das Bild des eigenen Körpers einmal scharf ausgeprägt hat, nachdem er ihn als einen in sich geschlossenen und in sich gegliederten Organismus erfaßt hat, dient er ihm gleichsam zum Modell, nach welchem er sich das Ganze der Welt aufbaut. Hier besitzt er eine ursprüngliche Koordinationsebene, auf die er sich im weiteren Fortgang immer wieder zurückzieht und zurückbezieht – und der er demgemäß auch die Benennungen entnimmt, die dazu dienen, diesen Fortgang sprachlich zu bezeichnen.

In der Tat ist es eine fast durchgehend beobachtete Tatsache, daß der Ausdruck räumlicher Beziehungen aufs engste an bestimmte Stoffworte gebunden ist, unter denen wieder die Worte zur Bezeichnung der einzelnen Teile des menschlichen Körpers den ersten Platz einnehmen. Das Innen und Außen, das Vorn und Hinten, das Oben und Unten erhält seine Bezeichnung dadurch, daß sie je an ein bestimmtes sinnliches Substrat im Ganzen des menschlichen Leibes angeknüpft werden. An der Stelle, wo die höher entwickelten Sprachen Präpositionen oder Postpositionen zum Ausdruck räumlicher Verhältnisse zu verwenden pflegen, begegnen demgemäß in den Sprachen der Naturvölker fast durchweg nominale Ausdrücke, die entweder selbst Namen von Körperteilen sind oder deutlich auf solche zurückgehen. Die Mande-Negersprachen drücken [157] nach Steinthal unsere präpositionalen Begriffe „sehr materiell“ dadurch aus, daß sie für „hinter“ ein selbständiges Substantivum, das Rücken- oder Hinterteil bedeutet, für „vor“ ein Wort, das Auge bedeutet, verwenden, während „auf“ durch ein Wort wie Nacken, „in“ durch Bauch u. s. f. wiedergegeben wird[22]. In gleicher Funktion werden in anderen afrikanischen Sprachen, sowie in den Südseesprachen, Worte wie Gesicht und Rücken, wie Kopf und Mund, Lende und Hüfte gebraucht[23]. Und wenn dies auf den ersten Blick vielleicht als eine besonders „primitive“ Bezeichnungsweise erscheinen mag, so zeigt sich doch, daß sie noch auf weit fortgeschrittenen Stufen der Sprachbildung ihr genaues Analogon und Gegenbild besitzt[24]. Andererseits pflegt freilich die Sprache nicht dabei stehen zu bleiben, lediglich die Bezeichnungen für die Glieder und Organe des menschlichen Leibes als solche „Raumsubstantiva“ zu verwenden, sondern sie schreitet, indem sie das Prinzip dieser Bezeichnung festhält, zu einer allgemeinen Anwendung desselben fort. Die Bezeichnung des „hinter“ kann, statt durch ein Wort, wie Rücken, auch durch ein Wort wie: „Spur“, die des „unter“ auch durch ein Wort wie Boden oder Erde, die des „über“ auch durch ein Wort wie Luft zum Ausdruck gebracht werden[25]. Jetzt wird also die Bezeichnung nicht mehr ausschließlich dem Umkreis des eigenen Leibes entnommen; aber das Verfahren, das die Sprache in ihrer Darstellung der örtlichen Beziehungen befolgt, ist das gleiche geblieben. Die Vorstellung eines konkreten räumlichen Gegenstands beherrscht den Ausdruck der räumlichen Relationen. Ganz besonders deutlich tritt dies in der Gestaltung hervor, die die räumlichen Beziehungsworte in den meisten ural-altaischen Sprachen erfahren: auch hier sind es durchweg nominale Ausdrücke, wie Oberteil oder Gipfel, Unterteil, Spur, Mitte, Umkreis, [158] die für die Bezeichnung des Über und Unter, des Vor und Hinter, des rings herum u. s. f. verwendet werden[26].

Und selbst dort, wo die Sprache im Ausdruck der rein gedanklichen Beziehungen bereits zu großer Freiheit und zu abstrakter Klarheit gelangt ist, schimmert die alte räumliche und damit mittelbar die sinnlich-materielle Grundbedeutung, von der die Bezeichnung ursprünglich ausging, meist noch sehr deutlich hindurch. Daß auch im Indogermanischen die „Präpositionen“ anfangs selbständige Wörter gewesen sein müssen, wird u. a. schon dadurch erwiesen, daß sie in ihrer Zusammensetzung mit Verbalstämmen diesen nur ganz locker verbunden erscheinen, so daß z. B. Augment und Reduplikation bei derartigen Zusammensetzungen zwischen die Präposition und die Verbalform tritt[27]. Auch zeigt die Entwicklung einzelner indogermanischer Sprachen, z. B. der slawischen Sprachen, wie hier noch fort und fort jüngere „unechte“ Präpositionen entstehen können, bei denen die materielle Bedeutung entweder im Sprachbewußtsein selbst lebendig bleibt oder durch die sprachgeschichtliche Betrachtung unmittelbar aufweisbar ist[28]. Allgemein zeigt sich, daß die indogermanischen Kasusformen von jeher der Darstellung äußerer örtlich-zeitlicher oder sonstiger anschaulicher Bestimmungen gedient haben, und daß sie von hier aus erst allmählich ihren späteren „abstrakten“ Sinn gewonnen haben. So ist der Instrumentalis ursprünglich der Mit-Kasus, der sodann, indem die Anschauung der räumlichen Begleitung in die des begleitenden und modifizierenden Umstands übergeht, zur Angabe des Mittels oder des Grundes einer Handlung wird. Aus dem räumlichen „Woher“ entfaltet sich das kausale „Wodurch“, aus dem „Wohin“ der allgemeine Gedanke des Ziels und des Zwecks[29]. Man hat freilich die lokalistische Kasustheorie nicht nur aus sprachgeschichtlichen Gründen, sondern aus allgemein-erkenntnistheoretischen Erwägungen heraus ebenso oft bestritten, wie man sie durch Erwägungen [159] dieser Art zu begründen und zu stützen versucht hat. Wenn im Sinne der lokalistischen Auffassung darauf hingewiesen wurde, daß alle Entwicklung der Sprache, wie die des Denkens überhaupt, vom Anschaulichen, vom „Konkret-Lebensvollen“ zum Begrifflichen gehen müsse, und daß dadurch der ursprünglich-örtliche Charakter aller Kasusbestimmungen gewissermaßen a priori erwiesen sei[30], so wurde diesem Argument entgegengehalten, daß hier der Begriff der Anschauung zu Unrecht auf ein bestimmtes Einzelgebiet, auf das Gebiet der räumlichen Anschauung, eingeengt werde. Nicht nur die Bewegung im Raume, sondern auch mannigfache andere dynamische Verhältnisse, wie Sieg und Unterliegen, Wirken und Gewirktes seien unmittelbar anschaulich gegeben, – seien etwas, das mit Augen gesehen werde[31]. Dieser Einwand aber, der von B. Delbrück erhoben worden ist, ist freilich – zum mindesten in der Form, in welche er hier gefaßt wird – nicht haltbar. Denn seit Humes Analyse des Kausalbegriffs leidet es keinen Zweifel, daß es keine sinnliche Impression und keine unmittelbare Anschauung dessen gibt, was wir den Vorgang des „Wirkens“ nennen. Alles was uns von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung jeweils „gegeben“ ist, geht in die Feststellung bestimmter örtlicher und zeitlicher Verhältnisse, in Verhältnisse des Neben- und Nacheinander auf. Auch Wundt, der gegen die lokalistische Ansicht einwendet, daß das Räumliche keineswegs alle sinnlich-anschaulichen Eigenschaften der Gegenstände erschöpfe, bricht doch diesem Einwand dadurch wieder die Spitze ab, daß er unmittelbar darauf anerkennt, daß den räumlichen Eigenschaften vor allen anderen ein charakteristischer Vorzug eigne: denn alle anderen Beziehungen seien immer zugleich räumlicher Art, während nur die räumlichen Verhältnisse auch für sich allein den Inhalt einer Anschauung bilden könnten[32]. Damit wird von vornherein wahrscheinlich, daß auch die Sprache zum Ausdruck der rein „intellektuellen“ Beziehungen erst fortschreiten kann, indem sie dieselben aus ihrer Verknüpfung mit räumlichen herauslöst und sie aus diesen letzteren gleichsam „ersondert“. Im fertigen Gliederbau unserer Flexionssprachen läßt sich freilich in jeder der Hauptkasusformen stets auch eine bestimmte logisch-grammatische Funktion erkennen, der sie wesentlich dienen. Durch den Nominativ wird der Träger der Handlung, durch den Akkusativ oder Genitiv wird ihr Objekt, sofern [160] es ganz oder teilweise von ihr betroffen wird, bezeichnet – und selbst die im engeren Sinne lokalen Kasus lassen sich diesem Schema einreihen, sofern sich in ihnen, neben ihrem spezifisch-örtlichen Sinn zugleich ein allgemeines Verhältnis ausdrückt, in welchem der Substantivbegriff zum Verbalbegriff steht[33]. Aber wenn, von hier aus gesehen, der logisch-grammatische Sinn gegenüber dem räumlich-anschaulichen leicht als das πρότερον τῇ φύσει erscheinen kann, so führen doch andererseits erkenntniskritische wie sprachgeschichtliche Erwägungen notwendig darauf, in diesen letzteren das eigentliche πρότερον πρὸς ἡμᾶς zu erkennen. Die Vorherrschaft der räumlichen Bedeutung gegenüber der grammatisch-logischen macht sich in der Tat um so stärker geltend, je mehr man die Sprachen berücksichtigt, die in der Bildung der „Kasusformen“ die größte Fruchtbarkeit entfaltet haben. Neben den amerikanischen Eingeborenensprachen[34] sind es vor allem die Sprachen des ural-altaischen Kreises, die in dieser Hinsicht allen anderen voranstehen. Aber gerade sie haben es zur Bildung der drei „eigentlich-grammatischen“ Kasus nicht gebracht, so daß die Verhältnisse, die im Indogermanischen durch den Nominativ, Genitiv und Akkusativ ausgedrückt sind, hier lediglich durch den Zusammenhang angedeutet werden. Ein eigentlicher Nominativ als Subjektskasus fehlt, auch der Genitiv findet entweder gar keinen formellen Ausdruck oder er wird durch eine reine „Adessivform“, die nichts als die örtliche Anwesenheit bezeichnet, vertreten. Um so üppiger aber wuchern hier die Ausdrücke für die rein räumlichen Bestimmungen. Neben den Bezeichnungen des Orts als solchen findet sich die größte Mannigfaltigkeit und Präzision in den besonderen Bezeichnungen für die Stelle eines Dinges oder für die Richtung einer Bewegung. Es entstehen auf diese Weise allative und adessive, inessive und illative, translative, delative und sublative Kasus, durch welche die Ruhe im Innern des Gegenstandes, das Sein bei ihm, das Hineinlangen in ihn, das Hervorgehen aus ihm u. s. f. zur Darstellung kommen[35]. „Diese Sprachen“ – [161] so beschreibt Fr. Müller das geistige Verfahren, das hier zugrunde liegt – „bleiben beim Objekt einfach nicht stehen, sondern sie dringen, möchte man sagen, in das Innere des Objekts ein und bringen das Innere zum Äußeren, das Obere zum Unteren desselben in einen förmlichen Gegensatz. Durch Kombinierung der drei Verhältnisse: Ruhe, Bewegung gegen den Gegenstand und Bewegung vom Gegenstande weg mit den Kategorien des Innen und Außen und in einigen Sprachen des Oben, entsteht eine Menge von Kasusformen, für die unseren Sprachen ganz das Gefühl mangelt und die wir auch infolgedessen in adäquater Weise wiederzugeben nicht imstande sind[36].“ Für die Nähe, in der dieser rein anschauliche Ausdruck der Kasusverhältnisse sich noch zum bloß sinnlichen Ausdruck hält, ist es hierbei bezeichnend, daß bei aller Feinheit in der Differenzierung der räumlichen Verhältnisse diese selbst noch durchweg durch substantivische Stoffworte wiedergegeben werden.

Freilich schließt der Ausdruck der Richtung und der Richtungsunterschiede, so sinnlich er sich in der Sprache immer gestalten mag, gegenüber dem bloßen Ausdruck des Seins, des Verharrens an einem Orte, doch stets ein neues geistiges Moment in sich. Ähnlich wie die Raumsubstantiva dienen in vielen Sprachen auch Raumverba zur Bezeichnung der Verhältnisse, die wir durch Präpositionen wiederzugeben pflegen. Humboldt, der diesen Gebrauch im Kawi-Werk durch Beispiele aus dem Javanischen verdeutlicht, fügt hinzu, daß sich darin, gegenüber der Anwendung der Raumsubstantiva, ein feinerer Sprachsinn zu bekunden scheine, da der Ausdruck einer Handlung sich von aller stofflichen Beimischung schon freier halte, als dies in der Bezeichnung durch ein bloßes Dingwort der Fall sei[37]. In der Tat beginnen hier im Gegensatz zu dem substantivistischen Ausdruck, dem stets etwas Starres eignet, die Raumverhältnisse gleichsam flüssig zu werden. Der selbst noch ganz anschauliche Ausdruck einer reinen Aktion bereitet den künftigen gedanklichen Ausdruck der reinen Relationen vor. Wieder knüpft hier zumeist die Bestimmung an den eigenen Körper an, aber es sind jetzt nicht mehr seine einzelnen Teile, sondern seine Bewegungen, es ist gewissermaßen nicht mehr sein bloßes materielles Sein, sondern sein Tun, worauf sich die Sprache stützt. Auch sprachgeschichtliche Gründe [162] sprechen dafür, daß in einzelnen Sprachen, in denen die Raumverba neben den Raumsubstantiven auftreten, diese die frühere, jene die relativ spätere Bildung darstellen[38]. Dabei wird zunächst der Unterschied des „Sinnes“ der Bewegung, der Unterschied der Bewegung von einem Orte her und nach diesem Orte hin, durch die Wahl des Verbums und durch seine inhaltliche Bedeutung wiedergegeben. In abgeschwächter Form erscheinen dann diese Verba in der Art von Suffixen, durch die die Art und Richtung der Bewegung gekennzeichnet wird. Die amerikanischen Eingeborenensprachen bringen durch solche Suffixe zum Ausdruck, ob die Bewegung innerhalb oder außerhalb eines bestimmten Raumes, insbesondere innerhalb oder außerhalb des Hauses erfolgt, ob sie über die See oder über einen Streifen festen Landes, ob sie durch die Luft oder durch das Wasser geht, ob sie vom Landinnern auf das Ufer, oder vom Ufer aus auf das Landinnere, vom Feuerplatz auf das Haus oder von diesem zu jenem erfolgt[39]. Aus der Fülle all dieser Unterschiede, die durch den Ausgangspunkt und Zielpunkt der Bewegung und durch die Art und Mittel ihrer Ausführung gegeben sind, aber hebt sich vor allem ein bestimmter Gegensatz heraus, der mehr und mehr in den Mittelpunkt der Bezeichnung rückt. Das natürliche, das im gewissen Sinne „absolute“ Koordinatensystem für alle Darstellung von Bewegungen ist für die Sprache offenbar in dem Ort des Redenden und in dem Ort der angeredeten Person gegeben. So wird vielfach mit großer Genauigkeit und Schärfe unterschieden, ob eine besondere Bewegung vom Redenden zum Angeredeten hin, oder ob sie von diesem zu jenem oder endlich, ob sie vom Redenden zu einer dritten, nicht angeredeten Person oder Sache hin erfolgt[40]. Auf derartigen konkreten Unterscheidungen, wie sie durch die Anknüpfung an irgendein sinnliches Ding oder durch die Anknüpfung an das „Ich“ und „Du“ gegeben sind, fußt die Sprache, um aus ihnen sodann die allgemeineren und „abstrakteren“ Bezeichnungen zu entwickeln. Es können jetzt bestimmte Klassen und Schemata von Richtungssuffixen entstehen, die das Ganze der möglichen Bewegungen nach gewissen Hauptpunkten des Raumes, insbesondere [163] nach den Haupthimmelsrichtungen, einteilen[41]. Allgemein scheint es, daß die verschiedenen Sprachen in der Art, wie sie den Ausdruck der Ruhe und den der Richtung gegeneinander abgrenzen, sehr verschiedene Wege einschlagen können. Die Akzente können zwischen beiden in der mannigfachsten Weise verteilt werden: wenn Sprachtypen von rein „gegenständlichem“ Typus, von ausgesprochen nominaler Form, den Ortsbezeichnungen vor den Bewegungsbezeichnungen, dem Ausdruck der Ruhe vor dem der Richtung den Vorrang geben werden, so wird in den verbalen Sprachtypen im allgemeinen das umgekehrte Verhältnis obwalten. Eine mittlere Stellung nehmen hier vielleicht diejenigen Sprachen ein, die zwar an dem Primat des Ausdrucks der Ruhe vor dem der Richtung festhalten, dagegen auch den ersteren verbal gestalten. So wenden z. B. die Sudansprachen zum Ausdruck der Raumverhältnisse, wie des Oben und Unten, des Innen und Außen, durchweg Raumsubstantiva an, die aber selbst noch ein Verbum in sich schließen, das das Verweilen an einem Ort bezeichnet. Dieses „Lokalverbum“ wird stets gebraucht, um eine Tätigkeit auszudrücken, die an einer bestimmten Stelle vor sich geht[42]. Es ist, als könne sich die Anschauung der Tätigkeit selbst von der des bloß örtlichen Daseins nicht losreißen, als bleibe sie in ihr noch gewissermaßen gefangen[43], aber auf der anderen Seite erscheint auch dieses Dasein, erscheint auch die bloße Existenz an einem Orte noch wie eine Art tätigen Verhaltens des Subjekts, das sich in ihm befindet. Auch hier zeigt sich, wie sehr die ursprüngliche Anschauung der Sprache in der „Gegebenheit“ des Raumes verharrt, und wie sie nichtsdestoweniger notwendig über sie hinausgetrieben wird, sobald sie zur Darstellung der Bewegung und der reinen Tätigkeit übergeht. Je energischer sich die Betrachtung dieser letzteren zuwendet und je schärfer sie in ihrer Eigenart erfaßt wird, um so mehr muß sich schließlich die rein gegenständliche, [164] die substantielle Einheit des Raumes zur dynamisch-funktionalen Einheit umgestalten, muß der Raum selbst gleichsam als das Ganze der Aktionsrichtungen, der Richt- und Kraftlinien der Bewegung aufgebaut werden. Hier geht somit in den Aufbau der Vorstellungswelt, den wir bisher wesentlich nach der objektiven Seite hin verfolgt haben, ein neuer Faktor ein. Es bewährt sich nun in diesem Einzelgebiet der Sprachbildung das allgemeine Gesetz jeder geistigen Form, wonach ihr Gehalt und ihre Leistung nicht in der einfachen Abbildung eines gegenständlich Vorhandenen, sondern in der Schaffung einer neuen Beziehung, einer eigentümlichen Korrelation zwischen „Ich“ und „Wirklichkeit“, zwischen der „subjektiven“ und der „objektiven“ Sphäre besteht. Auch in der Sprache wird kraft dieser Wechselbeziehung der „Weg nach außen“ zugleich zum „Weg nach innen“. An der wachsenden Bestimmtheit, die in ihr die äußere Anschauung gewinnt, gelangt auch die innere erst zur wahrhaften Entfaltung: gerade die Gestaltung der Raumworte wird für die Sprache zum Medium für die Bezeichnung des Ich und für seine Abgrenzung gegen andere Subjekte.

Schon die älteste Schicht der Raumbezeichnungen läßt diesen Zusammenhang deutlich erkennen. In fast allen Sprachen sind es die Raumdemonstrativa gewesen, die den Ausgangspunkt für die Bezeichnung der persönlichen Fürwörter gebildet haben. Die Verknüpfung beider Wortklassen ist rein sprachgeschichtlich so eng, daß es schwer ist, zu entscheiden, welche von ihnen wir als die frühere oder spätere, welche wir als die fundamentale und welche als die abgeleitete anzusehen haben. Während Humboldt in seiner grundlegenden Abhandlung „über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen“ den Nachweis zu führen gesucht hat, daß die Bezeichnung der persönlichen Pronomina allgemein auf Worte örtlichen Sinns und Ursprungs zurückgehe, neigt die moderne Sprachforschung vielfach dazu, das Verhältnis umzukehren, indem sie die charakteristische Dreiteilung der Demonstrativa, die sich in den meisten Sprachen findet, auf die ursprüngliche und natürliche Dreiteilung der Personen, des „Ich“, des „Du“ und des „Er“ zurückführt. Wie immer aber diese genetische Frage zuletzt entschieden werden mag: in jedem Falle zeigt sich, daß die persönlichen und die demonstrativen Fürworte, die ursprünglichen Personen- und die ursprünglichen Raumbezeichnungen, ihrer gesamten Struktur nach aufs nächste verwandt sind, und daß sie gleichsam derselben Schicht des sprachlichen Denkens angehören. Es ist derselbe halb-mimische, halb-sprachliche Akt des Hinweisens, es sind dieselben Grundformen [165] der „Deixis“ überhaupt, aus welchen der Gegensatz des Hier, des Da und Dort, wie der Gegensatz des Ich, des Du und Er hervorgeht. „Hier“ – so bemerkt G. v. d. Gabelentz – „ist allemal, wo ich bin, und was hier ist, nenne ich dieses, im Gegensatze zu dem und jenem, was da oder dort ist. So erklärt sich der lateinische Gebrauch von hic, iste, ille = meus, tuus, ejus; so auch im Chinesischen das Zusammentreffen der Pronomina der zweiten Person mit Conjunctionen für örtliche und zeitliche Nähe und für Ähnlichkeit[44]“. Das gleiche Verhältnis hat Humboldt in der erwähnten Abhandlung an den malayischen Sprachen, am Japanischen und dem Armenischen aufgewiesen. In der gesamten Entwicklung der indogermanischen Sprachen zeigt sich ferner, daß das Pronomen der dritten Person von dem entsprechenden Demonstrativpronomen seiner Form nach nicht zu trennen ist. Wie französisch il auf lateinisch „ille“ zurückgeht, so entspricht got. is (= nhd. er) dem lateinischen is – und auch bei den Ich-Du-Pronomina der indogermanischen Sprachen ist vielfach der etymologische Zusammenhang mit den hinweisenden Fürworten unverkennbar[45]. Genau entsprechende Beziehungen finden sich im Kreise der semitischen und altaischen Sprachen[46], sowie in den Eingeborenensprachen Nordamerikas und Australiens[47]. Die letzteren aber weisen nun einen weiteren höchst bezeichnenden Zug auf. Von einzelnen Eingeborenensprachen Süd-Australiens wird berichtet, daß sie, wenn sie irgendeine Handlung in der dritten Person aussagen, sowohl dem Subjekt als dem Objekt dieser Handlung ein räumlich-qualifizierendes Kennzeichen anheften. Soll etwa gesagt werden, ein Mann habe einen Hund mit einem Wurfholz geschlagen, so muß der Satz so gefaßt werden, daß er vielmehr besagt, der Mann „da vorn“ habe den Hund „da hinten“ mit dieser oder jener Waffe geschlagen[48]. Hier gibt es mit anderen Worten noch keine allgemeine und abstrakte Bezeichnung des „Er“ oder „Dieser“, sondern das Wort, das hierfür zum Ausdruck dient, ist noch mit einer bestimmten deiktischen Lautgebärde verschmolzen, [166] von der es sich nicht ablösen kann. Dasselbe Verhältnis liegt zugrunde, wenn einige Sprachen Ausdrücke besitzen, die das Individuum, von dem die Rede ist, in einer ganz bestimmten Lage, als sitzend, liegend oder stehend, als gehend oder kommend bezeichnen, während ein einheitlicher Ausdruck für das Pronomen der dritten Person fehlt. Die Sprache der Tscherokesen, in der solche Unterscheidungen besonders ausgebildet sind, besitzt statt eines persönlichen Fürworts der dritten Person deren neun[49]. Andere Sprachen unterscheiden sowohl an der ersten, wie an der zweiten und dritten Person, ob sie sichtbar oder unsichtbar sind, und gebrauchen für jeden dieser Fälle ein besonderes Fürwort[50]. Neben den räumlichen Unterschieden der Lage und Entfernung wird oft auch die zeitliche Gegenwart oder Nicht-Gegenwart durch die besondere Form des Pronomens zum Ausdruck gebracht; auch können zu den örtlichen und zeitlichen Merkmalen noch andere qualifizierende Merkmale hinzutreten[51]. In allen diesen Fällen kommt, wie man sieht, den Ausdrücken, die die Sprache für den rein „geistigen“ Unterschied der drei Personen besitzt, zunächst noch eine unmittelbar-sinnliche, vor allem aber eine räumliche Tönung zu. Das Japanische hat, nach Hoffmann, aus einem Ortsadverbium, das eigentlich „Mittelpunkt“ besagt, ein Wort für das Ich, aus einem anderen, das „da“ oder „dort“ bedeutet, ein Wort für „Er“ geprägt[52]. In Erscheinungen dieser Art zeigt sich unmittelbar, wie die Sprache gleichsam einen sinnlich-geistigen Kreis um den Sprechenden zieht und wie sie dem Zentrum desselben das „Ich“, der Peripherie das „Du“ und „Er“ zuweist. Der eigentümliche „Schematismus“ des Raumes, den wir zuvor im Aufbau der Objektwelt verfolgt haben, bewährt sich hier in umgekehrter Richtung – und erst in dieser doppelten Funktion erfährt auch die Raumvorstellung selber im Ganzen der Sprache ihre vollkommene Durchbildung.

II. Die Zeitvorstellung

Eine wesentlich schwierigere und komplexere Aufgabe, als in der Ausbildung der Raumbestimmungen und Raumbezeichnungen hat die Sprache zu erfüllen, um zu einer genauen Scheidung und Bezeichnung der zeitlichen Verhältnisse zu gelangen. Die einfache Koordination der Raum- und Zeitform, die man in der erkenntnistheoretischen Betrachtung vielfach [167] durchzuführen gesucht hat, findet vonseiten der Sprache keine Bestätigung. Hier zeigt sich vielmehr deutlich, daß es eine Bestimmung von anderer Art und gleichsam von einer höheren Dimension ist, die das Denken überhaupt, und das sprachliche Denken im besonderen, im Aufbau der Zeitvorstellung, in der Unterscheidung der Zeitrichtungen und Zeitstufen, zu vollziehen hat. Denn das „Hier“ und „Dort“ kann in weit einfacherer und weit unmittelbarerer Weise zu einer anschaulichen Einheit zusammengefaßt werden, als es bei den einzelnen Momenten der Zeit, bei dem Jetzt, bei den Früher und Später der Fall ist. Gerade dies kennzeichnet ja diese Momente als Zeitmomente, daß sie niemals gleich Dingen der objektiven Anschauung dem Bewußtsein zugleich und „zumal“ gegeben sind. Die Einheiten, die Teile, die sich in der räumlichen Anschauung wie von selbst zu einem Ganzen zu verbinden scheinen, schließen sich hier vielmehr aus: das Sein der einen Bestimmung bedeutet das Nicht-Sein der anderen und vice versa. Der Gehalt der Zeitvorstellung ist daher niemals in der unmittelbaren Anschauung beschlossen; sondern hier macht sich in noch weit stärkerem Maße, als es von der Raumvorstellung gilt, der entscheidende Anteil des verknüpfenden und trennenden, des analytischen und synthetischen Denkens geltend. Da die Elemente der Zeit als solche nur dadurch sind, daß das Bewußtsein sie durchläuft und in diesem Durchlaufen gegeneinander unterscheidet, so geht eben dieser Akt des Durchlaufens, dieser „discursus“, in die charakteristische Form des Zeitbegriffs selbst ein. Damit aber erscheint das „Sein“, das wir als das Sein des Nacheinander, als das Sein der Zeit bezeichnen, auf eine ganz andere Stufe der Idealität gehoben, als das bloß örtlich bestimmte Dasein. Die Sprache kann zu dieser Stufe nicht unmittelbar gelangen, sondern sie steht auch hier unter dem gleichen inneren Gesetz, das ihre gesamte Bildung und ihren Fortschritt beherrscht. Sie schafft nicht für jeden neuen Bedeutungskreis, der sich ihr erschließt, neue Mittel des Ausdrucks, sondern ihre Kraft besteht eben darin, daß sie ein bestimmtes gegebenes Material in verschiedener Weise zu gestalten, daß sie es, ohne es zunächst inhaltlich zu verändern, in den Dienst einer anderen Aufgabe zu stellen und ihm damit eine neue geistige Form aufzuprägen vermag.

Die Betrachtung des Verfahrens, das die Sprache bei der Bildung der ursprünglichen Raumworte anwendet, hat gezeigt, wie sie sich hierbei durchweg der einfachsten Mittel bedient. Die Umsetzung vom Sinnlichen ins Ideelle erfolgt hier überall so allmählich, daß sie als solche, als eine entscheidende Wendung der geistigen Gesamthaltung, anfangs kaum bemerkbar [168] wird. Aus einer eng begrenzten sinnlichen Materie, aus dem Unterschied in der Färbung der Vokale und aus der besonderen lautlichen und gefühlsmäßigen Beschaffenheit einzelner Konsonanten und Konsonantengruppen werden die Bezeichnungen für die örtlichen Gegensätze und für die Richtungsgegensätze im Raume geformt. Der gleiche Prozeß zeigt sich in der Entwicklung der Sprache von einer neuen Seite her, wenn wir die Art betrachten, in der sie zu ihren ursprünglichen Zeitpartikeln gelangt. Wie die Grenze zwischen den sinnlichen Natur- und Gefühlslauten und den einfachsten Raumworten als eine durchaus fließende Grenze erschien – so zeigt sich derselbe stetige und unmerkliche Übergang auch zwischen der sprachlichen Sphäre, die die örtlichen und derjenigen, die die zeitlichen Bestimmungen umfaßt. Noch in unseren modernen Kultursprachen bilden beide vielfach eine ungeschiedene Einheit: noch hier ist es eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß ein und dasselbe Wort für den Ausdruck räumlicher wie zeitlicher Verhältnisse gebraucht wird. Noch reichere Belege für diesen Zusammenhang bieten die Sprachen der Naturvölker dar, die in sehr vielen Fällen überhaupt kein anderes Bildungsmittel zum Ausdruck der Zeitvorstellung als dies zu besitzen scheinen. Die einfachen Ortsadverbia werden unterschiedslos auch im zeitlichen Sinne verwendet, so daß z. B. das Wort für „hier“ mit dem für „jetzt“, das für „dort“ mit dem für früher oder später zusammenfließt[53]. Man hat dies damit zu erklären gesucht, daß die räumliche und die zeitliche Nähe oder Ferne objektiv einander bedingen; daß das, was sich in räumlich entfernten Gegenden abgespielt hat, auch zeitlich in dem Augenblick, in dem von ihm gesprochen wird, ein Vergangenes und weit Zurückliegendes zu sein pflegt. Aber offenbar handelt es sich hierbei weniger um derartige reale und tatsächliche, als um rein ideelle Zusammenhänge – um eine Stufe des Bewußtseins, die noch relativ undifferenziert und gegen die spezifischen Unterschiede der Raum- und Zeitform als solche noch nicht empfindlich ist. Auch verhältnismäßig komplexe zeitliche Verhältnisse, für die die entwickelten Kultursprachen eigene Ausdrücke geschaffen haben, werden in den Sprachen der Naturvölker oft mit den primitivsten räumlichen Ausdrucksmitteln bezeichnet [54].

[169] Solange nun diese materielle Bindung besteht, – solange kann auch die Eigentümlichkeit der Zeitform als solche in der Sprache nicht rein heraustreten. Auch die Strukturverhältnisse der Zeit wandeln sich jetzt unwillkürlich in solche des Raumes um. Für das „Hier“ und „Dort“ im Raume besteht nur ein schlichtes Distanzverhältnis; es gilt hier einfach das Auseinander, die Trennung zweier Raumpunkte, während es bei dem Übergang vom einen zum anderen im allgemeinen keine bevorzugte Richtung gibt. Als Momente des Raumes besitzen beide Punkte die „Möglichkeit des Beisammenseins“ und halten einander gleichsam stand; das „Dort“ kann durch eine einfache Bewegung in ein „Hier“ verwandelt werden und das Hier kann, nachdem es aufgehört hat, ein solches zu sein, durch die entgegengesetzte Bewegung wieder in seine frühere Form übergeführt werden. Die Zeit aber zeigt im Gegensatz hierzu, neben dem Auseinander und der wechselseitigen Entfernung ihrer einzelnen Elemente, einen bestimmten einzigartigen und nicht umkehrbaren „Sinn“, in dem sie verläuft. Die Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft oder die von der Zukunft in die Vergangenheit ist je ein unverwechselbar Eigenes. Wo indes das Bewußtsein noch vorzugsweise im Kreise der räumlichen Anschauung verharrt und die zeitlichen Bestimmungen nur insoweit ergreift, als es sie durch räumliche Analogien erfassen und bezeichnen kann, – da muß notwendig auch diese Eigenheit der zeitlichen Richtungen zunächst im Dunkel bleiben. Wie im Raume, so ist es auch hier der einfache Unterschied von Ferne und Nähe, auf den alles andere zurückgeführt wird. Die einzige wesentliche Differenz, die ergriffen und scharf zum Ausdruck gebracht wird, ist die zwischen dem „Jetzt“ und Nicht-Jetzt – zwischen dem unmittelbaren Gegenwartspunkt und dem, was sich „außerhalb“ desselben befindet. Dabei ist freilich dieser Punkt nicht als streng einfacher mathematischer Punkt zu denken, sondern es eignet ihm eine bestimmte Ausdehnung. Das Jetzt, nicht als mathematische Abstraktion, sondern als psychisches Jetzt, umspannt die Gesamtheit von Inhalten, die zu einer unmittelbaren zeitlichen Einheit zusammengeschaut, die zum Ganzen eines Augenblicks, als einer elementaren Erlebniseinheit, verdichtet werden können. Es ist kein bloß gedachter Grenzpunkt, der das Frühere vom Späteren trennt, sondern es besitzt in sich selbst eine gewisse Dauer, die so weit als die unmittelbare Erinnerung, als das konkrete Gedächtnis reicht. Für diese Form der primären Zeitanschauung zerfällt die Gesamtheit des Bewußtseins und seiner Inhalte gleichsam in [170] zwei Sphären: in einen hellen, vom Lichte der „Gegenwart“ getroffenen und erleuchteten, und in einen anderen dunklen Kreis; aber zwischen diesen beiden Grundstufen fehlt es noch an jeder Vermittlung und an jedem Übergang, an jeder Nuancierung und Abtönung.

Das voll entwickelte Bewußtsein, insbesondere das Bewußtsein der wissenschaftlichen Erkenntnis, ist dadurch ausgezeichnet, daß es nicht in diesem einfachen Gegensatz des „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“ verharrt, sondern ihn zu reichster logischer Entfaltung bringt. Ihm ergeben sich eine Fülle von Zeitstufen, die jedoch sämtlich durch eine einheitliche Ordnung umfaßt sind, in der jedem Moment seine ganz bestimmte Stelle zukommt. Die erkenntniskritische Analyse zeigt, daß diese Ordnung weder durch die Empfindung „gegeben“ ist, noch aus der unmittelbaren Anschauung geschöpft werden kann. Sie ist vielmehr erst ein Werk des Verstandes – und insbesondere ein Werk des kausalen Folgerns und Schließens. Die Kategorie der Ursache und Wirkung ist es, die die bloße Anschauung des Nacheinander zum Gedanken einer einheitlichen Zeitordnung des Geschehens umprägt. Der einfache Unterschied der einzelnen Zeitstellen muß erst in den Begriff einer wechselseitigen dynamischen Abhängigkeit zwischen ihnen umgebildet, die Zeit als reine Anschauungsform muß mit der Funktion des kausalen Urteilens durchsetzt werden, bevor dieser Gedanke sich entwickeln und sich befestigen kann, bevor das unmittelbare Zeitgefühl in den systematischen Begriff der Zeit, als einer Bedingung und als eines Inhalts der Erkenntnis übergeht. Wie weit der Weg von dem einen zum andern ist und durch welche Schwierigkeiten und Paradoxien er hindurchführt, hat uns die Entwicklung der modernen Physik aufs klarste vor Augen gestellt. Kant sieht in den „Analogien der Erfahrung“, in den drei synthetischen Grundsätzen der Substantialität, der Kausalität und der Wechselwirkung die intellektuelle Bedingung und Grundlage für die Setzung der drei verschiedenen möglichen Zeitverhältnisse, für die Konstituierung der Beharrlichkeit, der Folge und des Zugleichseins. Der Fortgang der Physik zur allgemeinen Relativitätstheorie und die Umbildung, die der Zeitbegriff in dieser letzteren erfahren hat, hat gezeigt, daß dieses relativ einfache Schema, das der Grundform der Newtonischen Mechanik nachgebildet ist, auch erkenntniskritisch durch komplexere Bestimmungen ersetzt werden muß[55]. Ganz allgemein lassen sich im Fortschritt vom Zeitgefühl zum Zeitbegriff drei verschiedene Etappen unterscheiden, die auch für die Spiegelung, die das Zeitbewußtsein in der Sprache findet, von entscheidender Bedeutung sind. Auf der [171] ersten Stufe ist das Bewußtsein lediglich von dem Gegensatze des „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“ beherrscht, der in sich selbst noch keinerlei weitere Differenzierung erfahren hat – auf der zweiten beginnen sich bestimmte zeitliche „Formen“ gegeneinander abzuheben, beginnt die vollendete Handlung sich von der unvollendeten, die dauernde von der vorübergehenden zu scheiden, so daß ein bestimmter Unterschied der zeitlichen Aktionsarten sich herausbildet – bis zuletzt der reine Relationsbegriff der Zeit als abstrakter Ordnungsbegriff gewonnen wird und die verschiedenen Zeitstufen in ihrem Gegensatz und in ihrer wechselseitigen Bedingtheit klar hervortreten. –

Denn wie von den Relationen des Raumes, so gilt noch mehr von denen der Zeit, daß sie nicht sogleich als Beziehungen zum Bewußtsein kommen, sondern daß ihr reiner Beziehungscharakter immer nur in der Verschmelzung und Verhüllung mit anderen Bestimmungen, insbesondere mit Dingcharakteren und Eigenschaftscharakteren, hervortritt. Wenn die örtlichen Bestimmungen gegenüber den sonstigen sinnlichen Qualitäten, durch welche sich die Dinge unterscheiden, gewisse auszeichnende Merkmale besitzen, so stehen sie doch als Qualitäten mit ihnen auf ein und derselben Stufe. Das „Hier“ und „Dort“ haftet dem Gegenstand, von dem es ausgesagt wird, nicht anders an, als irgendein sonstiges „Dies“ und „Das“. So müssen alle Bezeichnungen der Raumform von bestimmten stofflichen Bezeichnungen ihren Anfang nehmen. Indem diese Auffassung sich vom Raum auf die Zeit überträgt, erscheinen auch hier die zeitlichen Bedeutungsunterschiede zunächst als reine Eigenschaftsunterschiede. Es ist hierfür besonders charakteristisch, daß sie keineswegs allein am Verbum, sondern auch am Nomen hervortreten. Für die Betrachtungsweise, die sich in unseren entwickelten Kultursprachen durchgesetzt hat, haftet die Zeitbestimmung wesentlich denjenigen Redeteilen an, die einen Vorgangs- oder Tätigkeitsausdruck in sich schließen. Der Sinn der Zeit und die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die sie in sich faßt, kann nirgends anders als am Phänomen der Veränderung ergriffen und fixiert werden. Das Verbum, als Ausdruck eines bestimmten Zustandes, von dem die Veränderung anhebt oder als Bezeichnung des Aktes des Übergangs selbst, erscheint daher als der eigentliche und einzige Träger der zeitlichen Bestimmungen: es scheint das „Zeitwort“ κατ᾽ ἐξοχήν zu sein. Noch Humboldt hat diesen Zusammenhang aus der Natur und Eigenart der Zeitvorstellung einerseits, der Verbalvorstellung andererseits als notwendig zu erweisen gesucht. Das Verbum ist nach ihm das Zusammenfassen eines energischen Attributivum (nicht eines bloß qualitativen) durch das Sein. Im energischen [172] Attributivum liegen die Stadien der Handlung, im Sein die der Zeit[56]. Aber neben dieser allgemeinen Betrachtung, die sich in der Einleitung zum Kawi-Werk findet, steht freilich in dem Werke selbst der Hinweis, daß nicht alle Sprachen diese Beziehung in gleicher Deutlichkeit ausprägen. Während wir gewohnt seien, die Beziehung der Zeit nur in Verbindung mit dem Verbum als Teil der Konjugation zu denken, hätten z. B. die malayischen Sprachen einen Gebrauch entwickelt, der sich nicht anders als dadurch erklären lasse, daß sie diese Beziehung an das Nomen anknüpfen[57]. In großer Klarheit tritt dieser Gebrauch dort hervor, wo die Sprache dieselben Mittel, die sie zur Unterscheidung örtlicher Verhältnisse ausgebildet hat, unmittelbar auch für die Unterscheidung zeitlicher Bestimmungen verwendet. Das Somali benutzt die früher erwähnte Differenzierung in den Vokalen des bestimmten Artikels nicht nur, um damit Unterschiede der räumlichen Stellung und Lage, sondern auch um zeitliche Unterschiede zur Darstellung zu bringen. Die Entwicklung und Bezeichnung der Temporalvorstellungen geht hier der der Lokalvorstellungen genau parallel. Mittels der drei Artikelvokale können reine Nomina, die für unsere Vorstellung nicht das Geringste von einer zeitlichen Bestimmung in sich tragen, also z. B. Worte wie „Mann“ oder „Krieg“, mit einem gewissen zeitlichen Index versehen werden. Der Vokal -a dient zur Bezeichnung des zeitlich Gegenwärtigen, der Vokal -o bezeichnet das zeitlich Abwesende, wobei zwischen der Zukunft und der noch wenig entfernten Vergangenheit kein Unterschied gemacht wird. Auf Grund dieser Trennung wird dann erst mittelbar auch am Ausdruck der Handlung scharf unterschieden, ob sie abgeschlossen oder noch nicht abgeschlossen ist, ob sie punktuell ist oder eine größere oder geringere Dauer in sich schließt[58]. Eine solche Ausprägung reiner Temporalcharaktere am Nomen könnte leicht als Beweis eines besonders geschärften und verfeinerten Zeitsinnes aufgefaßt werden – wenn sich nicht auf der anderen Seite zeigte, daß gerade hier Zeitsinn und Ortssinn insofern noch völlig ineinanderfließen, als das Bewußtsein für das Spezifische der zeitlichen Richtungen noch ganz unentwickelt ist. Wie der Inhalt des Hier und Dort, so treten auch der Inhalt des Jetzt und Nicht-Jetzt deutlich auseinander, aber der Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft [173] tritt hinter dieser Unterscheidung durchaus zurück und damit wird gerade dasjenige Moment, das für das Bewußtsein der reinen Zeitform und ihrer Eigenart entscheidend ist, in seiner Entwicklung hintangehalten.

Die Entwicklung der Kindersprache zeigt einerseits, daß die Bildung der Zeitadverbien erst wesentlich später, als die der Raumadverbien erfolgt, und daß andererseits Ausdrücke, wie „heute“, „gestern“ und „morgen“ anfangs keinerlei scharf abgegrenzten zeitlichen Sinn besitzen. Das „Heute“ ist der Ausdruck der Gegenwart überhaupt, das „Morgen“ und „Gestern“ der Ausdruck für die Zukunft oder Vergangenheit überhaupt: es werden also damit zwar bestimmte zeitliche Qualitäten unterschieden, aber ein quantitatives Maß, ein Maß zeitlicher Abstände, wird nicht erreicht[59]. Noch einen Schritt weiter zurück scheint uns die Betrachtung einzelner Sprachen zu führen, in denen auch die qualitativen Unterschiede der Vergangenheit und Zukunft sich häufig völlig verwischen. Im Ewe dient ein und dasselbe Adverbium dazu, ebensowohl das „Gestern“, wie das „Morgen“ zu bezeichnen[60]. In der Schambalasprache wird das gleiche Wort dazu verwandt, um sowohl auf die graue Vorzeit zurück-, als auf die späte Zukunft hinauszuweisen. „Diese für uns sehr auffallende Erscheinung“ – so bemerkt einer der Erforscher dieser Sprache sehr bezeichnend – „findet ihre natürliche Erklärung darin, daß die Ntu-Neger die Zeit anschauen wie ein Ding, darum gibt es für sie nur ein Heute und Nichtheute; ob das letztere gestern war oder morgen sein wird, ist den Leuten ganz einerlei, darüber reflektieren sie nicht, denn dazu gehört nicht nur ein Anschauen, sondern ein Denken und eine begriffliche Vorstellung von dem Wesen der Zeit … Der Begriff „Zeit“ ist den Schambala fremd, sie kennen eben nur die Anschauung der Zeit. Wie schwer es uns Missionaren geworden ist, uns von unserem Zeitbegriff zu emanzipieren und die Zeitanschauung der Schambala zu verstehen, geht daraus hervor, daß wir jahrelang nach einer Form gesucht haben, welche nur das Futurum bezeichnet; wie oft waren wir glücklich, diese Form gefunden zu haben, um später, manchmal freilich erst nach Monaten, zu erkennen, daß die Freude verfrüht war, denn es ergab sich jedesmal, daß die gefundene Form auch für die Vergangenheit [174] gebraucht wurde[61].“ Diese Anschauung der Zeit als eines Dinges drückt sich u. a. auch darin aus, daß die Verhältnisse der Zeit durch Nomina, denen ursprünglich eine räumliche Bedeutung anhaftet, wiedergegeben werden[62]. Und ebenso wie vom Ganzen der Zeit im Grunde immer nur das jeweilige im Bewußtsein gegenwärtige Zeitstück erfaßt und den anderen nicht-gegenwärtigen Teilen gegenübergestellt wird, so macht sich die gleiche dingliche Zerstückung auch in der Auffassung der Handlung und Tätigkeit geltend. Die Einheit der Handlung „zerfällt“ buchstäblich in derartige dingliche Einzelstücke. Eine Handlung kann, auf der Stufe, auf der wir hier stehen, nur dadurch dargestellt werden, daß die Sprache sie in alle ihre Einzelheiten zerlegt und jede derselben zur gesonderten Darstellung bringt. Und bei dieser Zerlegung handelt es sich nicht um eine gedankliche Analyse – denn diese geht mit der Synthese, mit der Erfassung der Form des Ganzen, Hand in Hand und bildet zu ihr das korrelative Moment –, sondern um ein sozusagen materielles Zerschlagen der Handlung in ihre Bestandteile, deren jeder nun als ein für sich bestehendes objektives Dasein angeschaut wird. So wird es z. B. als eine gemeinsame Eigentümlichkeit einer großen Anzahl afrikanischer Sprachen bezeichnet, daß sie jeden Vorgang und jede Tätigkeit in ihre Teile zerlegen und jeden Teil für sich in einem selbständigen Satz zur Darstellung bringen. Das Tun wird in all seinen Einzelheiten beschrieben und jede dieser Einzelhandlungen wird durch ein besonderes Verbum ausgedrückt. Ein Vorgang etwa, den wir durch den einzigen Satz: „er ertrank“ bezeichnen, muß hier durch die Sätze: „er trank Wasser, starb“ wiedergegeben werden; die Tätigkeit, die wir als „abschneiden“ bezeichnen, wird durch „schneiden, fallen“, die Tätigkeit des Bringens durch „nehmen, dorthin gehen“ wiedergegeben[63]. Steinthal hat diese Erscheinung, die er mit Beispielen aus den Mande-Negersprachen belegt, psychologisch damit zu erklären gesucht, daß er sie auf eine „mangelhafte Verdichtung der Vorstellungen“ zurückführt[64]. Aber eben diese „mangelhafte Verdichtung“ weist deutlich auf eine Grundeigentümlichkeit der Zeitvorstellung jener Sprachen zurück. Weil hier nur die einfache Scheidung des Jetzt und Nicht-Jetzt besteht, so ist nur der relativ kleine Ausschnitt [175] des Bewußtseins, der unmittelbar von dem Licht des Jetzt getroffen wird, für dasselbe im eigentlichen Sinne vorhanden. Das Ganze einer Handlung kann daher nicht anders apperzipiert, nicht anders gedanklich und sprachlich erfaßt werden, als dadurch, daß das Bewußtsein es sich in all seinen Einzelstadien im buchstäblichen Sinne „vergegenwärtigt“, daß es diese Stadien, eins nach dem anderen, gleichsam in die Helle des Jetzt hineinrückt. So entsteht hier eine Fülle von Bezeichnungen; so wird ein Mosaikstift neben den anderen gesetzt: aber das Ergebnis ist nicht die Einheit, sondern nur die Buntheit des Bildes. Denn jede Einzelheit ist für sich genommen, ist nur punktuell bestimmt: aus einem solchen Aggregat von lauter einfachen Gegenwartspunkten aber kann die Vorstellung des echten zeitlichen Kontinuums nicht erwachsen.

Für die Form, die diese Sprachen zum Ausdruck der Bewegung und der Handlung besitzen, gilt daher in der Tat der Zenonische Einwand: hier ruht im Grunde der fliegende Pfeil, weil er in jedem Moment seiner Bewegung nur eine fixe Lage besitzt. Das entwickelte Zeitbewußtsein befreit sich aus dieser Schwierigkeit und Paradoxie, indem es ganz neue Mittel zur Erfassung von zeitlichen „Ganzheiten“ erschafft. Es setzt das Ganze der Zeit nicht mehr als substantielles Ganze aus den einzelnen Augenblicken zusammen, sondern erfaßt es als ein funktionales und als ein dynamisches Ganze: als eine Einheit der Beziehung und als eine Einheit der Wirkung. Die Anschauung der zeitlichen Einheit der Handlung geht einerseits von dem Subjekt aus, das in ihr begriffen ist, andererseits von dem Ziel, auf das sie gerichtet ist. Beide Momente liegen in ganz verschiedenen Ebenen; aber die synthetische Kraft des Zeitbegriffs bewährt sich eben darin, daß er ihre Gegensätzlichkeit in eine wechselseitige Bezüglichkeit verwandelt. Der Prozeß des Tuns kann jetzt nicht mehr in lauter einzelne Phasen auseinanderfallen, da hinter ihm von Anfang an die einheitliche Energie des handelnden Subjekts und vor ihm der einheitliche Zweck des Tuns steht. Indem in dieser Weise die Momente der Handlung sich zu einer kausalen und teleologischen Gesamtreihe, zur Einheit einer dynamischen Verknüpfung und einer teleologischen Bedeutung zusammenschließen, wächst hieraus erst mittelbar die Einheit der zeitlichen Vorstellung hervor. Im vollentwickelten sprachlichen Bewußtsein prägt sich diese neue Gesamtansicht darin aus, daß die Sprache nunmehr, um das Ganze eines Vorgangs oder eines Tuns zu kennzeichnen, nicht mehr der Anschauung aller Einzelheiten seines Verlaufs bedarf, sondern sich damit begnügt, den Anfangs- und Endpunkt, das Subjekt, von dem das Tun ausgeht, und das objektive Ziel, auf das es gerichtet ist, [176] zu fixieren. Ihre Kraft erweist sich jetzt darin, daß sie die ganze Weite dieses Gegensatzes in einem einzigen Blick zu umfassen und ihn eben damit zu überbrücken vermag: – die Spannung zwischen den beiden Extremen hat sich verschärft, aber zugleich springt jetzt gleichsam der geistige Funke über, der zwischen ihnen den Ausgleich schafft.

Dieser Ansicht von dem relativ komplexen und vermittelten Charakter des reinen Zeitbegriffs scheinen freilich auf den ersten Blick die Angaben zu widersprechen, die sich in der Grammatik „primitiver“ Sprachen über die „Zeitform des Verbum“ finden. Gerade den Sprachen der „Primitiven“ wird vielfach ein überraschender, für uns kaum faßbarer Reichtum an „Tempusformen“ nachgerühmt. Im Sotho werden von Endemann 38 affirmative Tempusformen, dazu 22 im Potential, 4 Formen im Optativ bezw. Final, eine große Zahl partizipialer Bildungen, 40 konditionale Formen u. and. angeführt; im Schambala sind nach der Grammatik von Roehl allein im Indikativ des Aktiv etwa 1000 Verbalformen zu unterscheiden[65]. Die Schwierigkeit, die hierin zu liegen scheint, löst sich indes, wenn man erwägt, daß es sich in solchen Unterscheidungen, nach den Angaben der Grammatiker selbst, um alles andere als um die Bestimmung eigentlich zeitlicher Nuancen handelt. Daß im Schambala gerade die zeitliche Grundnuance, der Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft in keiner Weise entwickelt ist, hat sich bereits gezeigt – und für die sogen. „Tempora“ des Verbums in den Bantusprachen wird ausdrücklich hervorgehoben, daß sie nicht als strenge Zeitformen in dem Sinne zu betrachten seien, daß für sie lediglich die Frage des Früher oder Später in Betracht käme. Was die Fülle dieser Verbalformen ausdrückt, sind demnach nicht reine Zeitcharaktere der Handlung, sondern gewisse qualitative und modale Unterschiede, die an ihr gemacht werden. „Eine Zeitdifferenz“ – so betont z. B. Seler für das Verbum der Indianersprachen – „kommt durch verschiedene Partikeln oder durch Verbindung mit anderen Verben zustande, spielt aber bei weitem nicht die Rolle in der Sprache, die man nach den ausgeführten Konjugationsschematen der verschiedenen geistlichen Grammatiker vermuten sollte. Und weil die Tempusdifferenz etwas Unwesentliches und Akzessorisches ist, darum finden sich auch gerade in der Tempusbildung die größten Verschiedenheiten zwischen sonst eng verwandten Sprachen[66].“ Aber auch dort, wo [177] die Sprache damit beginnt, die zeitlichen Bestimmungen deutlicher auszuprägen, geschieht dies nicht in dem Sinne, daß sie ein scharfes und folgerechtes System der relativen Zeitstufen aufbaut. Die ersten Unterschiede, die sie macht, tragen nicht einen derartig relativen, sondern gewissermaßen einen absoluten Charakter. Was zunächst erfaßt wird, sind, psychologisch gesprochen, gewisse zeitliche „Gestaltqualitäten“, die sich an einem Vorgang oder an einer Handlung vorfinden. Es ist ein anderes, ob eine Handlung „plötzlich“ einsetzt oder ob sie sich allmählich entwickelt, ein anderes, ob sie sich sprunghaft vollzieht oder kontinuierlich abläuft, ein anderes, ob sie ein einziges unzerlegtes Ganzes ausmacht oder sich etwa in gleichartige, rhythmisch sich wiederholende Phasen gliedert. Aber all diese Unterschiede sind für die konkrete Auffassung, der die Sprache folgt, nicht sowohl begriffliche, als anschauliche, nicht sowohl quantitative, als qualitative Differenzen. Die Sprache bringt sie zum Ausdruck, indem sie, früher als sie zur scharfen Unterscheidung der „Tempora“ als eigentlicher Relationsstufen übergeht, die Verschiedenheit der „Aktionsarten“ bestimmt ausprägt. Hier handelt es sich noch keineswegs um die Auffassung der Zeit als einer allgemeinen Beziehungs- und Ordnungsform, die alles Geschehen umfaßt, als eines Inbegriffs von Stellen, deren jede zur anderen ein bestimmtes eindeutiges Verhältnis des ‚Vor‘ und ‚Nach‘, des ‚Früher‘ oder ‚Später‘ besitzt. Vielmehr hat hier noch jeder einzelne Vorgang, der durch eine bestimmte Aktionsart dargestellt wird, gleichsam seine eigene Zeit – eine „Zeit für sich“, an der gewisse Formeigentümlichkeiten, bestimmte Weisen ihrer Gestaltung und ihres Ablaufs hervorgehoben werden. In dem Nachdruck, mit dem die einzelnen Sprachen bald die Unterschiede der relativen Zeitstufe, bald die Unterschiede der reinen Aktionsarten betonen, weichen sie bekanntlich sehr erheblich voneinander ab. Die semitischen Sprachen gehen, statt von der Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von einer einfachen Zweiteilung aus, indem sie lediglich den Gegensatz der vollendeten und der unvollendeten Handlung betrachten. Das Tempus der vollendeten Handlung, das „Perfektum“, kann demnach ebensowohl als Ausdruck der Vergangenheit wie als Ausdruck der Gegenwart benutzt werden, [178] wenn nämlich eine Handlung bezeichnet werden soll, die schon in der Vergangenheit angefangen hat, sich aber in die Gegenwart fortsetzt und sich unmittelbar in sie erstreckt – andererseits kann das „Imperfektum“, das eine schon im Werden begriffene, aber noch nicht vollendete Handlung ausdrückt, in diesem Sinne für eine Handlung jeder Zeitstufe, für eine künftige sowohl, wie für eine gegenwärtige oder vergangene gebraucht werden[67]. Aber auch dasjenige Sprachgebiet, in dem der reine Relationsbegriff der Zeit und der Ausdruck der reinen Zeitunterschiede der Handlung zur relativ höchsten Durchbildung gelangt ist, hat diese Durchbildung nicht ohne mannigfache Vermittlungen und Zwischenstufen erreicht. Die Entwicklung der indogermanischen Sprachen zeigt, daß auch in ihnen die Unterscheidung der Aktionsarten derjenigen der eigentlichen „Tempora“ vorausgegangen ist. In der indogermanischen Urzeit – so betont z. B. Streitberg – hat es überhaupt keine ‚Tempora‘, d. h. keine formalen Kategorien gegeben, deren ursprüngliche Funktion es war, zur Bezeichnung der relativen Zeitstufen zu dienen. „Die Formenklassen, die wir ‚Tempora‘ zu nennen gewohnt sind, haben an sich mit der relativen Zeitstufe nicht das geringste zu schaffen. Zeitlos sind vielmehr alle Präsensklassen, alle Aoriste, alle Perfecta in allen ihren Modis, und sie unterschieden sich voneinander nur durch die Art der Handlung, die sie charakterisierten. Gegenüber dieser Fülle von Formen, die zur Unterscheidung der Aktionsarten dienten, nehmen sich die Mittel, die das Indogermanische zur Bezeichnung der Zeitstufen in Anwendung brachte, bescheiden, ja ärmlich genug aus. Für die Gegenwart war eine besondere Bezeichnung überhaupt nicht vorhanden, hier genügte die zeitlose Handlung vollauf. Die Vergangenheit aber ward durch ein zur Verbalform tretendes temporales Adverbium ausgedrückt: das Augment … Die Zukunft endlich ward, wie es scheint, in indogermanischer Urzeit nicht auf einheitliche Weise ausgedrückt. Eines dieser Mittel, vielleicht das ursprünglichste, war eine modale Form von wahrscheinlich voluntativischer Bedeutung[68].“ Dieser Vorrang der Bezeichnung der Aktionsart vor der Zeitstufe tritt auch in der Entwicklung der einzelnen indogermanischen [179] Sprachen, wenngleich in verschiedenem Maße, deutlich zutage[69]. Für den Unterschied der momentanen und der dauernden Handlung haben viele dieser Sprachen ein eigenes lautliches Mittel ausgebildet, sofern die Formen, die zum Ausdruck der momentanen Handlung dienten, vom Verbalstamm mit einfachem Wurzelvokal, die Ausdrücke für die dauernde Handlung dagegen vom Verbalstamm mit gesteigertem Wurzelvokal gebildet wurden[70]. Allgemein pflegt man in der Grammatik der indogermanischen Sprachen seit G. Curtius die „punktuelle“ Aktion von der „kursiven“ zu unterscheiden, welcher Unterscheidung dann die weiteren Differenzen der perfektischen, der iterativen, der intensiven, der terminativen Aktion u. a. zur Seite treten[71]. Die einzelnen Sprachen des indogermanischen Kreises weichen hierbei in der Schärfe, mit der sie diese Differenzen ausprägen, sowie in dem Grad der Ausbildung, den ihnen gegenüber die rein temporalen Bestimmungen erhalten, z. T. erheblich voneinander ab[72]; aber immer ist deutlich, daß die scharfe Bezeichnung der relativen Zeitstufe ein verhältnismäßig spätes Ergebnis ist, während die Bezeichnung der allgemeinen „Zeitgestalt“ eines Vorgangs oder einer Handlung einer früheren Schicht des Denkens und Sprechens anzugehören scheint.

Am weitesten entfernt von der primären Stufe der Zeitanschauung [180] sind schließlich diejenigen sprachlichen Ausdrücke, die zu ihrer Bildung bereits eine Form der Zeitmessung voraussetzen, die also die Zeit als einen scharf bestimmten Größenwert fassen. Hier stehen wir freilich, streng genommen, bereits vor einer Aufgabe, die über den Kreis der Sprache hinausweist und die erst in den aus bewußter Reflexion entstandenen „künstlichen“ Zeichensystemen, wie sie die Wissenschaft ausbildet, ihre Lösung finden kann. Doch enthält die Sprache auch für diese neue Leistung eine entscheidende Vorbereitung: denn die Entwicklung des Systems der Zahlzeichen, das den Grund für alle exakte mathematische und astronomische Messung bildet, ist an die vorangehende Ausbildung der Zahlworte gebunden. In drei verschiedenen, aber eng miteinander verknüpften und wechselseitig aufeinander bezogenen Phasen entwickelt die Sprache die drei Grundanschauungen von Raum, Zeit und Zahl und schafft damit erst die Bedingung, an die jeder Versuch der intellektuellen Beherrschung der Phänomene und jede Synthesis derselben zur Einheit eines „Weltbegriffs“ gebunden bleibt.

III. Die sprachliche Entwicklung des Zahlbegriffs

Wenn man von der Vorstellung des Raumes zu der der Zeit und von beiden wieder zur Vorstellung der Zahl fortschreitet, so scheint sich darin der Kreis der Anschauung erst zu vollenden – aber zugleich sieht man sich mit jedem neuen Schritt mehr und mehr über diesen Kreis hinausgewiesen. Denn immer weiter weicht in diesem Fortschritt die Welt der faßbaren und greifbaren Formen zurück – und an ihrer Statt baut sich allmählich eine neue Welt: eine Welt der intellektuellen Prinzipien auf. In diesem Sinne wird das „Sein“ der Zahl schon von ihren eigentlichen philosophischen und wissenschaftlichen Entdeckern, von den Pythagoreern bestimmt. Proklos rühmt von Pythagoras, daß er zuerst die Geometrie zur freien Wissenschaft erhoben habe, indem er deduktiv (ἄνωθεν) ihre Prinzipien erforscht und ihre Lehrsätze stofflos und rein gedanklich (ἀύλως καὶ νοερῶς) dargestellt habe[73]. Die allgemeine Tendenz, die damit der wissenschaftlichen Mathematik von ihrem ersten Begründer eingeprägt war, hat sich seither immer weiter verstärkt und vertieft. Durch die Vermittlung von Platon, von Descartes und Leibniz teilt sie sich der modernen Mathematik mit. Mehr noch als die antike Mathematik sieht sich die moderne Auffassung, indem sie versucht, Geometrie und Analysis aus einem Prinzip heraus zu gestalten, auf den Zahlbegriff als [181] auf ihr eigentliches Zentrum zurückgewiesen. Und immer bestimmter wendet sich nun alle Arbeit der gedanklichen Begründung diesem Mittelpunkt zu. In der Mathematik des 19. Jahrhunderts tritt immer allgemeiner das Bestreben heraus, zu einer logisch-autonomen Gestaltung des Zahlbegriffs durchzudringen. Auf verschiedenen Wegen wird dieses Ziel von Dedekind und Russell, von Frege und Hilbert verfolgt. Russell versucht alle Grundmomente, auf denen die Zahl beruht, auf rein „logische Konstanten“ zurückzuführen; Frege sieht in ihr eine „Eigenschaft“, aber eine solche, die, wie sie selbst unsinnlich ist, auch einem unsinnlichen Inhalt anhaftet, die nicht sowohl Eigenschaft eines „Dinges“, als vielmehr Eigenschaft eines reinen Begriffes ist. Mit gleicher Schärfe und Bestimmtheit wird von Dedekind in der Grundlegung und Ableitung des Zahlbegriffs jede Anknüpfung an anschauliche Verhältnisse, jede Einmischung meßbarer Größen verworfen. Nicht auf die Anschauung von Raum und Zeit soll das Zahlenreich aufgebaut werden, sondern umgekehrt soll der Zahlbegriff als ein „unmittelbarer Ausfluß der reinen Denkgesetze“ uns erst in den Stand setzen, wahrhaft scharfe und genaue Begriffe vom Räumlichen und Zeitlichen zu gewinnen. Indem der Geist sich ohne jede Vorstellung von meßbaren Größen durch ein endliches System einfacher Denkschritte zur Schöpfung des reinen stetigen Zahlenreiches aufschwingt, wird es ihm mit diesem Hilfsmittel erst möglich, die Vorstellung vom stetigen Raume zu einer deutlichen auszubilden[74]. Die kritische Logik zieht aus all diesen in der exakten Wissenschaft selbst wurzelnden Bestrebungen nur die Summe, indem sie davon ausgeht, daß die erste Vorbedingung für das Verständnis der Zahl in der Einsicht bestehe, daß man es bei ihr nicht mit irgend gegebenen Dingen zu tun habe, sondern mit reinen Gesetzmäßigkeiten des Denkens. „Die Zahl von den Dingen abzuleiten“ – so betont sie – „ist, wenn unter Ableiten Begründen verstanden wird, ein offenbarer Zirkel. Denn die Begriffe von Dingen sind komplexe Begriffe, in die als einer der unerläßlichsten Bestandteile die Zahl miteingeht … Es kann ja für das Denken nichts geben, das ursprünglicher wäre, als es selbst, das Denken, das heißt: das Setzen von Beziehung. Was man auch sonst als Grund der Zahl in Anspruch nehmen möchte, würde eben dies, das Beziehungsetzen, einschließen und kann als Grund der Zahl nur darum erscheinen, weil es den wahren Grund, das Beziehungsetzen, als Voraussetzung enthält[75].“

[182] Aber je fester sich das „reine“, das wissenschaftliche Denken hier auf sich selbst stellt und je bewußter es auf alle Stützen und Hilfen der sinnlichen Empfindung oder der Anschauung verzichtet: – so scheint es doch nach wie vor in den Kreis der Sprache und der sprachlichen Begriffsbildung gebannt zu werden. Die wechselseitige Bindung des Sprechens und Denkens tritt an der logischen und der sprachlichen Entwicklung der Zahlbegriffe aufs neue in die Erscheinung – und sie erhält hier ihren vielleicht deutlichsten und bezeichnendsten Ausdruck. Nur durch die Gestaltung der Zahl zum Wortzeichen wird der Weg zur Erfassung ihrer reinen Begriffsnatur frei. So stellen die Zahlzeichen, die die Sprache erschafft, auf der einen Seite für die Gebilde, die die reine Mathematik als „Zahlen“ bestimmt, die unentbehrliche Voraussetzung dar; auf der anderen Seite aber besteht, freilich zwischen den sprachlichen und den rein intellektuellen Symbolen eine unvermeidliche Spannung und ein niemals völlig aufzuhebender Gegensatz. Wenn die Sprache den letzteren erst den Weg bereitet, so vermag sie ihrerseits diesen Weg nicht bis zu Ende zu durchmessen. Jene Form des „beziehentlichen Denkens“, auf welcher die Möglichkeit der Setzung der reinen Zahlbegriffe beruht, bildet für sie ein letztes Ziel, dem sie sich in ihrer Entwicklung fortschreitend annähert, das sie aber innerhalb ihres eigenen Gebiets nicht mehr vollständig zu erreichen vermag[76]. Denn eben jenen entscheidenden Schritt, den das mathematische Denken von den Zahlbegriffen fordert, eben jene eigentümliche Losreißung und Emanzipation von den Grundlagen der Anschauung und der anschaulichen Dingvorstellung, vermag die Sprache nicht zu vollziehen. Sie haftet an der Bezeichnung konkreter Gegenstände und konkreter Vorgänge und bleibt an sie auch dort gebunden, wo sie sich mittelbar zum Ausdruck reiner Beziehungen zu gestalten sucht. Aber wieder bewährt sich hierin das gleiche dialektische Prinzip des Fortschritts: je tiefer die Sprache in ihrer Entfaltung in dem Ausdruck des Sinnlichen versenkt scheint, um so mehr wird sie damit zum Mittel des geistigen Befreiungsprozesses für das Sinnliche selbst. An der Materie des Zählbaren entfaltet sich, so sinnlich, so konkret und beschränkt sie zunächst genommen wird, dennoch die neue Form und die neue gedankliche Kraft, die in der Zahl beschlossen liegt.

Aber diese Form tritt hier nicht sogleich als ein geschlossenes Ganze heraus, sondern sie muß sich successiv aus ihren einzelnen Momenten erst aufbauen. Eben darauf aber beruht nun der Dienst, den die Betrachtung der sprachlichen Entstehung und Herausbildung der Zahlbegriffe [183] der logischen Analyse zu leisten vermag. Ihrem logischen Gehalt und Ursprung nach geht die Zahl auf eine Durchdringung, auf ein Ineinander ganz verschiedener Denkmethoden und Denkforderungen zurück. Das Moment der Vielheit geht hier in das Moment der Einheit, das der Sonderung in das der Verknüpfung, das der durchgängigen Unterscheidung in das der reinen Gleichartigkeit über. Alle diese Gegensätze müssen sich miteinander in ein reines geistiges Gleichgewicht gesetzt haben, damit der „exakte“ Begriff der Zahl sich bilden kann. Dieses Ziel bleibt für die Sprache unerreichbar; aber nichtsdestoweniger läßt sich in ihr deutlich verfolgen, wie die Fäden, die sich zuletzt zu dem kunstreichen Gewebe der Zahl verschlingen, sich einzeln knüpfen und sich, ehe sie zu einem logischen Ganzen zusammengehen, einzeln ausbilden. In dieser Ausbildung verfahren die verschiedenen Sprachen verschieden. Bald ist es das eine, bald das andere Motiv der Zahl- und Mehrheitsbildung, das sie herauslösen und dem sie vor allen anderen eine bevorzugte und gesteigerte Bedeutung geben – aber der Inbegriff all dieser besonderen und in irgendeiner Hinsicht einseitigen Ansichten, die die Sprache vom Zahlbegriff gewinnt, macht doch zuletzt eine Totalität und eine relative Einheit aus. So vermag die Sprache den geistig-intellektuellen Kreis, in welchem der Zahlbegriff liegt, von sich aus zwar nicht völlig zu durchdringen und zu erfüllen – aber sie vermag ihn seinem Umfang nach zu umschreiten und damit mittelbar seine Inhalts- und Grenzbestimmung vorzubereiten. –

Dabei bewährt sich zunächst wieder der gleiche Zusammenhang, der uns in der sprachlichen Erfassung der einfachsten Raumverhältnisse entgegengetreten ist. Die Unterscheidung der Zahlverhältnisse geht, wie die der Raumverhältnisse, vom menschlichen Körper und seinen Gliedmaßen aus, um sich von hier aus fortschreitend über das Ganze der sinnlich-anschaulichen Welt zu verbreiten. Der eigene Leib bildet überall das Grundmodell der ersten primitiven Zählungen: „Zählen“ heißt zunächst gar nichts anderes, als bestimmte Unterschiede, die sich an irgendwelchen äußeren Objekten finden, dadurch bezeichnen, daß sie gleichsam auf den Körper des Zählenden übertragen und an ihm sichtbar gemacht werden. Alle Zahlbegriffe sind demgemäß, ehe sie zu Wortbegriffen werden, reine mimische Handbegriffe oder sonstige Körperbegriffe. Die Zählgebärde dient nicht als bloße Begleitung des übrigens selbständigen Zahlwortes, sondern ist in die Bedeutung und in die Substanz desselben gleichsam eingeschmolzen. Die Eweer z. B. zählen an den ausgestreckten Fingern; beginnend am kleinen Finger der linken Hand, indem sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand je den gezählten Finger einknicken: [184] nach der linken Hand kommt in entsprechender Weise die rechte an die Reihe; dann fängt man entweder wieder von vorne an oder man zählt, an der Erde hockend, an den Zehen weiter[77]. Im Nuba besteht die das Zählen beinahe immer begleitende Gebärde darin, daß man, bei eins beginnend, mit der rechten Hand zuerst den kleinen, dann den Ring-, Mittel- und Zeigefinger, endlich den Daumen der linken Hand in die Faust drückt und sodann dieselbe Geste mit der linken an der rechten Hand vollzieht. Bei der Zahl 20 werden die beiden Fäuste horizontal aneinander gedrückt[78]. Ebenso berichtet v. d. Steinen von den Bakairi, daß auch der einfachste Zählversuch mißlang, wenn das gezählte Objekt, z. B. eine Hand voll Maiskörner, der tastenden Hand nicht unmittelbar dargeboten wurde. „Die rechte Hand tastete … die linke Hand rechnete. Ohne die Finger der rechten Hand zu gebrauchen, nur nach einer Betrachtung der Körner an den Fingern der linken Hand zu zählen, war schon bei 3 Stück ganz unmöglich[79].“ Wie man sieht, genügt es hier nicht, daß die einzelnen gezählten Objekte auf die Teile des Körpers irgendwie bezogen werden, sondern sie müssen gleichsam unmittelbar in körperliche Teile und in Körpergefühle umgesetzt werden, damit der Akt der „Zählung“ an ihnen vonstatten gehen kann. Die Zahlworte bezeichnen daher nicht sowohl irgendwelche objektive Bestimmungen oder Verhältnisse der Gegenstände, als sie vielmehr gewisse Direktiven der körperlichen Bewegung des Zählens in sich schließen. Sie sind Ausdrücke und Anzeigen für die jeweilige Hand- oder Fingerstellung, die häufig in die Befehlsform des Verbums gekleidet sind. So bedeutet z. B. im Sotho das Wort für fünf eigentlich: „vollende die Hand“, das für sechs eigentlich „springe“, d. h. springe zur andern Hand über[80]. Dieser aktive Charakter der sogen. „Zahlworte“ tritt besonders deutlich in denjenigen Sprachen hervor, die ihre Zahlausdrücke dadurch bilden, daß sie die Art und Weise des Gruppierens, des Hinstellens und Aufstellens der Gegenstände, auf die sich die Zählung erstreckt, besonders bezeichnen. So verfügt z. B. die Klamath-Sprache über eine Fülle derartiger Bezeichnungen, die von Verben des Setzens, des Legens und Stellens gebildet sind und die je eine besondere Art der [185] „Reihung“ gemäß der Besonderheit der zu zählenden Objekte zum Ausdruck bringen. Eine bestimmte Gruppe von Gegenständen muß etwa, um gezählt zu werden, auf den Boden ausgebreitet, eine andere muß in Schichten übereinander gelegt werden, die eine muß in Haufen abgeteilt, die andere in Reihen geordnet werden – und jeder solchen bestimmten „Plazierung“ der Gegenstände entspricht je nach ihrer Eigenart ein verschiedenes verbales Zahlwort, ein anderer „numeral classifier“[81]. Kraft dieses Verfahrens werden die Bewegungen in der Aufreihung der Gegenstände mit bestimmten körperlichen Bewegungen, die in einer gegebenen Reihenfolge ablaufend gedacht werden, koordiniert. Dabei brauchen die letzteren nicht auf die Hände und Füße, die Finger und Zehen beschränkt zu bleiben, sondern können auf alle anderen Glieder des menschlichen Leibes übergreifen. In Englisch-Neu-Guinea geht die Folge beim Zählen von den Fingern der linken Hand auf die Handwurzel, den Ellbogen, die Schulter, den Nacken, die linke Brust, den Brustkasten, die rechte Brust, die rechte Seite des Nackens u. s. f. über; in anderen Gebieten wird in derselben Weise die Achsel, die Schlüsselbeinhöhle, der Nabel, der Hals oder die Nase, Auge und Ohr benutzt[82].

Man hat diese primitiven Zählmethoden in ihrem geistigem Wert oft tief herabgesetzt. „Das ist die Schuld, die auf dem Geiste der Neger lastet“ – so drückt sich z. B. Steinthal in seiner Darstellung des Zählverfahrens der Mande-Neger aus –, „daß er, zur Zehe gelangt, nicht die sinnliche Stütze verlassend, frei schöpferisch die Zehe mit sich selbst vervielfältigte, die kurze Reihe aus ihr selbst zur langen ausdehnte, sondern an seinem Leibe haftend von der Hand, dem edeln Werkzeug aller Werkzeuge, dem Diener des Geistes herabsank zum staubwühlenden Fuß, dem Sklaven des Leibes. Dadurch blieb überhaupt die Zahl am Leibe kleben und ward nicht zur abstrakten Zahl-Vorstellung. Der Neger hat keine Zahl, sondern nur eine Anzahl von Fingern, Fingern der Hand und des Fußes; nicht sein Geist ist es, welcher, vom Drange nach dem Unendlichen getrieben, zu jeder bestimmten Anzahl immer noch darüber hinausginge und aus sich selbst Eins hinzufügte; sondern die existierenden Einzelnen, die Dinge der Natur führten ihn von Eins zu Eins, vom kleinen Finger zum Daumen, von der linken zur rechten Hand, von der Hand zum Fuß, von einem Menschen zum andern; nirgends griff er frei gestaltend ein, sondern kroch an der Natur umher … Das ist nicht die Tat, die [186] unser Geist übt, wenn er zählt[83].“ Aber das halb poetische, halb theologische Pathos dieser Scheltrede vergißt, daß es, statt das primitive Verfahren an unserem vollentwickelten Zahlbegriff zu messen, auch hier richtiger und fruchtbarer ist, den wie immer geringen intellektuellen Gehalt, den es trotz allem in sich birgt, aufzusuchen und anzuerkennen. Von irgendeiner Systematik der Zahlbegriffe, von ihrer Einreihung in einen allgemeinen Zusammenhang kann hier freilich noch nicht die Rede sein. Aber das Eine ist erreicht, daß im Durchlaufen einer Mannigfaltigkeit, wenngleich dieselbe ihrem Inhalt nach rein sinnlich bestimmt ist, eine ganz bestimmte Ordnung, eine Reihenfolge des Übergangs vom einen zum anderen Glied innegehalten wird. Nicht willkürlich wird im Akt des Zählens von einem Teil des Körpers zum anderen fortgegangen, sondern die rechte Hand folgt der linken, der Fuß folgt der Hand, der Nacken, die Brust, die Schulter folgt den Händen und Füßen nach einem zwar konventionell gewählten, aber gemäß dieser Wahl festgehaltenen Schema der Succession. Die Aufstellung eines solchen Schemas, so weit sie davon entfernt ist, den Gehalt dessen, was das entwickelte Denken unter „Zahl“ versteht, zu erschöpfen, bildet nichtsdestoweniger für ihn die unentbehrliche Vorbedingung. Denn auch die reine mathematische Zahl löst sich zuletzt in den Begriff eines Stellensystems, in den Begriff einer „Ordnung in der Folge“ – order in progression, wie William Hamilton es genannt hat – auf. Nun scheint freilich der entscheidende Mangel des primitiven Zählverfahrens darin zu liegen, daß es diese Ordnung nicht frei nach einem geistigen Prinzip erzeugt, sondern, daß es sie lediglich den gegebenen Dingen, insbesondere der gegebenen Gliederung des eigenen Leibes des Zählenden, entnimmt. Aber selbst in der unleugbaren Passivität dieses Verhaltens regt sich noch eine eigentümliche Spontaneität, die hier freilich nur erst im Keime sichtbar wird. Der Geist beginnt, indem er die sinnlichen Objekte nicht lediglich nach dem, was sie einzeln und unmittelbar sind, sondern nach der Art, wie sie sich ordnen, erfaßt, von der Bestimmtheit der Gegenstände zur Bestimmtheit der Akte fortzuschreiten: – und an diesen letzteren, an den Akten der Verknüpfung und Sonderung, die er in sich selbst ausübt, wird ihm zuletzt das eigentliche und neue, das „intellektuelle“ Prinzip der Zahlbildung aufgehen.

Zunächst indes bleibt die Fähigkeit, beim Übergang von einem Objekt zum anderen die Ordnung in der Folge des Übergangs festzuhalten, nur ein vereinzeltes Moment, das sich mit den anderen zur Bildung des [187] reinen Zahlbegriffs erforderlichen Momenten noch nicht verknüpft und in Einklang gesetzt hat. Zwischen den gezählten Objekten und den Teilen des menschlichen Körpers, die als Zahlausdrücke fungieren, findet zwar eine bestimmte Zuordnung statt: aber diese behält so lange einen ganz vagen Charakter, sie bleibt sozusagen eine Zuordnung in Bausch und Bogen, als es nicht gelungen ist, die verglichenen Reihen in sich selbst zu gliedern und in scharf bestimmte „Einheiten“ abzuteilen. Die wesentliche Voraussetzung für eine derartige Einheitsbildung aber würde darin bestehen, daß die gezählten Elemente als streng gleichartig angesehen würden – so daß jedes Element sich vom anderen durch nichts anderes, als durch die Stellung, die ihm in der Zählung zukommt, aber durch keine sonstige sinnlich-dingliche Eigenheit oder Eigenschaft unterschiede. Von der Abstraktion einer derartigen „Homogeneität“ aber sind wir einstweilen noch weit entfernt. Nicht nur müssen die gezählten Dinge in ihrer vollen handgreiflichen Bestimmtheit gegenwärtig sein, so daß sie unmittelbar berührt und getastet werden können, sondern auch die Einheiten selbst, an denen die Zählung fortschreitet, weisen durchweg konkret-sinnliche Unterschiede auf und grenzen sich nur durch sie voneinander ab. An Stelle rein gedanklich konzipierter gleichförmiger Setzungseinheiten gibt es hier nur jene natürlichen Dingeinheiten, wie die natürliche Gliederung des menschlichen Körpers sie darbietet. Die primitive „Arithmetik“ kennt als ihre Elemente nur derartige natürliche Gruppen. Ihre Systeme unterscheiden sich je nach diesen dinglich-gegebenen Maßstäben. Aus der Benutzung der Hand als Modell der Zählung geht das Quinarsystem, aus der der beiden Hände das Dezimalsystem, aus der Vereinigung von Händen und Füßen das Vigesimalsystem hervor[84]. Daneben gibt es Zählmethoden, die auch hinter diesen einfachsten Ansätzen zur Gruppen- und Systembildung zurückbleiben. Indessen dürfen solche Grenzen der „Zählung“ nicht zugleich als Grenzen in der Auffassung konkreter Vielheiten und ihrer Unterschiede gedeutet werden. Auch dort vielmehr, wo die eigentliche Zählung nicht über erste kümmerliche Anfänge hinausgelangt ist, kann die Unterscheidung solcher Vielheiten aufs schärfste durchgebildet sein – denn für sie bedarf es nur, daß jeder besonderen Vielheit ein qualitatives Gesamtmerkmal anhaftet, an welchem sie erkannt und in ihrer besonderen Eigenart erfaßt wird, nicht aber, daß sie in sich gegliedert und dadurch quantitativ als eine „Menge von Einheiten“ bestimmt wird. Von den Abiponen, bei denen [188] die Fähigkeit des „Zählens“ nur ganz unvollkommen entwickelt ist, wird berichtet, daß nichtsdestoweniger das Vermögen der Unterscheidung konkreter Gesamtheiten bei ihnen aufs feinste ausgebildet ist. Wenn aus dem Trupp der zahlreichen Hunde, die sie bei der Jagd mit sich führen, beim Aufbruch auch nur einer fehlt, so wird dies sofort erkannt, und ebenso erkennt der Besitzer einer Herde von 4–500 Rindern, wenn diese nach Hause getrieben wird, schon von fern her, ob einige von ihnen, ja auch welche von ihnen fehlen[85]. Hier sind es individuelle Vielheiten, die je an einem besonderen individuellen Merkmal erkannt und unterschieden werden: – die „Zahl“ der Menge tritt, sofern von ihr überhaupt gesprochen werden kann, nicht in der Form der bestimmten und gemessenen Zahlgröße, sondern als eine Art konkreter „Zahlgestalt“, als eine anschauliche Qualität hervor, die an dem zunächst noch völlig ungegliederten Gesamteindruck der Menge haftet[86].

In der Sprache spiegelt sich diese Grundauffassung am deutlichsten darin wider, daß sie ursprünglich keine schlechthin allgemeinen Zahlausdrücke kennt, die auf jeden beliebigen zählbaren Gegenstand anwendbar sind, sondern, daß sie für besondere Klassen von Objekten je eine besondere, ihnen entsprechende Zahlbezeichnung verwendet. Solange die Zahl noch ausschließlich als Dingzahl genommen wird, solange muß es im Grunde ebensoviele verschiedene Zahlen und Zahlgruppen geben, als es verschiedene Klassen von Dingen gibt. Ist die Zahl einer Menge von Gegenständen nur als ein qualitatives Attribut gedacht, das den Dingen in ganz der gleichen Weise, wie eine bestimmte räumliche Gestaltung oder wie irgendeine sinnliche Eigenschaft zukommt – so entfällt auch für die Sprache die Möglichkeit, sie von sonstigen Eigenschaften abzusondern und für sie eine allgemeingültige Ausdrucksform zu erschaffen. Wirklich zeigt sich auf primitiven Stufen der Sprachbildung noch überall, daß die Zahlbezeichnung mit der Ding- und Eigenschaftsbezeichnung unmittelbar verschmilzt. Dieselbe inhaltliche Bezeichnung dient hier zugleich als Ausdruck der Beschaffenheit des Gegenstandes, wie als Ausdruck seiner Zahlbestimmung und seines Zahlcharakters. Es gibt Worte, die gleichzeitig je eine besondere Art von Objekten und eine besondere Gruppeneigenschaft dieser Objekte zum Ausdruck [189] bringen. So ist z. B. in der Sprache der Fidschi-Inseln je ein eigenes Wort im Gebrauch, das Gruppen von zwei, von zehn, von hundert, von tausend Kokosnüssen, oder auch eine Gruppe von zehn Kanus, von zehn Fischen u. s. f. bezeichnet[87]. Und auch nachdem die Scheidung eingetreten, nachdem die Zahlbezeichnung gegenüber der Ding- und Eigenschaftsbezeichnung selbständig geworden ist, sucht sie sich noch immer der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge und Eigenschaften nach Möglichkeit anzuschmiegen. Nicht jede Zahl gilt für jedes Ding: denn der Sinn der Zahl liegt hier noch nicht darin, die abstrakte Vielheit schlechthin, sondern den Modus dieser Vielheit, ihre Art und Form, auszudrücken. So sind z. B. in den Indianersprachen verschiedene Reihen von Zahlworten im Gebrauch, je nachdem Personen oder Sachen, belebte oder unbelebte Dinge gezählt werden. Auch kann je eine besondere Reihe von Zahlausdrücken eintreten, wenn es sich darum handelt, Fische oder Bälge zu zählen, oder wenn das Verfahren der Zählung auf stehende, liegende oder sitzende Gegenstände angewandt wird. Die Moanuinsulaner haben verschiedene Zahlen von eins bis neun, je nachdem entweder Kokosnüsse oder Menschen, Geister und Tiere oder Bäume, Kanus und Dörfer oder Häuser oder Stangen und Pflanzungen gezählt werden[88]. In der Tsimshiensprache von Britisch-Kolumbien gibt es je eine besondere Zahlenreihe zur Zählung von platten Gegenständen und Tieren, zur Zählung von runden Objekten und Zeiteinteilungen, von Menschen, von Booten, von langen Gegenständen und von Maßen[89]; – und in anderen benachbarten Sprachen kann die Differenzierung der verschiedenen Zahlreihen noch weiter gehen und praktisch fast unbegrenzt sein[90]. Wie man sieht, ist hier das Bestreben der Zählung auf alles andere, als auf „Homogeneität“ gerichtet. Die Tendenz der Sprache geht vielmehr dahin, den quantitativen Unterschied dem generischen Unterschied, der sich in ihren [190] Klasseneinteilungen ausdrückt, unterzuordnen und ihn gemäß dem letzteren zu modifizieren. Deutlich tritt diese Tendenz auch dort hervor, wo die Sprache zwar bereits zur Anwendung allgemeiner Zahlausdrücke fortgeschritten ist, wo sie aber nichtsdestoweniger daran festhält, jedem derartigen Ausdruck ein bestimmtes Determinativ folgen zu lassen, das als ein spezifischer Mengenausdruck die besondere Art der kollektiven Zusammenfassung kennzeichnet. Es ist, anschaulich und konkret betrachtet, offenbar etwas völlig anderes, ob Menschen zu einer „Gruppe“ oder Steine zu einem „Haufen“ vereinigt werden, ob sich uns eine „Reihe“ ruhender oder ein „Schwarm“ bewegter Gegenstände darstellt u. s. f. Alle solche Besonderungen und Nuancierungen sucht die Sprache in der Wahl ihrer Kollektivworte und in der Regelmäßigkeit, mit der sie solche Worte mit den eigentlichen Zahlausdrücken verbindet, festzuhalten. So werden z. B. in den malayo-polynesischen Sprachen die Zahlausdrücke mit den zugehörigen Substantiven nicht unmittelbar zusammengefügt, sondern es müssen zu den letzteren immer gewisse determinierende Worte hinzutreten, deren jedes gleichsam eine Besonderung der „Kollektivierung“ selber zum Ausdruck bringt. Der Ausdruck für „5 Pferde“ lautet wörtlich „Pferde, fünf Schwänze“, der für vier Steine lautet wörtlich „Steine, vier runde Körper“ u. s. f.[91]. Ebenso folgt in den mexikanischen Sprachen dem Ausdruck der Zahl und des gezählten Gegenstandes noch eine Bezeichnung, die die Art und Form der Reihung oder Anhäufung kenntlich macht und die z. B. eine andere ist, wenn es sich um die Zusammenfassung runder und zylinderförmiger Gegenstände, wie Eier oder Bohnen, oder wenn es sich um die Aufstellung langer Reihen von Personen oder Dingen, von Mauern und Furchen, handelt[92]. Auch das Japanische und Chinesische hat die Anwendung derartiger „Numerative“, die sich je nach der Klasse der gezählten Gegenstände voneinander unterscheiden, zu besonderer Feinheit entwickelt. In diesen Sprachen, denen der allgemeine grammatische Unterschied von Singular und Plural fehlt, wird nichtsdestoweniger mit großer Strenge darauf geachtet, daß die kollektive Zusammenfassung als solche in ihrer spezifischen Richtung und Eigenart scharf gekennzeichnet wird. Wenn im abstrakten Zählverfahren die Einheiten, ehe sie miteinander verknüpft werden können, zuvor jedes eigenen Inhalts entleert werden müssen, so bleibt hier ein solcher Inhalt bestehen, bedingt dann aber auch je eine besondere Art der Zusammenfassung [191] zu kollektiven Verbänden, zu Mengen und Vielheiten[93]. Die sprachlich-gedankliche Bestimmung ist hier weit mehr darauf gerichtet, gewisse Gruppenformen herauszuheben und gegeneinander scharf abzugrenzen, als diese Gruppen selbst wieder in Einheiten und Einzelheiten zu zerbrechen: die Charakteristik der Vielheit als solcher erfolgt dadurch, daß sie ihrem anschaulichen Gesamtgehalt nach erfaßt und von anderen unterschieden, nicht dadurch, daß sie logisch und mathematisch aus ihren einzelnen konstitutiven Elementen aufgebaut wird. –

Die gleiche Grundauffassung tritt uns entgegen, wenn wir statt des Verfahrens, das die Sprache in der Bildung der Zahlworte befolgt, die Mittel betrachten, mit denen sie die formale und allgemeine Unterscheidung des „Singulars“ und „Plurals“ durchführt. Denkt man in der Idee des Plurals die logische und mathematische Kategorie der „Mehrheit“ beschlossen, also die Kategorie einer Vielheit, die sich aus klar geschiedenen gleichartigen Einheiten aufbaut, so zeigt es sich, daß der Plural, in diesem Sinne genommen, vielen Sprachen ganz abgeht. Eine große Zahl von Sprachen läßt den Gegensatz von Singular und Plural völlig unbezeichnet. Das Substantivum kann hier seiner Grundform nach ebensowohl als Bezeichnung der Gattung gebraucht werden, die als solche eine unbestimmte Vielheit von Exemplaren unter sich befaßt, wie es als Ausdruck eines einzelnen Exemplars der Gattung dient. Es steht somit zwischen Singular- und Pluralbedeutung noch mitten inne und hat sich gleichsam zwischen beiden noch nicht entschieden. Nur in einzelnen Fällen, in denen diese Unterscheidung wesentlich erscheint, wird sie durch besondere sprachliche Mittel bezeichnet, wobei jedoch häufig nicht sowohl die Pluralbedeutung, als vielmehr die singularische Bedeutung eine derartige besondere Auszeichnung erfährt. So haben sich z. B. die malayo-polynesischen Sprachen, nach Fr. Müller, „zum Begriffe der Zahl als einer Mehrfaches in eine lebendige Einheit fassenden Kategorie nie erhoben“, so daß ihre Substanzwörter weder eigentlich konkret, noch eigentlich abstrakt, sondern ein Mittelding zwischen beiden sind. „‚Mensch‘ gilt dem Malayen weder für einen Menschen in concreto, noch für Mensch = Menschheit in abstracto, sondern als Bezeichnung für Menschen, die man eben gesehen hat und kennt. Das Wort (ôran) entspricht aber dennoch mehr unserem Plural als Singular und letzterer muß überall durch ein Wort, das ‚eins‘ bedeutet, [192] näher angedeutet werden[94].“ Hier ist also nicht zunächst die bloße Einzelheit konzipiert, die dann durch ein sprachliches Formans in die Mehrheitsbedeutung umgesetzt wird, sondern aus der undifferenzierten Vielheit kann sich auf der einen Seite durch Hinzufügung bestimmter Nomina mit allgemein-kollektivem Sinn die Pluralbedeutung, auf der anderen Seite durch Anwendung bestimmter individualisierender Partikeln die Singularbedeutung entwickeln[95]. Die gleiche Anschauung des Einheit-Mehrheits-Verhältnisses liegt auch vielen altaischen Sprachen zugrunde, in denen gleichfalls ein und dasselbe, grammatisch nicht näher differenzierte Wort für den Ausdruck der Einheit und für den der Mehrheit gebraucht werden kann. Dasselbe Appellativum kann daher hier einerseits das einzelne Individuum und das ganze Genus, andererseits eine unbestimmte Anzahl von Individuen bezeichnen[96]. Aber auch diejenigen Sprachkreise, die den Unterschied zwischen Singular und Plural formell klar ausgebildet haben, zeigen noch mancherlei Erscheinungen, die deutlich darauf hinweisen, daß dieser strengen Scheidung ein Stadium relativer Indifferenz vorausgegangen ist. Häufig findet es sich hier, daß ein Wort, das bereits die äußere Prägung des Plurals trägt, seiner grammatischen Konstruktion nach im entgegengesetzten Sinne gebraucht, also mit dem Singular des Verbums verbunden wird, weil es seiner Grundbedeutung nach nicht sowohl als diskrete Mehrheit, als vielmehr als kollektive Gesamtheit und somit als kollektive Einfachheit empfunden wird[97]. Im Indogermanischen erklärt sich die Tatsache, daß im Arischen und im Griechischen der Plural der Neutra mit der Einzahl des Verbums verbunden wird, bekanntlich auf diese Weise: die Endung dieser Neutra [193] hat ursprünglich keinen pluralen Sinn besessen, sondern geht auf die singulare Femininendung -a zurück, die als Bezeichnung kollektiver Abstrakta verwendet wurde. Die Formen auf -a waren also von Haus aus weder pluralisch noch singularisch, sondern Kollektiva schlechthin, die je nach Bedürfnis bald in der einen, bald in der anderen Weise gefaßt werden konnten[98].

Auf der anderen Seite zeigt sich, daß die Sprache – analog dem, was beim Zählverfahren zu beobachten war – auch in der Form der Pluralbildung, nicht unvermittelt der abstrakten Kategorie der Einheit eine abstrakte Mehrheitskategorie gegenüberstellt, sondern daß zwischen beiden mannigfache Abstufungen und Übergänge bestehen. Die ersten Vielheiten, die von ihr unterschieden werden, sind nicht Vielheiten schlechthin, sondern spezifische Vielheiten, die einen besonderen und auszeichnenden qualitativen Charakter an sich tragen. Abgesehen von dem Gebrauch des Dual und Trial, unterscheiden viele Sprachen einen doppelten Plural: einen engeren für zwei und mehrere, aber immer wenige und einen weiteren für viele Gegenstände. Dieser Gebrauch, den Dobritzhoffer von der Sprache der Abiponen berichtet[99], hat in den semitischen Sprachen z. B. im Arabischen sein genaues Gegenbild[100]. Humboldt bemerkt in der Darstellung der Mehrheitsformen des Arabischen, das neben einem Dual den beschränkten Plural von 3–9 und den Vielheits-Plural für 10 und mehr oder eine unbestimmte Anzahl von Gegenständen kennt, daß die hier zugrunde liegende Ansicht, den Gattungsbegriff gewissermaßen als außer der Kategorie des Numerus liegend zu betrachten und von ihm durch Beugung Singularis und Pluralis zu unterscheiden, „unleugbar eine sehr philosophische“ genannt werden müsse[101]. In Wahrheit scheint jedoch hier der Gattungsbegriff nicht sowohl seiner generischen Bestimmtheit nach konzipiert und, kraft eben dieser Bestimmtheit aus der Unterscheidung des Numerus herausgehoben zu werden, als er vielmehr in diese Form der Unterscheidung noch gar nicht [194] eingetreten ist. Der Unterschied, den die Sprache durch den Singular und Plural ausdrückt, ist an der Gattung nicht aufgehoben, sondern er hat sich an ihr noch nicht in voller Schärfe vollzogen; der quantitative Gegensatz von Einheit und Vielheit ist nicht durch eine übergreifende qualitative Einheit überwunden, weil er zunächst noch gar nicht bestimmt gesetzt ist. Die Einheit der Gattung bedeutet ein distinktes Eins gegenüber der nicht minder distinkten Vielheit der Arten – in der unbestimmten Kollektivbedeutung, aus der sich in einer großen Zahl von Sprachen die Singular- wie die Pluralbedeutung erst herausschält, bildet aber gerade die Indistinktheit das entscheidende Moment. Die Vielheit wird als bloßer Haufe, als Menge oder Masse, also als ein sinnliches, nicht als ein logisches Ganze erfaßt. Ihre Allgemeinheit ist die eines Eindrucks, der sich noch nicht in seine einzelnen Elemente und Komponenten auseinandergelegt hat, nicht die eines übergeordneten Begriffs, der das Besondere, als ein Gesondertes und „Ersondertes“, in sich faßt.

Eben dieses Grundmoment der Sonderung aber ist es, kraft dessen erst aus dem bloßen Begriff der Menge und der Vielheit der strenge Begriff der Zahl erwächst. Die bisherige Betrachtung hat uns zwei Wege und Richtungen kennen gelehrt, in denen sich die Sprache diesem Begriff nähert, den sie gemäß ihrer Eigenart freilich nicht anders als in sinnlicher Hülle erfassen kann. Auf der einen Seite hielt das sprachliche Denken schon in den primitivsten, an den Gliedmaßen des menschlichen Körpers orientierten Zählungen das Moment der „Ordnung in der Folge“ fest. Wenn diese Zählungen zu irgendeinem Ergebnis führen sollten, so mußte im Durchlaufen der einzelnen Glieder nicht willkürlich von dem einen zum andern übergegangen, sondern irgendeine Regel der Abfolge innegehalten werden. Auf der anderen Seite war es der Eindruck der Vielfachheit schlechthin, das Bewußtsein eines zunächst noch unbestimmten Ganzen, das sich in irgendeiner Weise in „Teile“ zerlegt, wodurch sich die Sprache in der Bildung ihrer allgemeinen Kollektivbezeichnungen geleitet zeigte. In beiden Fällen erscheint das Denken der Zahl und ihr sprachlicher Ausdruck an die Grundformen der Anschauung, an die Erfassung des räumlichen und des zeitlichen Seins gebunden. Die erkenntniskritische Analyse zeigt, wie beide Formen zusammenwirken müssen, um den wesentlichen Gehalt des Zahlbegriffs ans Licht zu fördern. Wenn die Zahl sich für die Erfassung des kollektiven „Beisammen“ auf die Anschauung des Raumes stützt, so bedarf sie der Anschauung der Zeit, um das charakteristische Gegenmoment zu dieser Bestimmung, um den Begriff der distributiven Einheit und Einzelheit auszubilden. [195] Denn eben dies ist die gedankliche Aufgabe, die sie zu bewältigen hat, daß sie beide Forderungen nicht nur für sich erfüllt, sondern daß sie sie als eine einzige begreift. Jede wahrhaft zahlenmäßig bestimmte Vielheit ist eben damit zugleich als Einheit, jede Einheit zugleich als Vielheit gedacht und erfaßt. Nun findet sich freilich diese korrelative Einigung gegensätzlicher Momente in jedem geistigen Grundakt des Bewußtseins wieder. Immer handelt es sich darum, die Elemente, die in die Synthesis des Bewußtseins eingehen, in dieser nicht einfach nebeneinander stehen zu lassen, sondern als Ausdruck und Ergebnis ein und desselben Grundaktes zu begreifen, – die Verknüpfung als Sonderung, die Sonderung als Verknüpfung erscheinen zu lassen. Aber so notwendig diese doppelte Bestimmung ist, so kann doch, je nach der besonderen Eigenart des Problems, in der Gesamtsynthese bald der eine, bald der andere der beiden Faktoren sein Übergewicht behaupten. Wenn in dem exakten mathematischen Zahlbegriff das reine Gleichgewicht zwischen der Funktion der Verknüpfung und Sonderung erreicht scheint, wenn sich hier das Gebot der einheitlichen Zusammenfassung zu einem Ganzen und das Gebot der durchgängigen Diskretion der Elemente in idealer Strenge erfüllen – so überwiegt im Bewußtsein des Raumes und der Zeit je eines dieser Motive und behauptet gegenüber dem anderen den Vorrang. Denn im Raum stellt sich vorzugsweise das Moment des Bei- und Ineinanderseins der Elemente, in der Zeit das Moment ihres Nach- und Auseinanderseins dar. Keine einzelne räumliche Gestalt kann angeschaut oder gedacht werden, ohne zugleich den Raum als Ganzes, „in“ welchem sie enthalten sein soll, mitzudenken: die Besonderheit der Gestalt ist hier immer nur als Einschränkung des allbefassenden „einigen“ Raumes möglich. Auf der anderen Seite ist der zeitliche Augenblick das, was er ist, zwar gleichfalls nur dadurch, daß er als Moment in einer Folge, als Glied in einer Sukzession erscheint: aber eben diese Folge kann nur dadurch konstituiert werden, daß jedes einzelne Moment alle anderen von sich ausschließt, daß ein einfaches unteilbares „Jetzt“, ein reiner Gegenwartspunkt gesetzt wird, der sich von aller Vergangenheit und aller Zukunft schlechthin unterscheidet. Das konkrete Denken der Zahl, wie es in der Sprache seinen Ausdruck findet, nimmt beide Leistungen: die des Raumbewußtseins und die des Zeitbewußtseins, in seinen Dienst – und es benutzt sie, um kraft ihrer zwei verschiedene Momente an der Zahl zur Ausbildung zu bringen. Von der Unterscheidung der räumlichen Objekte her gelangt die Sprache zu ihrem Begriff und ihrem Ausdruck der kollektiven Vielheit – von der Unterscheidung der zeitlichen Akte gelangt sie zu ihrem Ausdruck der Besonderung [196] und Vereinzelung. In der Form der Pluralbildung scheint dieser doppelte Typus der geistigen Auffassung der Mehrheit sich deutlich auszuprägen. Die Bildung der Mehrheitsform erscheint in dem einen Fall durch die Anschauung dinglicher Komplexe, in dem anderen durch die Anschauung der rhythmisch-periodischen Wiederkehr der Phasen eines bestimmten zeitlichen Prozesses geleitet; in dem einen richtet sie sich vorwiegend auf gegenständliche Ganzheiten, die aus einer Mehrheit von Teilen bestehen, in dem anderen auf die Wiederholung von Ereignissen oder Tätigkeiten, die sich miteinander zu einer stetigen Folge verknüpfen. –

So haben in der Tat diejenigen Sprachen, die in ihrem ganzen Bau eine vorwiegend verbale Struktur aufweisen, auch eine eigentümliche rein „distributive“ Auffassung der Mehrheit entwickelt, die sich von der kollektiven scharf abhebt. Die scharfe Herausarbeitung und Charakteristik der verbalen Akte wird hier zum eigentlichen Vehikel der Mehrheitsauffassung. Die Sprache der Klamath-Indianer z. B. hat kein eigenes Mittel ausgebildet, um zwischen der Bezeichnung einzelner Objekte und der einer Mehrheit von Objekten zu unterscheiden. Aber in größter Genauigkeit und Folgerichtigkeit wird statt dessen der Unterschied beachtet und festgehalten, der zwischen einem Tun besteht, das sich in einem einmaligen zeitlichen Akt erschöpft, und einem solchen, das eine Mehrheit zeitlich verschiedener, aber inhaltlich gleichartiger Phasen in sich faßt. „Für den Geist des Klamath-Indianers“ – sagt Gatschet – „erschien die Tatsache, daß Verschiedenes zu verschiedenen Zeiten wiederholt getan wird, oder daß dasselbe mehrmals durch verschiedene Personen getan wurde, weit bedeutungsvoller, als die reine Idee der Mehrheit, wie wir sie in unseren Sprachen besitzen. Diese Kategorie der Gesondertheit machte auf ihn einen so starken Eindruck, daß die Sprache sie überall durch ein besonderes symbolisch-lautliches Mittel, durch die Verdoppelung zum Ausdruck bringt.“ Alle Ausdrücke des „Plurals“ in unserem Sinne sind daher im Klamath erweislich jüngeren Ursprungs, während der Gedanke der Sonderung eines Aktes in eine Mehrheit gleichartiger Prozesse, durch das angegebene Mittel der Reduplikation, das die gesamte Sprache bis herab zu den Postpositionen und gewissen adverbialen Partikeln durchdringt, stets scharf und eindeutig bezeichnet wird[102]. Das Hupa, eine Sprache des athapaskischen Sprachkreises, verwendet in vielen Fällen den Singular, wo wir den Plural erwarten würden: nämlich immer dann, wenn an einer Handlung zwar eine Mehrheit von Individuen beteiligt ist, die Handlung selbst aber als eine Einheit erscheint. [197] Dagegen wird auch hier das distributive Verhältnis durch die Wahl eines besonderen Präfixes stets aufs genaueste bezeichnet[103]. In der gleichen Funktion wird insbesondere die Reduplikation auch außerhalb des Kreises der amerikanischen Eingeborenensprachen gebraucht[104]. Wieder hat sich hier eine an sich gedankliche Form der Auffassung in der Sprache ihren unmittelbar-sinnlichen Ausdruck geschaffen. Die einfache Wiederholung des Lautes ist das zugleich primitivste und wirksamste Mittel, um die rhythmische Wiederkehr und die rhythmische Gliederung eines Aktes, insbesondere einer menschlichen Tätigkeit zu bezeichnen. Vielleicht stehen wir hier an einer Stelle, an der wir, wenn irgendwo, noch einen Blick in die ersten Motive der Sprachbildung und in die Art des Zusammenhangs zwischen Sprache und Kunst tun können. Man hat versucht, die Anfänge der Dichtung bis zu jenen ersten primitiven Arbeitsgesängen der Menschheit zurückzuverfolgen, in denen sich die empfundene Rhythmik der eigenen körperlichen Bewegungen gleichsam zum erstenmal nach außen wendet. Wie diese Arbeitsgesänge noch heute über die ganze Erde verbreitet sind und wie ähnlich sie sich allenthalben in ihrer Grundform bleiben, hat Büchers umfassende Untersuchung über Arbeit und Rhythmus gezeigt. Jede Form der physischen Arbeit bedingt schon beim Einzelnen, noch mehr aber, wenn sie in Gemeinschaft vollzogen wird, eine zweckmäßige Koordination von Bewegungen, die ihrerseits unmittelbar zur rhythmischen Zusammenfassung und zur rhythmischen Abteilung der einzelnen Arbeitsphasen hindrängt. Für das Bewußtsein stellt sich dieser Rhythmus in doppelter Art dar, indem er sich einmal in der reinen Bewegungsempfindung, in dem Wechsel des Anspannens und Erschlaffens der Muskel, andererseits in objektiver Form in den Wahrnehmungen des Gehörsinnes, in dem Gleichmaß der Laute und Geräusche, die die Arbeit begleiten, ausprägt. Das Bewußtsein des Tuns und seiner Differenzierung knüpft an diese sinnlichen Differenzen an: das Mahlen und Reiben, das Stoßen und Ziehen, das Pressen und Treten unterscheidet sich eben darin, daß es, wie seinen besonderen Zweck, so auch je seinen eigenen Takt und Ton besitzt. In der Fülle und Mannigfaltigkeit der Arbeitslieder, in den Spinn- und Webeliedern, den Dresch- und Ruderliedern, [198] in den Liedern, die beim Mahlen und Backen u. s. f. gesungen werden, kann man gleichsam noch unmittelbar heraushören, wie hier eine spezifische rhythmische Empfindung, die durch die besondere Richtung der Arbeit bestimmt wird, nur dadurch bestehen und sich in das Werk umsetzen kann, daß sie sich gleichzeitig im Laut objektiviert[105]. Vielleicht entstammen auch einige Formen der Reduplikation beim Verbum, als Ausdrücke eines Aktes, der eine Mehrheit rhythmisch wiederkehrender Phasen in sich schließt, einer solchen Verlautbarung, die ursprünglich von dem eigenen Tun des Menschen seinen Ausgang nahm. In jedem Fall konnte die Sprache das Bewußtsein der reinen Zeitform und der reinen Zahlform nicht anders gewinnen, als dadurch, daß sie es an bestimmte Inhalte, an gewisse rhythmische Grunderlebnisse anknüpfte, in welchen beide Formen wie in unmittelbarer Konkretion und Verschmelzung gegeben waren. Daß es hierbei die Differenzierung nicht sowohl der Dinge, als vielmehr der Akte war, von der die Sonderung und „Distribuierung“, also eines der Grundmomente der Zählung, ihren Ausgang nahm, scheint auch dadurch bestätigt zu werden, daß in vielen Sprachen der Mehrheitsausdruck beim Verbum nicht nur dort gebraucht wird, wo eine tatsächliche Mehrheit von Tätern vorhanden ist, sondern wo ein einzelnes Subjekt ein und dasselbe Tun auf verschiedene Objekte richtet[106]. Für eine Anschauung der Mehrheit, [199] die sich wesentlich auf die reine Form des Akts selbst richtet, ist es in der Tat von untergeordneter Bedeutung, ob an ihm nur ein Individuum oder mehrere beteiligt sind, während die Zerlegung in einzelne Aktphasen stets von entscheidender Wichtigkeit ist.

Wenn wir bis hierher die Grundformen der reinen Anschauung, die Formen des Raumes und der Zeit, als den Ausgangspunkt der Zahl- und Mehrheitsbildung betrachtet haben, so ist indessen damit die vielleicht ursprünglichste und tiefste Schicht, in der der Zählakt wurzelt, noch nicht berührt. Denn auch hier kann die Betrachtung nicht vom Objekt allein und von den Unterschieden innerhalb der objektiven, der räumlich-zeitlichen Sphäre ausgehen, sondern sie muß zu den Grundgegensätzen zurücklenken, die aus der reinen Subjektivität herstammen. Eine ganze Reihe von Anzeichen spricht dafür, daß auch die Sprache die ersten zahlenmäßigen Sonderungen, die sie vollzieht, aus diesem Gebiet geschöpft hat, – daß es nicht sowohl das dingliche Neben- und Auseinander der Gegenstände oder Vorgänge als vielmehr die Trennung des „Ich“ und „Du“ gewesen ist, an der sich das Bewußtsein der Zahl zuerst entfaltet hat. Es ist, als wenn auf diesem Gebiet eine weit größere Feinheit der Unterscheidung, eine stärkere Empfindlichkeit auch für den Gegensatz des „Einen“ und „Vielen“, als im Kreise der bloßen Sachvorstellungen herrschte. Viele Sprachen, die eine eigentliche Pluralform beim Nomen nicht entwickelt haben, prägen diese nichtsdestoweniger an den persönlichen Fürwörtern aus[107]; andere wenden zwei verschiedene Pluralzeichen an, von denen das eine ausschließlich für die Pronomina gebraucht wird[108]. Oft wird die Mehrheit beim Nomen nur dann besonders ausgedrückt, wenn es sich um vernünftige und belebte Wesen, nicht dagegen, wenn es sich um leblose Gegenstände handelt[109]. Im Jakutischen stehen Teile des [200] Körpers, sowie Kleidungsstücke gewöhnlich im Singular, auch wenn sie zweifach oder mehrfach an einem Individuum vorhanden sind, pflegen dagegen in den Plural zu treten, wenn sie mehreren Personen zugehören[110]: die Unterscheidung der Zahl ist somit auch hier in größerer Schärfe für die Anschauung der Individuen, als innerhalb der bloßen Sachanschauung durchgebildet. –

Und auch hier drückt sich nun in den Zahlbezeichnungen, die dieser personalen Sphäre entstammen, jene Wechselbeziehung aus, die überhaupt zwischen der Zahl und dem Gezählten besteht. Es hat sich bereits allgemein gezeigt, daß die ersten Zahlbezeichnungen, die die Sprache erschafft, von ganz bestimmten konkreten Zählungen herrühren und gleichsam noch die Farbe derselben an sich tragen. Diese eigentümliche und spezifische Färbung wird am deutlichsten dort erkennbar, wo die Zahlbestimmung nicht von der Unterscheidung der Dinge, sondern von der der Personen ihren Ausgang nimmt. Denn hier tritt die Zahl zunächst nicht als ein allgemeingültiges gedankliches Prinzip, nicht als ein unbeschränkt fortsetzbares Verfahren auf, sondern hier schränkt sie sich von Anfang an innerhalb eines bestimmten Kreises ein, dessen Grenzen nicht nur durch die objektive Anschauung, sondern noch schärfer und klarer durch die reine Subjektivität des Gefühls bezeichnet sind. Kraft der letzteren wird das „Ich“ vom „Du“, das „Du“ vom „Er“ geschieden; aber es besteht zunächst kein Anlaß und keine Notwendigkeit, über diese scharf bestimmte Dreiheit, die im Unterschied der „drei Personen“ gegeben ist, zur Anschauung einer weiteren Vielheit fortzugehen. Soweit eine solche Vielheit konzipiert und sprachlich bezeichnet wird, trägt sie doch nicht den gleichen Charakter der „Distinktheit“ an sich, der sich in der wechselseitigen Sonderung der personalen Sphären ausprägt. Jenseit der Drei beginnt vielmehr sozusagen das Reich der unbestimmten Mehrheit – der bloßen Kollektivität, die in sich nicht weiter gegliedert wird. In der Tat sehen wir überall in der Entwicklung der Sprache die ersten Zahlbildungen an derartige Schranken gebunden. Die Sprachen vieler Naturvölker zeigen, daß die Tätigkeit der Sonderung, wie sie sich am Gegensatz [201] des Ich und Du entfaltet, von der „Eins“ zur „Zwei“ fortgeht – daß es ein weiterer bedeutsamer Schritt ist, wenn die „Drei“ in diesen Kreis einbezogen wird, daß aber, darüber hinaus, die Kraft der Auseinanderhaltung, die Leistung der „Diskretion“, die zur Zahlbildung hinführt, gleichsam erlahmt. Bei den Buschmännern reichen die Zahlausdrücke eigentlich nur bis Zwei: schon der Ausdruck für Drei besagt nichts anderes als ‚viel‘ und wird in Verbindung mit der Fingersprache für alle Zahlen bis 10 hinauf gebraucht[111]. Auch die Ureinwohner von Viktoria haben keine Zahlworte über 2 hinaus entwickelt. In der Binandele-Sprache auf Neu-Guinea sind nur drei Zahlworte für 1, 2, 3 vorhanden, während Zahlen über 3 durch Umschreibung gebildet werden müssen[112]. In allen diesen Beispielen, denen sich viele andere an die Seite stellen lassen[113], tritt deutlich hervor, wie eng der Zählakt ursprünglich an der Anschauung des Ich, Du und Er haftet und wie er sich von ihr nur ganz allmählich loslöst. Die besondere Rolle, die der Dreizahl in der Sprache und im Denken aller Völker zukommt[114], scheint hierin ihre letzte Erklärung zu finden. Wenn man von der Zahlauffassung der Naturvölker allgemein gesagt hat, daß jede Zahl hier noch ihre eigene individuelle Physiognomie habe, daß sie eine Art mystisches Sein und eine mystische Besonderheit besitze, so gilt dies vor allem von der Zwei und der Drei. Beide sind Gebilde besonderer Art, sie besitzen gleichsam je eine spezifische geistige Tönung, kraft deren sie sich aus der gleichförmigen und homogenen Zahlenreihe herausheben. Auch in denjenigen Sprachen, die ein reich entwickeltes und durchgebildetes „homogenes“ Zahlsystem besitzen, ist diese Sonderstellung der Zahlen 1 und 2, unter Umständen auch der Zahlen von 1 bis 3 oder von 1 bis 4, an gewissen formalen Bestimmungen noch deutlich kenntlich. Im Semitischen sind die Zahlworte für 1 und 2 Adjektiva, die übrigen dagegen abstrakte Nomina, die sich das Gezählte im [202] Genitiv pluralis unterordnen und dabei das dem Gezählten entgegengesetzte Geschlecht besitzen[115]. In der indogermanischen Ursprache waren nach dem übereinstimmenden Zeugnis des Indo-Iranischen, des Baltisch-Slawischen und des Griechischen die Zahlworte von 1 bis 4 flektiert, während die Zahlworte von 5 bis 19 durch unflektierte Eigenschaftsworte, die darüber hinausgehenden Zahlen durch Substantiva mit dem Genitiv des Gezählten gebildet wurden[116]. Auch eine grammatische Form, wie die des Duals haftet weit länger an den persönlichen Fürwörtern, als sie sich bei anderen Wortklassen erhält. Am deutschen Pronomen der ersten und zweiten Person erhält sich der Dual, der sonst in der ganzen Deklination untergeht, noch geraume Zeit[117]; ebenso ist in der Entwicklung der slawischen Sprachen der „objektive“ Dual weit früher als der „subjektive“ verloren gegangen[118]. Auch der etymologische Ursprung der ersten Zahlwörter scheint in vielen Sprachen noch auf diesen Zusammenhang mit den Grundworten, die für die Unterscheidung der drei Personen ausgebildet waren, hinzudeuten: insbesondere scheint für das Indogermanische eine gemeinsame etymologische Wurzel des Ausdrucks für „Du“ und des Ausdrucks für „Zwei“ erwiesen[119]. Scherer beruft sich auf diesen Zusammenhang, um daraus zu folgern, daß wir hier an einem gemeinsamen sprachlichen Ursprungsort der Psychologie, der Grammatik und der Mathematik stünden; daß hier die Wurzel der Zweiheit bis zu jenem Urdualismus zurückführe, der aller Möglichkeit des Sprechens und des Denkens zugrunde liegt[120]. Denn die Möglichkeit des Sprechens werde nach Humboldt durch Anrede und Erwiderung bedingt, beruhe also auf einer Spannung und einer Spaltung, die sich zwischen dem Ich und Du herstellt, um sich sodann in eben dem Akt des Sprechens wieder auszugleichen, so daß dieser Akt als die eigentliche und wahrhafte „Vermittlung zwischen Denkkraft und Denkkraft“ erscheine.

[203] Gestützt auf diese spekulative Grundauffassung der Sprache, hat W. v. Humboldt in seiner Abhandlung über den Dualis den Gebrauch dieser Form, die bis dahin von der Grammatik oft als ein bloßer Ballast, als ein unnützes Raffiniment der Sprache bezeichnet worden war, erst von innen her zu erhellen vermocht. Er weist dem Dual einen einerseits subjektiven, andererseits objektiven Ursprung und demgemäß eine teils sinnliche, teils geistige Urbedeutung zu. Der ersteren Richtung, die die Zweiheit als eine in der Natur gegebene, sinnlich faßbare Tatsache nimmt, folgt die Sprache, nach Humboldt, überall dort, wo sie den Dual vorwiegend als Ausdruck einer reinen Sachanschauung verwendet. Dieser Gebrauch ist über fast alle Sprachgebiete verbreitet. Die doppelt vorhandenen Dinge stellen sich für das Sprachgefühl als eine besondere, generisch zusammengehörige Gesamtheit dar. In den Bantusprachen z. B. bilden solche doppelt vorhandenen Dinge, wie die Augen und Ohren, die Schultern und Brüste, die Knie und Füße, eine eigene Klasse, die durch ein besonderes Nominalpräfix gekennzeichnet ist[121]. Neben diese natürlichen Zweiheiten treten sodann die künstlichen: wie die Paarigkeit der körperlichen Gliedmaßen, so wird auch die bestimmter Geräte und Werkzeuge von der Sprache besonders herausgehoben. Aber dieser Gebrauch des Duals innerhalb der Sphäre der reinen Nominalbegriffe zeigt sich in der Entwicklung der meisten Sprachen in stetem Rückgang begriffen. Im Semitischen gehört er der Grundsprache an, beginnt aber in den Einzelsprachen mehr und mehr zu schwinden[122]. Im Griechischen ist der Dual in einzelnen Dialekten schon in vorhistorischer Zeit geschwunden, und auch bei Homer befindet er sich bereits im Zustand der Auflösung. Nur im attischen Dialekt behauptet er sich längere Zeit, um jedoch auch hier im 4. Jahrhundert vor Chr. allmählich zu verschwinden[123]. In diesem nicht an ein besonderes Gebiet und an besondere Bedingungen geknüpften Verhältnis[124] drückt sich offenbar ein allgemeiner sprachlogischer Zusammenhang aus. Der Rückgang des Duals fällt mit dem allmählichen, stetig fortschreitenden Übergang von der individuellen und konkreten Zahl zur Reihenzahl zusammen. Je stärker der Gedanke der Zahlenreihe als eines nach einem [204] streng einheitlichen Prinzip aufgebauten Ganzen sich durchsetzt, um so mehr wird jede Einzelzahl, statt einen besonderen Inhalt zu repräsentieren, zur bloßen Stelle, die jeder anderen gleichwertig ist. Die Heterogeneität beginnt der reinen Homogeneität zu weichen. Aber es ist begreiflich, daß dieser neue Gesichtspunkt sich weit langsamer innerhalb der persönlichen Sphäre, als innerhalb der bloßen Dingsphäre durchsetzt: denn die erstere ist ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach auf die Form der Heterogeneität gestellt. Das „Du“ ist dem „Ich“ nicht gleichartig, sondern es tritt ihm als sein Gegensatz, als Nicht-Ich gegenüber: der „Zweite“ entsteht hier also nicht aus der einfachen Wiederholung der Einheit, sondern verhält sich zu ihr als der qualitativ „Andere“. Zwar kann auch das „Ich“ und „Du“ zur Gemeinschaft des „Wir“ zusammengehen – aber in dieser Form der Vereinigung zum „Wir“ handelt es sich um etwas völlig anderes, als um eine kollektiv-dingliche Zusammenfassung. Schon Jakob Grimm hat gelegentlich den Unterschied zwischen den dinglichen und den persönlichen Pluralbegriffen, die die Sprache ausbildet, betont; schon er weist darauf hin, daß, während man einen dinglichen Plural als eine Summe gleichartiger Elemente ansehen, die Männer also z. B. als Mann und Mann definieren könne, das „Wir“ keineswegs als eine derartige Summe darzustellen sei, da es nicht sowohl als ‚Ich und Ich‘, als vielmehr als ‚Ich und Du‘, oder als ‚Ich und Er‘ gefaßt werden muß[125]. Das rein „distrubutive“ Motiv der Zahlbildung, das Motiv der reinen Sonderung der Einheiten tritt daher hier noch schärfer, als in jener Form der Zählung hervor, die von der Anschauung der Zeit und der zeitlichen Vorgänge ihren Ausgang nahm[126].

Das gleiche Bestreben, die Elemente, die in die Einheit des „Wir“ zusammengefaßt werden, in dieser nicht einfach aufgehen zu lassen, sondern sie in ihrer Besonderheit und spezifischen Bestimmtheit zu bewahren, bekundet sich in dem Gebrauch, den die Sprache von dem Trial [205] und von dem inklusiven und exklusiven Plural macht. Beides sind nahe verwandte Erscheinungen. Besonders streng ist der Gebrauch des Duals und Trials in den melanesischen Sprachen geregelt, die in jedem Falle, wo von zwei oder drei Personen die Rede ist, sorgfältig darauf achten, daß eine entsprechende Zahlbestimmung verwendet wird; – und hier erhält auch die Form der ersten Person des Pronomens eine andere Gestalt, je nachdem der Redende sich in die Bezeichnung des „Wir“ einschließt oder von ihr ausschließt[127]. Auch die australischen Eingeborenensprachen pflegen zwischen dem Singular und Plural die Formen des Dual und Trial einzuschieben, wobei letztere je eine Form besitzt, die den Angeredeten einschließt und eine andere, die ihn ausschließt. Das „wir beide“ kann also bald ‚du und ich‘, bald kann es ‚er und ich‘; das „wir drei“ kann ‚ich und du und er‘, bald kann es ‚ich und er und er‘ u. s. f. bedeuten[128]. In manchen Sprachen drückt sich diese Unterscheidung schon in der lautlichen Form der Mehrheitsbezeichnung aus – wie z. B. in der Delaware-Sprache nach Humboldt der inklusive Plural aus einer Zusammenfügung der Pronominallaute für „ich“ und „du“, der exklusive dagegen aus einer Wiederholung des Pronominallauts für „ich“ gebildet wird[129]. Die Ausbildung der homogenen Zahlenreihe und der homogenen Zahlanschauung setzt schließlich dieser im strengen Sinne individualisierenden Auffassung eine bestimmte Grenze. An die Stelle der besonderen Individuen tritt die Gattung, die sie insgesamt und in gleicher Weise umfaßt, an die Stelle der qualifizierenden Besonderung der Elemente tritt die Gleichartigkeit des Verfahrens und der Regel, nach denen sie zu quantitativen Ganzen zusammengefaßt werden.

Überblickt man jetzt das Ganze des Verfahrens, das die Sprache in der Bildung der Zahlvorstellung und der Zahlworte befolgt, so lassen sich die einzelnen Momente desselben geradezu per antiphrasin aus der exakten Methodik der Zahlbildung ableiten, die in der reinen Mathematik in Geltung ist. Es zeigt sich hierin mit besonderer Schärfe, wie der logisch-mathematische Begriff der Zahl, ehe er zu dem wird, was er ist, sich erst aus seinem [206] Gegensatz und Gegenteil heraus gestalten muß. Als die wesentlichen logischen Eigenschaften der mathematischen Zahlenreihe hat man ihre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, ihre Einzigkeit, ihre unendliche Fortsetzbarkeit und die völlige Äquivalenz und Gleichwertigkeit ihrer einzelnen Glieder bezeichnet[130]. Aber keines dieser Merkmale trifft auf jenes Verfahren der Zahlbildung zu, das in der Sprache seinen ersten Ausdruck und Niederschlag findet. Hier gibt es kein notwendiges und allgemeingültiges Prinzip, das alle zahlenmäßigen Setzungen mit einem geistigen Blicke zu umfassen und durch eine einheitliche Regel zu beherrschen erlaubt. Hier gibt es keine Einzigkeit „der“ Zahlreihe schlechthin, – sondern jede neue Klasse von zählbaren Objekten erfordert, wie wir gesehen haben, im Grunde einen neuen Ansatz und neue Mittel der Zählung. Auch von der Unendlichkeit der Zahl kann noch keine Rede sein: das Bedürfnis wie die Möglichkeit des Zählens reicht nicht weiter, als die Fähigkeit der anschaulichen und vorstellungsmäßigen Verknüpfung von Gegenständen zu Gruppen mit ganz bestimmten anschaulichen Gruppen-Charakteren reicht[131]. Ebensowenig geht das Gezählte in den Zählakt als ein mit keiner qualitativen Eigenschaft mehr Behaftetes, als bestimmungslose Einheit ein, sondern es bewahrt seinen besonderen Ding- oder Eigenschaftscharakter. Bei den Eigenschaftsbegriffen äußert sich dies darin, daß sich auch bei ihnen die Form der Abstufung und der reihenmäßigen Zusammenfassung nur ganz allmählich entwickelt. Betrachtet man die Form der Steigerung des Adjektivs, die Formen des Positiv, Komparativ und Superlativ, die unsere Kultursprachen ausgebildet haben, so liegt in ihnen jedesmal ein allgemeiner Begriff, ein bestimmtes generisches Merkmal zugrunde, das in der Steigerung nur seiner Größe nach variiert wird. Aber diesem Unterschied der reinen Größenbestimmungen steht in den meisten dieser Sprachen noch deutlich erkennbar ein anderes Verfahren gegenüber, das den Größenunterschied selbst als einen inhaltlichen Artunterschied auffaßt. Die Suppletiverscheinungen, die im Semitischen und im Indogermanischen in der Steigerung der Adjektiva auftreten, sind die sprachlichen Zeugen dieser Auffassung. Wenn z. B. im indogermanischen Kreise bestimmte Eigenschaftsbegriffe – wie gut und schlecht, übel und schlimm, groß und viel, klein und wenig – nicht von einem einzigen Grundstamm, sondern von ganz verschiedenen Wortstämmen gebildet werden (wie dies z. B. in unserem „gut“ und „besser“, im lat. bonus, [207] melior, optimus, im griech. ἀγαθός, ἀμείνων ἄριστος, βελτίων und βέλτιστος κρείττων und κράτιστος der Fall ist) – so hat man dies darauf zurückgeführt, daß hier eine ältere „individualisierende“ Auffassung durch die spätere „gruppierende“ Ansicht noch deutlich hindurchscheine, – daß die ursprüngliche „qualitative Sprachformung“ sich gegenüber der mehr und mehr um sich greifenden Tendenz zur „quantitativen Sprachformung“ behaupte[132]. Statt der Abstraktion eines einheitlich-konzipierten und lautlich einheitlich-bezeichneten Eigenschaftsbegriffs, der sich nur in seiner Gradabstufung unterscheidet, begegnet uns hier eine Grundanschauung, die jedem „Grad“ einer Eigenschaft noch sein eigenes unvertauschbares Sein beläßt, die in ihm also nicht ein bloßes „Mehr“ oder „Weniger“, sondern ein Abgesondertes und „Anderes“ sieht. Klarer noch tritt diese Ansicht in solchen Sprachen heraus, die eine eigene Form der Steigerung des Adjektivums überhaupt nicht entwickelt haben. In der großen Mehrzahl der Sprachen fehlt das, was wir als „Komparativ“ und „Superlativ“ zu bezeichnen pflegen, völlig. Das Verhältnis der Gradunterscheidung kann hier immer nur mittelbar durch Umschreibungen wiedergegeben werden, indem hierfür entweder verbale Ausdrücke, wie „übertreffen“, „überwinden“, „hinausgehen“ gebraucht werden[133] oder die beiden Bestimmungen, zwischen denen der Vergleich vollzogen werden soll, in einfacher Parataxe nebeneinander treten[134]. Auch adverbiale Partikel, die ausdrücken, daß ein Ding im Vergleich mit einem andern oder „gegenüber“ einem andern groß oder schön u. s. w. ist, können in diesem Sinne verwendet werden[135]. Vielen dieser Partikeln haftet ursprünglich ein räumlicher Sinn an, so daß sich hier die qualitative Gradabstufung auf die örtlichen Verhältnisse des Hoch und Tief, des Oben und Unten zu stützen und aus ihr hervorzugehen scheint[136]. Auch hier setzt somit das sprachliche Denken [208] eine räumliche Anschauung ein, wo das abstrakt-logische Denken einen reinen Beziehungsbegriff zu fordern scheint. Und damit schließt sich wieder der Kreis unserer Betrachtung. Von neuem zeigt sich, daß die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl das eigentliche Grundgerüst der objektiven Anschauung ausmachen, wie sie sich in der Sprache aufbaut. Aber sie können ihre Aufgabe nur vollziehen, weil sie sich, ihrer Gesamtstruktur nach, in einer eigentümlichen ideellen Mitte halten – weil sie eben dadurch, daß sie durchaus an der Form des sinnlichen Ausdrucks festhalten, das Sinnliche selbst fortschreitend mit geistigem Gehalt erfüllen und es zum Symbol des Geistigen gestalten.

IV. Die Sprache und das Gebiet der „inneren Anschauung“. – Die Phasen des Ichbegriffs
1.

Die Analyse der Sprache war bisher wesentlich darauf gerichtet, die Kategorien aufzuweisen, nach denen sie im Aufbau der objektiven Anschauungswelt verfährt. Aber schon hier zeigte es sich, daß diese methodisch gesetzte Grenze sachlich nicht in wirklicher Strenge festzuhalten war. Überall sahen wir uns vielmehr schon bei der Darstellung jener „objektiven“ Kategorien auf die subjektive Sphäre zurückgewiesen; überall ergab sich, daß jede neue Bestimmung, die die Welt der Gegenstände innerhalb der Sprache empfing, auch auf die Bestimmung der Ichwelt zurückwirkte. Denn in Wahrheit handelt es sich hier um korrelative Anschauungskreise, die sich wechselseitig ihre Grenzen bestimmen. Jede neue Gestalt des Objektiven, wie z. B. seine räumliche, seine zeitliche, seine zahlenmäßige Erfassung und Sonderung ergab daher zugleich ein verändertes Bild der subjektiven Wirklichkeit und schloß auch an dieser rein „inneren“ Welt neue Züge auf.

Aber daneben verfügt nun die Sprache über eigene und selbständige Mittel, die rein der Erschließung und Gestaltung dieses anderen, „subjektiven“ Daseins dienen: – und sie sind in ihr nicht minder festgewurzelt und nicht minder ursprünglich, als die Formen, in denen sie die Dingwelt erfaßt und darstellt. Noch heute begegnet freilich vielfach die Anschauung, daß die Ausdrücke, mit denen die Sprache das persönliche Sein und die Verhältnisse in ihm wiedergibt, gegenüber den anderen, die der Sach- und Dingbestimmung angehören, nur von abgeleiteter und sekundärer [209] Bedeutung seien. In Versuchen zu einer logisch-systematischen Einteilung der verschiedenen Wortklassen findet sich häufig die Ansicht durchgeführt, daß das Pronomen keine selbständige Wortklasse mit eigenem geistigen Gehalt, sondern nur eine einfache lautliche Vertretung des Dingworts, des Substantivums sei; daß es somit nicht zu den eigentlich autonomen Ideen der Sprachbildung gehöre, sondern nur den Ersatz für ein anderes darstelle[137]. Aber schon Humboldt hat gegen diese „eng-grammatische Auffassung“ mit entscheidenden Gründen Einspruch erhoben. Er betont, daß es eine ganz unrichtige Vorstellung sei, das Pronomen als den spätesten Redeteil in der Sprache anzusehen: denn das Erste im Akte der Sprache sei die Persönlichkeit des Sprechenden selbst, der in beständiger unmittelbarer Berührung mit der Natur stünde und unmöglich unterlassen könne, ihr auch in der Sprache den Ausdruck seines Ich gegenüberzustellen. „Im Ich aber ist von selbst auch das Du gegeben, und durch einen neuen Gegensatz entsteht die dritte Person, die sich aber, da nun der Kreis der Fühlenden und Sprechenden verlassen wird, auch zur toten Sache erweitert[138].“ Gestützt auf diese spekulative Grundansicht hat sodann auch die empirische Sprachforschung vielfach den Versuch unternommen, die persönlichen Pronomina gleichsam als einen „Urfelsen der Sprachschöpfung“, als den altertümlichsten und dunkelsten, aber auch festesten und beharrlichsten Bestand aller Sprachen zu erweisen[139]. Wenn jedoch Humboldt in diesem Zusammenhang betont, daß das ursprünglichste Gefühl, das Ich, kein nachher erst erfundener, allgemeiner, diskursiver Begriff sein könne, so ist freilich andererseits zu erwägen, daß dieses ursprüngliche Gefühl nicht ausschließlich in der expliziten Bezeichnung des Ich als Pronomen der ersten Person gesucht werden darf. Die Sprachphilosophie würde vielmehr selbst in der von ihm bekämpften engen, logisch-grammatischen Ansicht stehen bleiben, wenn sie die Form und die Gestaltung des Ichbewußtseins lediglich an der Entwicklung dieser Bezeichnung messen wollte. In der psychologischen [210] Analyse und Beurteilung der Kindersprache ist man oft dem Irrtum verfallen, in dem ersten Auftreten des Ichlautes auch die primäre und früheste Stufe des Ichgefühls zu sehen. Aber darin ist übersehen, daß der innere seelisch-geistige Gehalt und seine sprachliche Ausdrucksform sich niemals schlechthin decken, und daß insbesondere die Einheit dieses Gehalts sich keineswegs in der Einfachheit des Ausdrucks zu spiegeln braucht. Die Sprache verfügt vielmehr, um eine bestimmte Grundanschauung zu vermitteln und darzustellen, über eine Fülle verschiedenartiger Ausdrucksmittel, und erst aus der Gesamtheit und dem Zusammenwirken derselben wird die Richtung der Bestimmung, die sie innehält, deutlich erkennbar. Die Gestaltung des Ichbegriffs ist daher nicht an das Pronomen gebunden, sondern sie erfolgt ebenso sehr durch andere sprachliche Sphären, wie z. B. durch das Medium des Nomen und durch das Medium des Verbum hindurch. Insbesondere an diesem letzteren können die feinsten Besonderungen und Nuancierungen des Ichgefühls sich ausprägen, da im Verbum die objektive Vorgangsauffassung sich mit der subjektiven Auffassung des Tuns am eigentümlichsten durchdringt, und da in diesem Sinne die Verba sich, nach dem Ausdruck der chinesischen Grammatiker, als die eigentlich „lebenden Wörter“ von den Nomina als „toten Wörtern“ charakteristisch unterscheiden[140].

Zunächst freilich scheint auch der Ausdruck des Ich und des Selbst der Anlehnung an die nominale Sphäre, an das Gebiet der substantiell-gegenständlichen Anschauung zu bedürfen und sich von ihr nur schwer losreißen zu können. In den verschiedensten Sprachkreisen begegnen uns Ichbezeichnungen, die von gegenständlichen Bezeichnungen hergenommen sind. Insbesondere zeigt die Sprache, wie das konkrete Selbstgefühl anfangs noch völlig an die konkrete Anschauung des eigenen Leibes und seiner einzelnen Gliedmaßen gebunden bleibt. Es ergibt sich hier dasselbe Verhältnis, das uns im Ausdruck der räumlichen, der zeitlichen und der zahlenmäßigen Bestimmungen entgegentrat, die gleichfalls diese durchgehende Orientierung am physischen Dasein und insbesondere am menschlichen Körper zeigen. Vor allem sind es die altaischen Sprachen, in denen sich dieses System der Ichbezeichnung sehr deutlich ausprägt. Alle Zweige dieses Sprachstammes zeigen eine Neigung, das, was wir durch die persönlichen Fürwörter ausdrücken, durch Nomina, die mit Kasusendungen oder auch mit Possessivsuffixen versehen sind, zu bezeichnen. Die Ausdrücke für ‚ich‘ oder ‚mich‘ werden daher durch andere, die etwa mein Sein, mein Wesen oder auch in „drastisch-materieller Weise“, ‚mein [211] Körper‘ oder ‚mein Busen‘ besagen, ersetzt. Auch ein rein räumlicher Ausdruck, z. B. ein Wort, das seiner Grundbedeutung nach etwa mit ‚Mittelpunkt‘ wiederzugeben wäre, kann in diesem Sinne verwendet werden[141]. In ähnlicher Weise wird z. B. im Hebräischen das Reflexivpronomen nicht nur durch Worte wie Seele oder Person, sondern auch durch solche wie Antlitz, wie Fleisch oder Herz wiedergegeben[142] – wie ja auch das lateinische persona ursprünglich das Antlitz oder die Maske des Schauspielers bedeutet und in seiner Verwendung im Deutschen noch lange gebraucht wird, um das äußere Ansehen, die Figur und Statur eines Einzelwesens zu bezeichnen[143]. Im Koptischen bedient man sich zur Wiedergabe des Ausdrucks „Selbst“ des Nomens ‚Leib‘, dem die Possessivsuffixe angehängt werden[144]. Auch in den indonesischen Idiomen wird das Reflexivobjekt durch ein Wort bezeichnet, das ebenso wohl Person und Geist, wie Leib besagt[145]. Schließlich reicht dieser Gebrauch auch bis in die indogermanischen Sprachen, wo z. B. im vedischen und klassischen Sanskrit das Selbst und das Ich bald durch das Wort für ‚Seele‘ (atmán), bald durch das für ‚Leib‘ (tanu) wiedergegeben wird[146]. In alledem zeigt sich, daß die Anschauung des Selbst, der Seele, der Person dort, wo sie in der Sprache aufzuleuchten beginnt, zunächst noch verhaftet an den Körpern klebt – wie ja auch in der mythischen Anschauung die Seele und das Selbst des Menschen anfangs als bloße Wiederholung, als „Doppelgänger“ des Leibes gedacht wird. Auch in der formellen Behandlung bleiben die pronominalen und die nominalen Ausdrücke in vielen Sprachen auf lange Zeit hin ungeschieden, indem sie mittels der gleichen Formelemente flektiert und in Numerus, Genus und Kasus einander angeglichen werden[147].

[212] Fragt man freilich nicht sowohl nach der Form, in welche die Sprache die Ichvorstellung kleidet, als vielmehr nach dem geistigen Gehalt dieser Vorstellung selbst, so zeigt sich, daß der letztere auch innerhalb des Gebiets des rein nominalen oder verbalen Ausdrucks zu scharfer Bezeichnung und zu deutlicher Bestimmung gelangen kann. In fast allen Sprachen, die eine Unterscheidung der Nomina nach bestimmten Klassen durchführen, findet sich der Gegensatz einer Personen- und einer Sachenklasse bestimmt entwickelt. Und es handelt sich hierbei nicht um eine einfache, gleichsam biologische Abgrenzung zwischen dem Gebiet des Belebten und des Unbelebten, die als solche noch ganz der Anschauung der Natur angehören würde, sondern um oft überraschende Feinheiten in der Auffassung und Nuancierung persönlichen Daseins. In den Bantusprachen bezeichnet eine eigene, durch ein besonderes Präfix herausgehobene Klasse den Menschen als selbständig handelnde Persönlichkeit, während eine andere Klasse die belebten, aber nicht persönlichen Wesen umfaßt. In diese letztere wird der Mensch immer dann eingereiht, wenn er nicht als selbständig Handelnder, sondern als Organ und als Vertreter eines anderen, z. B. als sein Bote, sein Gesandter oder Geschäftsträger auftritt. Die Sprache trennt also hier die Arten und die Grade der Persönlichkeit je nach der Funktion, die sie ausübt und je nach der selbständigen oder unselbständigen Form und Richtung des Willens, die sich darin ausprägt[148]. Einen Keim zu dieser Grundanschauung kann man auch in denjenigen Sprachen finden, die die Benennung persönlicher Wesen dadurch von bloßen Sachbezeichnungen unterscheiden, daß sie ihr einen besonderen „persönlichen Artikel“ vorangehen lassen. In den melanesischen Sprachen wird ein solcher Artikel regelmäßig den Namen von Individuen [213] und Stämmen vorangesetzt; er findet sich aber auch vor unbelebten Dingen, wie Bäumen oder Booten, Schiffen oder Waffen, wenn sie nicht als bloße Vertreter ihrer Gattung, sondern als Individuen gefaßt und mit einem bestimmten Eigennamen versehen werden. Einzelne Sprachen haben zwei verschiedene persönliche Artikel ausgebildet, die verschiedenen Klassen belebter Wesen beigelegt werden, wobei offenbar eine Art Wertabstufung innerhalb des Persönlichkeitsbegriffs selbst zugrunde liegt[149]. Ein Gefühl für derartige, dem Kreise der reinen Subjektivität angehörige Unterschiede bekunden auch einige australische Eingeborenensprachen, die eine verschiedene Form des Nominativ, des Subjektsausdrucks, wählen, wenn es sich darum handelt, ein Wesen einfach als daseiend und wenn es sich darum handelt, es als tätig, als selbständig handelnd zu bezeichnen[150]. Analoge Unterschiede vermag die Sprache am Verbum zu bezeichnen, indem z. B. durch ein besonderes Präfix an ihm zum Ausdruck gebracht wird, ob es sich in dem Vorgang, der durch das Verbalwort ausgesagt wird, um ein einfaches „natürliches“ Geschehen oder um die Einwirkung eines tätigen Subjekts oder eine gemeinschaftliche Aktion mehrerer solcher Subjekte handelt[151]. In alledem haben wir es äußerlich nicht mit Unterscheidungen zu tun, die von der Sprache am Pronomen [214] getroffen werden, aber es ist ersichtlich, daß nichtsdestoweniger der reine Begriff des persönlichen Seins und Wirkens scharf erfaßt und in mannigfachen geistigen Abstufungen durchgeführt wird. –

Die außerordentliche Fülle dieser Abstufungen tritt besonders in den reichen Möglichkeiten zutage, die die Sprache zur Unterscheidung der sogen. „Genusunterschiede“ am Verbum besitzt. Vom Standpunkt der rein logischen Analyse des Tuns scheint an ihm auf den ersten Blick nur ein einziger, scharf ausgeprägter Unterschied erfaßbar zu sein: das selbständige Tun steht dem bloßen Erleiden, die aktive Form steht der passiven gegenüber. Schon die Aristotelische Kategorientafel hat daher den grammatischen Unterschied, den wir durch den Gegensatz des „Aktiv“ und „Passiv“ auszudrücken pflegen, zu allgemein logischer und metaphysischer Bedeutung zu erheben gesucht. Aber es ist keineswegs zutreffend, wenn man behauptet hat, daß Aristoteles, indem er in dieser Weise den Grundgegensatz des Wirkens und Leidens, des ποιεῖν und πάσχειν in den Mittelpunkt stellt, sich hierbei lediglich von Tendenzen leiten ließ, die ihm durch die Form und Eigenart der griechischen Sprache unmittelbar gegeben und gewissermaßen aufgedrängt waren. Die Sprache, für sich allein, hätte hier eher einen andern Weg gewiesen: denn gerade im Griechischen ist der Unterschied des „Passivums“ gegen die übrigen Genera des Verbums weder morphologisch noch semasiologisch scharf durchgeführt. Das Passivum hat sich hier auch funktionell erst allmählich teils aus dem Aktiv, teils aus dem Medium entwickelt[152]. Blickt man vollends auf andere Sprachkreise hinüber, so zeigt sich deutlich, daß der einfache Gegensatz des Tuns und Erleidens in der Ausbildung des verbalen Ausdrucks keineswegs allein bestimmend oder ausschlaggebend ist, sondern daß er hier durch eine Fülle anderer Gegensatzmotive beständig gekreuzt wird. Auch dort, wo die Sprachen ihn als solchen klar entwickelt haben, wo sie zwischen „aktiven“ und „passiven“ Formen scharf unterscheiden, ist dieser Unterschied doch nur einer unter vielen: er gehört einer Gesamtheit begrifflicher Stufenfolgen des verbalen Ausdrucks an und wird durch sie vermittelt. In anderen Sprachen wieder kann dieser Gegensatz ganz fehlen, so daß hier, wenigstens formell, kein besonderer passiver Gebrauch des Verbums vorhanden ist. Bestimmungen, für die wir gewohnt sind einen passiven Ausdruck einzusetzen, werden hier durch aktive Verbalformen, insbesondere durch die dritte Person Pluralis des aktiven Verbums umschrieben und ersetzt[153]. In den malayischen Sprachen [215] ist, nach Humboldt, die sogen. „Passivbildung“ eigentlich die Umsetzung in eine Nominalform: ein eigentliches Passiv gibt es nicht, weil das Verbum selbst nicht als Aktivum gedacht ist, sondern mehr nominalen Charakter hat. Der Bezeichnung des Vorgangs haftet hier zunächst weder die Beziehung auf einen Tätigen, noch die auf einen Leidenden an: das Verbum konstatiert einfach den Eintritt des Vorgangs selbst, ohne ihn ausdrücklich an die Energie eines Subjekts zu knüpfen oder die Beziehung zu dem Objekt, das von ihm betroffen wird, in der Verbalform selbst kenntlich zu machen[154].

Aber daß diese mangelnde Entwicklung des abstrakten Gegensatzes von Tun und Leiden nicht etwa darin ihren Grund hat, daß hier die konkrete Anschauung des Tuns selber und seiner Nuancierungen noch fehlt: das zeigt sich auf der anderen Seite darin, daß eben diese Anschauung oft in überraschender Vielseitigkeit in den gleichen Sprachen, denen die formelle Unterscheidung des Aktivum und Passivum fehlt, ausgebildet sein kann. Die „Genera“ des Verbs sind hier häufig nicht nur einzeln aufs schärfste bestimmt, sondern sie können einander auch in der mannigfaltigsten Weise überdecken und sich zu immer komplexeren Ausdrücken zusammenschließen. An der Spitze stehen hier zunächst jene Formen, die einen Zeitcharakter an der Handlung bezeichnen – wobei es sich jedoch, nach dem Früheren, nicht sowohl um den Ausdruck ihrer relativen Zeitstufe, als vielmehr um den Ausdruck der Aktionsart handelt. Es tritt eine scharfe Trennung der „perfektiven“ und „imperfektiven“, der „momentanen“ oder „kursiven“, der einmaligen oder iterativen Aktionsart ein: es wird unterschieden, ob die Handlung in dem Moment des Sprechens als eine vollendete und abgeschlossene vorliegt oder ob sie noch in der Entwicklung begriffen ist, ob sie auf einen bestimmten Augenblick [216] beschränkt ist oder sich über eine größere Zeitdauer erstreckt, ob sie in einem einzigen Akt oder in mehrfach wiederholten Akten sich vollzieht. Zur Bezeichnung derartiger Bestimmungen kann – neben den früher erwähnten Mitteln zum Ausdruck der „Aktionsart“[155] – je eine eigene Genusform des Verbums gebraucht werden. Um den einfachen Zustand als solchen zu bezeichnen, kann ein „Stativ“, um ein allmähliches Werden auszudrücken, kann ein Inchoativ, um den Abschluß, den eine Handlung gefunden hat, auszudrücken, kann ein „Cessativ“ oder „Konklusiv“ gebraucht werden. Soll die Handlung als eine anhaltende und regelmäßige, als eine Gewohnheit oder dauernde Gepflogenheit gekennzeichnet werden, so tritt dafür die Form des „Habitualis“ ein[156]. Andere Sprachen haben in besonders reichem Maße die Unterscheidung der momentanen Zeitwörter von den frequentativen Zeitwörtern durchgebildet[157]. Neben diesen Unterschieden, die im wesentlichen die Handlung nach ihrem objektiven Charakter betreffen, kann sodann in der Verbalform vor allem die eigene innere Stellungnahme, die das Ich ihr gegenüber einnimmt, zum Ausdruck gelangen. Diese selbst kann hierbei entweder rein theoretischer oder praktischer Art sein, kann der reinen Willenssphäre oder auch der Urteilssphäre entstammen. In ersterer Hinsicht kann die Handlung als erwünscht, als verlangt oder gefordert, in letzterer kann sie als assertorisch oder als problematisch gewiß bezeichnet werden. Nach dieser Richtung bilden sich jetzt, wie zuvor die Unterschiede in der Benennung der Aktionsarten, die eigentlich „modalen“ Unterschiede aus. Es entwickelt sich der Konjunktiv, der zugleich „volitive“, „deliberative“ und „prospektive“ Bedeutung hat; – der Optativ, der teils im Sinne des Wunsches, teils als Ausdruck einer Vorschrift oder einer einfachen Möglichkeit gebraucht wird[158]. Auch ist die Form des Verlangens, vom einfachen Wunsch bis zum Befehl hin, in sich wieder verschiedenartiger Abstufungen fähig, die sich etwa in der Unterscheidung eines einfachen „Prekativ“ vom „Imperativ“ aussprechen können[159]. Viele Indianersprachen kennen neben einem imperativen, implorativen, [217] desiderativen und obligativen Modus, der ausdrückt, daß die Handlung getan werden soll, die rein theoretischen Modi, die von den Grammatikern als „Dubitativ“ oder „Quotativ“ bezeichnet werden, und die besagen, daß die Handlung zweifelhaft ist oder nur auf das Zeugnis eines andern hin berichtet wird[160]. Oft wird hier auch durch ein eigenes Suffix am Verbum kenntlich gemacht, ob das Subjekt den Vorgang, von dem es berichtet, selbst gesehen oder ob es ihn gehört hat oder ob es ihn, statt aus unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung, nur durch Vermutung und Schlußfolgerung kennt; auch wird gelegentlich die Kenntnis eines Vorgangs, die man durch einen Traum erlangt hat, von der im Wachen erlangten in dieser Weise unterschieden[161].

Stellt schon hierin sich das Ich der objektiven Wirklichkeit wollend oder fordernd, zweifelnd oder fragend, gegenüber: so gewinnt diese Gegenüberstellung ihre höchste Schärfe, wenn von der Einwirkung des Ich auf den Gegenstand und von ihren verschiedenen möglichen Formen die Rede ist. Viele Sprachen, die gegen den Unterschied des Aktiv und Passiv relativ gleichgültig sind, unterscheiden statt dessen aufs genaueste die Stufen dieser Einwirkung und ihre größere oder geringere Mittelbarkeit. Durch ein einfaches lautliches Mittel (wie etwa durch die Verdoppelung des mittleren Radikals in den semitischen Sprachen) kann z. B. aus dem Grundstamm des Verbums ein zweiter Stamm abgeleitet werden, der zunächst intensive, dann aber weiterhin allgemein-kausative Bedeutung besitzt; neben beide tritt noch ein dritter Stamm, dem speziell diese letztere Funktion zukommt. An die Kausative ersten Grades können sich dann solche zweiten und dritten Grades anschließen, durch die ein ursprünglich intransitiver Verbalstamm zu einer doppelt oder dreifach transitiven Bedeutung umgestaltet wird[162]. Es ist ersichtlich, wie sich in derartigen sprachlichen Erscheinungen die immer weitergehende Potenzierung widerspiegelt, die die Anschauung des persönlichen Wirkens selbst erfährt: statt der einfachen Auseinanderhaltung des Subjekts und des Objekts des Tuns, des Wirkenden und des Gewirkten schieben sich hier [218] immer mehr Mittelglieder ein, die, selbst persönlicher Natur, dazu dienen, die Handlung von ihrem ersten Ursprung in einem wollenden Ich gleichsam weiterzuleiten und sie ins Gebiet des objektiven Seins hinüberzuführen[163]. Diese Anschauung der Mehrheit der Subjekte, die bei einer Handlung zusammenwirken, kann dann weiterhin einen verschiedenen Ausdruck finden, je nachdem einfach die Tatsache dieser Mitwirkung bezeichnet oder aber auf die Unterschiede ihrer Form reflektiert wird. In ersterer Hinsicht braucht die Sprache die „Kooperativform“ des Verbums oder sie bildet einen eigenen „Mitwirkungs- oder Sozialstamm“, der besagt, daß eine Person an der Tätigkeit oder dem Zustand eines andern in irgendeiner Weise mitbeteiligt ist[164]. Einzelne Sprachen verwenden besondere Kollektiv-Infixe, um damit anzudeuten, daß irgendeine Handlung nicht von einem einzelnen, sondern in Gemeinschaft vorgenommen wird[165]. Was die Form des Zusammenwirkens mehrerer Individuen angeht, so ist es vor allem bedeutsam, ob dieses Zusammenwirken sich lediglich nach außen oder ob es sich nach innen wendet, d. h. ob einer Mehrheit von Subjekten ein einfaches dingliches Objekt gegenübersteht oder ob die einzelnen in ihrem Tun einander selbst wechselseitig Subjekt und Objekt sind. Aus der letzteren Anschauung erwächst die Ausdrucksform, die die Sprache für die reziproke Handlung erschafft. Auch primitive Sprachen unterscheiden gelegentlich scharf, ob die Tätigkeit der Subjekte sich gegen eine äußere Sache richtet, oder ob sie sie gegeneinander richten[166]. Und hier ist offenbar bereits die Vorbereitung zu einem weiteren folgenschweren Schritt gegeben. Schon in der reziproken Handlung fallen das Wirkende und das, worauf gewirkt wird, in einem gewissen Sinne in eins zusammen: beide gehören hier der personalen Sphäre an, und es hängt lediglich von der Richtung der Betrachtung ab, ob wir sie als Subjekt oder als Objekt des Tuns ansehen wollen. Dies Verhältnis vertieft sich noch, wenn an die Stelle der Mehrheit der Subjekte ein einziges [219] tritt, und wenn damit der Ausgangspunkt der Handlung und ihr Zielpunkt, nachdem sie sich getrennt haben, inhaltlich wieder in einen Punkt zusammenfallen. Dies ist der Charakter der reflexiven Handlung, in welcher das Ich nicht sowohl ein anderes oder einen anderen, als vielmehr sich selbst bestimmt, – in der es sein Tun auf sich selber zurücklenkt. In vielen Sprachen ist es eben diese Reflexivbildung, die das mangelnde Passivum ersetzt[167]. Am reinsten tritt diese Hinweisung und Rücklenkung der Handlung auf das Ich und das energische Bewußtsein der Subjektivität, das sich darin bekundet, in dem Gebrauch hervor, den die griechische Sprache von den medialen Verbalformen macht. Nicht mit Unrecht hat man in dem Besitz und in der Verwendung des Mediums einen wesentlichen und auszeichnenden Charakter der griechischen Sprache gesehen – einen solchen, der sie zur echt „philosophischen“ Sprache stempelt[168]. Die indischen Grammatiker haben für den Unterschied der aktiven und der medialen Verbalform einen bezeichnenden Ausdruck geschaffen, indem sie die erstere „ein Wort für einen andern“, die letztere ‚ein Wort für sich selbst‘ nennen[169]. In der Tat ist es die Grundbedeutung des Mediums, daß es den Vorgang als in der eigenen Sphäre des Subjekts liegend betrachtet und die innere Beteiligung des Subjekts an ihm betont. „Bei jedem einfachen Aktivum“ – sagt Jakob Grimm – „bleibt es an sich zweifelhaft, ob der intransitive oder transitive Begriff in ihm herrsche, z. B. ‚ich sehe‘ kann beides heißen sollen: ich sehe mit meinen Augen, oder ich sehe irgend etwas an; κλαίω beides, entweder das innere Weinen selbst, oder das Beweinen eines anderen. Das Medium hebt diesen Zweifel und bezieht den Sinn notwendig auf das Subjekt des Satzes, z. B. κλαίομαι (ich weine um mich, für mich) … Das wahre und eigentliche Medium ist überhaupt zur Bezeichnung dessen, was lebendig in der inneren Seele und an dem Leib vorgeht, geschaffen, daher ihm in allen Sprachen, nach ihrer wundervollen Einstimmung, Begriffe wie: freuen, trauern, wundern, fürchten, hoffen, weilen, ruhen, sprechen, kleiden, waschen und ähnliche zustehen[170].“ Überblickt man jetzt die Mannigfaltigkeit [220] der verbalen Genusunterscheidungen und erwägt man, daß die meisten dieser Genera sich miteinander wieder zu neuen komplexen Einheiten zusammenknüpfen lassen – indem z. B. vom Passiv und Kausativ ein Kausativ-Passiv, vom Kausativ und Reflexiv ein Reflexiv-Kausativ, weiterhin ein Reziprokum des Kausativs u. s. f. gebildet werden kann[171] – so erkennt man, daß die Kraft, die die Sprache in solchen Bildungen beweist, eben darin liegt, daß sie den Gegensatz des subjektiven und des objektiven Seins nicht als den abstrakten und starren Gegensatz zweier einander ausschließender Gebiete faßt, sondern daß sie ihn in der vielfältigsten Weise dynamisch vermittelt denkt. Sie stellt nicht die beiden Sphären an sich, sondern ihr Ineinandergreifen und ihre wechselseitige Bestimmung dar – sie erschafft gleichsam ein Mittelreich, durch welches die Formen des Daseins auf die des Tuns, die Formen des Tuns auf die des Daseins bezogen und beide miteinander zu einer geistigen Ausdruckseinheit verschmolzen werden.

2.

Blickt man weiterhin von der impliziten Gestaltung, die die Ichvorstellung im Kreise des nominalen und verbalen Ausdrucks erfährt, auf ihre explizit-sprachliche Durchbildung, auf die allmähliche Entwicklung der eigentlichen Pronomina, hin – so hat schon Humboldt hervorgehoben, daß zwar das Ichgefühl als ein ursprünglicher und nicht weiter ableitbarer Bestand aller Sprachbildung angesehen werden müsse, daß aber nichtsdestoweniger der Eintritt des Pronomen in die wirkliche Sprache von großen Schwierigkeiten begleitet sei. Denn das Wesen des Ich bestünde darin, Subjekt zu sein, während andererseits im Denken und Sprechen jeder Begriff vor dem wirklich denkenden Subjekt zum Objekt werden müsse[172]. Dieser Gegensatz kann nur dadurch vermittelt und gelöst werden, daß dasselbe Verhältnis, das wir zuvor innerhalb des nominalen und verbalen Ausdrucks beobachtet haben, sich nunmehr auf einer höheren Stufe wiederholt. Auch im Kreis des pronominalen Ausdrucks wird eine scharfe Bezeichnung des Ich nur dadurch gefunden werden können, daß sie sich der des Objektiven zwar einerseits gegenüberstellt, andererseits aber durch sie hindurchgeht. Auch dort, wo die Sprache den Gedanken des Ich bereits bestimmt ausprägt, wird sie ihm daher zunächst [221] noch eine gegenständliche Fassung und Formung geben müssen: – wird sie an der Bezeichnung des Objektiven die des Ich gleichsam erst finden müssen.

Diese Voraussetzung findet ihre Bestätigung, wenn man die Art betrachtet, in der die Sprache zum Ausdruck persönlicher Verhältnisse nicht sogleich die eigentlichen persönlichen Fürwörter, sondern die possessiven Pronomina benutzt. In der Tat nimmt die Idee des Besitzes, die in diesen letzteren dargestellt ist, zwischen dem Gebiet des Objektiven und des Subjektiven eine eigentümliche Mittelstellung ein. Was besessen wird, ist ein Ding oder Gegenstand: ein Etwas, das sich schon durch die Tatsache, daß es zum Besitzinhalt wird, als bloße Sache zu erkennen gibt. Aber indem nun eben diese Sache als Eigentum erklärt wird, erhält sie damit selbst eine neue Eigenheit, rückt sie aus der Sphäre des bloß natürlichen in die des persönlich-geistigen Daseins. Es ist gleichsam eine erste Belebung, eine Verwandlung der Seinsform in die Ichform, die sich hierin ankündigt. Auf der anderen Seite erfaßt sich das Selbst hier noch nicht in einem freien und ursprünglichen Akt der Selbsttätigkeit, der geistigen und willensmäßigen Spontaneität, sondern schaut sich sozusagen im Bilde des Gegenstandes an, den es sich als den „seinigen“ zueignet. Diese Vermittlung des rein „personalen“ durch den „possessiven“ Ausdruck zeigt sich nach der psychologischen Seite hin in der Entwicklung der Kindersprache, in welcher die Bezeichnung des eigenen Ich weit früher durch possessive als durch personale Pronomina zu erfolgen scheint. Aber deutlicher als derartige nicht ganz sichere und eindeutige Beobachtungen[173] sprechen auch hier bestimmte Erscheinungen der allgemeinen Sprachgeschichte. Sie zeigen, daß der eigentlichen scharfen Ausbildung des Ichbegriffs in der Sprache ein Zustand der Indifferenz vorauszugehen pflegt, in der der Ausdruck des „Ich“ und der des „Mein“, der des „Du“ und des „Dein“ u. s. f. sich noch nicht geschieden haben. Der Unterschied beider Fälle – so bemerkt Humboldt – wird wohl empfunden, aber nicht mit der formalen Schärfe und Bestimmtheit, welche der Übergang in der Lautbezeichnung erfordert[174]. Wie die meisten amerikanischen Eingeborenensprachen, so gestalten auch die Sprachen des ural-altaischen Kreises die Konjugation des Verbums fast durchgehend [222] derart, daß an die unbestimmte Infinitivform ein possessives Affix herantritt, – so daß also z. B. der Ausdruck für ‚ich gehe‘ eigentlich ‚mein Gehen‘ besagt, oder daß etwa die Ausdrücke für ‚ich baue, du baust, er baut‘ sprachlich genau die gleiche Struktur wie die für ‚mein Haus, dein Haus, sein Haus‘ aufweisen[175]. Daß diese Eigentümlichkeit des Ausdrucks eine eigentümliche Anschauung des Verhältnisses von „Ich“ und „Wirklichkeit“ zugrunde liegt, ist unverkennbar. Wundt sieht die psychische Ursache für dieses Verharren der Nominalformen im Gebiet transitiver Verbalbegriffe darin, daß im transitiven Verbum das Objekt, auf das sich die Handlung beziehe, stets unmittelbar im Bewußtsein gegeben sei, also vor allem anderen zur Bezeichnung dränge, so daß hier der Nominalbegriff stellvertretend für den ganzen, die Handlung ausdrückenden Satz eintreten könne[176]. Aber damit ist der Tatbestand, um den es sich hier handelt, nicht sowohl psychologisch erklärt, als vielmehr nur psychologisch umschrieben. Es ist eine geistig-verschiedene Ansicht des Tuns, die sich in seiner Bezeichnung als reiner Akt, als actus purus und die sich in der Bezeichnung seines objektiven Zieles und seines objektiven Ergebnisses ausspricht. In dem einen Fall geht der Ausdruck des Tuns in das Innere der Subjektivität, als seinen Ursprung und seine Quelle, zurück; im anderen konzentriert er sich auf seinen Ertrag, um erst diesen wieder, durch das besitzanzeigende Pronomen, gleichsam in die Sphäre des Ich zurückzunehmen. Die Beziehung des Ich auf den gegenständlichen Inhalt ist in beiden Fällen vorhanden, aber sie trägt in dem einen sozusagen ein entgegengesetztes Vorzeichen, als im anderen: die Richtung der Bewegung geht das eine Mal vom Zentrum zur Peripherie, das andere Mal von der Peripherie zum Zentrum.

Ganz besonders eng gestaltet sich diese im possessiven Fürwort ausgedrückte und also durch die Idee des Besitzes vermittelte Verknüpfung von Ich und Nicht-Ich, wenn das Nicht-Ich nicht schlechthin ein beliebiger Gegenstand der ‚Außenwelt‘ ist, sondern dem Gebiet angehört, in dem das „Innere“ und das „Äußere“ sich zu berühren und unmittelbar ineinander überzugehen scheinen. Selbst spekulative Philosophen haben den menschlichen Leib als diejenige Wirklichkeit bezeichnet, in welcher dieser Übergang sich für uns in unverkennbarer Deutlichkeit vollziehe. So sind nach Schopenhauer das Ich und der Leib nicht zwei objektiv [223] erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft; sie stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben. Die Aktion des Leibes ist nichts anderes, als der objektivierte, d. h. in die Anschauung getretene Akt des Willens – der Leib ist nichts, als die Objektität des Willens selbst[177]. Von hier aus wird es verständlich, daß auch die Sprache in den Bezeichnungen, die sie für den menschlichen Leib und seine einzelnen Teile schafft, den objektiven und den subjektiven Ausdruck sich unmittelbar durchdringen läßt: – daß mit der rein gegenständlichen Benennung hier der Ausdruck der persönlichen Beziehung oft zu einem untrennbaren Ganzen verschmilzt. Namentlich die Sprachen von Naturvölkern zeigen diese Eigentümlichkeit häufig in scharfer Ausprägung. In den meisten Indianersprachen kann ein Körperteil niemals mit einem allgemeinen Ausdruck bezeichnet, sondern er muß stets durch ein besitzanzeigendes Fürwort näher determiniert werden: es gibt also keinen abstrakten und losgelösten Ausdruck für den Arm oder die Hand schlechthin, sondern immer nur einen Ausdruck für die Hand oder den Arm, sofern sie einem bestimmten Menschen angehören[178]. K. v. d. Steinen berichtet von der Bakairi-Sprache, daß bei der Feststellung der Namen für die einzelnen Körperteile sorgfältig darauf zu achten war, ob man den Körperteil, nach dessen Benennung man fragte, an sich selbst oder an dem Gefragten oder an einem Dritten zeigte, da in allen drei Fällen die Antwort verschieden lautete. Das Wort für ‚Zunge‘ z. B. konnte nur in der Form: meine Zunge, deine Zunge, seine Zunge oder etwa unserer aller, die wir hier sind, Zunge wiedergegeben werden[179]. Die gleiche Erscheinung wird von Humboldt aus der mexikanischen, von Boethlingk aus der jakutischen Sprache berichtet[180]. In den melanesischen Sprachen wird bei der Bezeichnung von Körperteilen ein verschiedener Ausdruck gewählt, wenn es sich um die allgemeine Benennung, und wenn es sich um die Benennung eines besonderen, einem bestimmten Individuum zugehörigen Körperteils handelt: im ersteren Fall muß zu dem gewöhnlichen Ausdruck, der die [224] individualisierende Bedeutung hat, also meine Hand, deine Hand, u. s. f. bedeutet, ein generalisierendes Suffix hinzutreten[181]. Diese Verschmelzung des Nominalausdrucks mit dem Possessivpronomen greift dann weiter von der Bezeichnung der menschlichen Gliedmaßen auch auf andere Inhalte über, sofern sie in besonders naher Zugehörigkeit zum Ich und gleichsam als ein Teil seines geistig-natürlichen Seins gedacht werden. Häufig sind es insbesondere die Ausdrücke für natürliche Verwandtschaftsgrade, die Ausdrücke für Vater und Mutter u. s. f., die nur in fester Verbindung mit dem possessiven Pronomen auftreten[182]. Es ergibt sich hier das gleiche Verhältnis, das uns zuvor in der Gestaltung des verbalen Ausdrucks entgegentrat: daß nämlich für die Anschauung der Sprache die objektive Wirklichkeit nicht eine einzige homogene Masse bildet, die der Welt des Ich einfach als Ganzes gegenübersteht, sondern daß hier verschiedene Schichten dieser Wirklichkeit bestehen, daß nicht eine allgemeine und abstrakte Beziehung zwischen Objekt und Subjekt schlechthin vorhanden ist, sondern daß sich verschiedene Stufengrade des Objektiven, je nach seiner größeren ‚Nähe‘ oder ‚Ferne‘ zum Ich, noch deutlich gegeneinander absondern.

Und aus dieser Konkretion, in welcher hier die Subjekt-Objekt-Beziehung gegeben ist, folgt nun noch ein weiterer Zug. Der Grundcharakter des reinen Ich besteht darin, daß es, im Gegensatz zu allem Objektiven und Dinghaften, absolute Einheit ist. Das Ich, als reine Form des Bewußtseins gefaßt, enthält keinerlei Möglichkeit innerer Unterschiede mehr: denn solche Unterschiede gehören nur der Welt der Inhalte an. Wo immer daher das Ich als Ausdruck des Nicht-Dinglichen in strengem Sinne genommen wird, da muß es als „reine Identität mit sich selbst“ gefaßt werden. Schelling hat in seiner Schrift „Vom Ich als Prinzip der Philosophie“ diese Folgerung aufs schärfste gezogen. Ist das Ich nicht sich selbst gleich, ist seine Urform nicht die Form reiner Identität – so betont er –, so verwischt sich alsbald wieder die strenge Grenze, die es von aller inhaltlich-gegenständlichen Wirklichkeit scheidet und die es erst zu einem unverkennbar Selbständigen und Eigenen macht. Das Ich ist daher entweder gar nicht oder nur in dieser Urform der reinen Identität zu denken[183]. Aber zu dieser Anschauung des reinen, des „transzendentalen“ Ich und seiner Einheit vermag die Sprache nicht unvermittelt [225] überzugehen. Denn wie für sie die personale Sphäre erst allmählich aus der possessiven herauswächst, wie sie die Anschauung der Person an die des objektiven Besitzes anheftet, so muß die Mannigfaltigkeit, die im bloßen Besitzverhältnis liegt, auch auf den Ausdruck der Ichbeziehung zurückwirken. In der Tat gehört mein Arm, der mit dem Ganzen meines Leibes organisch verbunden ist, mir auf ganz andere Art an, als mir meine Waffe oder mein Werkzeug angehört – meine Eltern, mein Kind sind mir auf ganz andere, natürlichere und unmittelbarere Art verbunden, als mein Pferd oder mein Hund – und auch im Gebiet des bloßen Sachbesitzes besteht noch ein deutlich fühlbarer Unterschied zwischen der beweglichen und der unbeweglichen Habe des Individuums. Das Haus, in dem es wohnt, „gehört“ zu ihm in einem anderen und festeren Sinne, als etwa der Rock, den es trägt. Allen diesen Differenzen wird sich die Sprache zunächst anschmiegen: statt eines einheitlichen und allgemeinen Ausdrucks des Besitzverhältnisses wird sie daher so viel verschiedene Ausdrücke für dasselbe zu entwickeln suchen, als es deutlich geschiedene Klassen konkreter Zugehörigkeit gibt. Es ergibt sich hier dieselbe Erscheinung, die wir in der Entstehung und der allmählichen Ausbildung der Zahlworte verfolgen konnten. Wie die verschiedenen Objekte und Objektgruppen ursprünglich verschiedene „Zahlen“ haben – so haben sie auch ein verschiedenes „Mein und Dein“. Den „Numeralsubstantiven“ mancher Sprachen, die bei der Zählung verschiedener Gegenstände zur Verwendung kommen, steht daher eine ganz analoge Mannigfaltigkeit der „Possessiv-Substantiva“ zur Seite. In den melanesischen und in vielen polynesischen Sprachen wird, um das Besitzverhältnis wiederzugeben, der Bezeichnung des besessenen Gegenstandes ein Possessivsuffix angefügt, das aber je nach der Klasse, zu der der Gegenstand gehört, wechselt. Ursprünglich sind alle diese mannigfachen Ausdrücke des Besitzverhältnisses Nomina, was sich formell noch darin deutlich bekundet, daß ihnen Präpositionen vorangehen können. Diese Nomina sind derart abgestuft, daß sie verschiedene Arten der Habe, des Besitzes, der Zugehörigkeit u. s. f. unterscheiden. Ein derartiges Possessiv-Nomen wird z. B. den Verwandtschaftsnamen, den Gliedmaßen des menschlichen Körpers, den Teilen eines Dinges, ein anderes den Dingen, die man besitzt, oder den Werkzeugen, von denen man Gebrauch macht, hinzugefügt – eines gilt für alle Dinge, die zum Essen, ein anderes für solche, die zum Trinken bestimmt sind[184]. Häufig wird ein verschiedener Ausdruck [226] angewendet, je nachdem es sich um einen von außen kommenden Besitz oder um ein Objekt handelt, das sein Dasein der persönlichen Tätigkeit des Besitzers verdankt[185]. In ähnlicher Weise unterscheiden die Indianersprachen meist zwischen zwei Hauptarten des Besitzes: zwischen natürlichem und unübertragbarem und künstlichem und übertragbarem Besitz[186]. Auch rein zahlenmäßige Bestimmungen können eine Mannigfaltigkeit im Ausdruck des Besitzverhältnisses bedingen, indem bei der Wahl des Possessivpronomens unterschieden wird, ob es sich um einen, um zwei oder um mehrere Besitzer handelt und ob der besessene Gegenstand einzig oder doppelt oder mehrfach vorhanden ist. In der aleütischen Sprache z. B. ergeben sich aus der Berücksichtigung und aus der Kombination all dieser Umstände neun verschiedene Ausdrücke des possessiven Pronomens[187]. Aus alledem geht hervor, daß der homogene Besitzausdruck ebenso wie der homogene Zahlausdruck erst ein relativ spätes Produkt der Sprachbildung ist und daß auch er sich erst aus der Anschauung des Heterogenen herauslösen muß. Wie die Zahl den Charakter der „Gleichartigkeit“ erst dadurch erlangt, daß sie sich fortschreitend aus einem Dingausdruck in einen reinen Beziehungsausdruck wandelt – so gewinnt allmählich auch die Einfachheit und Einerleiheit der Ichbeziehung den Vorrang vor der Vielfältigkeit der Inhalte, die in diese Beziehung eingehen können. Auf dem Wege zu dieser rein formalen Bezeichnung des Besitzverhältnisses und somit auf dem Wege zur mittelbaren Erfassung der formalen Einheit des Ich scheint sich die Sprache überall dort zu befinden, wo sie statt der possessiven Fürwörter den Genitiv als Besitzausdruck verwendet. Denn dieser wird, obwohl auch er in konkreten, insbesondere in räumlichen Anschauungen wurzelt, in seiner Fortbildung mehr und mehr zu einem rein „grammatischen“ Kasus, zum Ausdruck der „Zugehörigkeit überhaupt“, die sich auf keine Sonderform des Besitzes beschränkt. Eine Vermittlung und ein Übergang zwischen beiden [227] Anschauungen läßt sich vielleicht darin erkennen, daß bisweilen in der Sprache der genitivische Ausdruck selbst noch mit einem besonderen Possessiv-Charakter behaftet erscheint, indem ein eigenes possessives Suffix zu einer ständigen und in keinem Falle zu vernachlässigenden Vervollständigung des Genetivverhältnisses gehört[188].

Auf einem anderen Wege nähert sich die Sprache dem Ausdruck der rein formalen Einheit des Ich, wenn sie, statt die Tätigkeit wesentlich nach ihrem objektiven Ziel und Ertrag zu kennzeichnen, auf den Ursprung des Tuns, auf das handelnde Subjekt zurückgeht. Dies ist die Richtung, die alle diejenigen Sprachen nehmen, die das Verbum als reines Tatwort betrachten und die Personenbezeichnung und -bestimmung an das persönliche Fürwort anknüpfen. Das Ich, Du, Er löst sich in ganz anderer Schärfe als das bloße Mein, Dein und Sein aus der Sphäre des Objektiven heraus. Das Subjekt des Tuns kann nicht mehr als bloßes Ding unter Dingen, oder als Inhalt unter Inhalten, erscheinen, sondern es ist der lebendige Kraftmittelpunkt, von dem die Handlung beginnt und von dem sie ihre Richtung empfängt. Man hat versucht, die Typen der Sprachbildung danach zu unterscheiden, ob sie die Bezeichnung des verbalen Vorgangs wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Empfindung oder unter dem Gesichtspunkt der Tat vollziehen. Dort, wo der erstere Gesichtspunkt vorwalte, werde auch der Ausdruck des Tuns zu einem bloßen „es erscheint mir“ – während unter der Vorherrschaft des zweiten die umgekehrte Tendenz walte, auch noch das bloße Erscheinen in ein Tun umzudeuten[189]. In einer solchen Steigerung des Tätigkeitsausdrucks aber gewinnt nun auch der Ausdruck des Ich eine neue Fassung. Der dynamische Ausdruck der Ichvorstellung steht der Auffassung desselben als reine Formeinheit weit näher, als ein nominaler und gegenständlicher Ausdruck. Jetzt bildet sich das Ich in der Tat immer deutlicher zum reinen Beziehungsausdruck um. Wenn nicht nur alles Tun, sondern auch alles Erleiden, wenn nicht nur jede Handlung, sondern auch jede Zustandsbestimmung durch die personale Form des verbalen Ausdrucks an das Ich geknüpft und in demselben geeint erscheint – so ist dieses Ich selbst zuletzt nichts anderes mehr, als eben diese ideelle Mitte. Es ist kein eigener vorstellbarer oder anschaulicher Inhalt, sondern, [228] mit Kant zu reden, lediglich dasjenige, „worauf in bezug Vorstellungen synthetische Einheit haben“. In diesem Sinne ist die Vorstellung Ich „die ärmste unter allen“, weil sie alles konkreten Gehalts entleert scheint – aber in dieser Leere an Gehalt schließt sie freilich zugleich eine ganz neue Funktion und eine ganz neue Bedeutung in sich. Für diese Bedeutung besitzt freilich die Sprache keinen adäquaten Ausdruck mehr; denn sie bleibt auch in ihrer höchsten Geistigkeit auf die Sphäre der sinnlichen Anschauung bezogen und kann daher jene „reine intellektuelle Vorstellung“ des Ich, jenes Ich der „transzendentalen Apperzeption“ nicht mehr erreichen. Aber nichtsdestoweniger vermag sie ihr wenigstens mittelbar den Boden zu bereiten, indem sie den Gegensatz des dinglich-objektiven und des subjektiv-persönlichen Seins in ihrem Fortgang immer feiner und schärfer ausprägt und das Verhältnis beider auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Mitteln bestimmt.

3.

Der Streit, ob die Urworte, von denen die Sprache ihren Ausgang nahm, verbale oder nominale Natur besaßen, ob sie Dingbezeichnungen oder Tätigkeitsbezeichnungen gewesen seien, hat die Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie lange Zeit lebhaft bewegt. Schroff und unvermittelt standen sich hier die Meinungen gegenüber – und für jede der beiden Alternativen wurden nicht nur sprachgeschichtliche, sondern allgemein-spekulative Gründe ins Feld geführt. Es schien freilich eine Zeitlang, als sei dieser Streit verstummt, seitdem der Begriff, um den er sich bewegte, selbst problematisch geworden war. Die moderne Sprachwissenschaft hat den Versuch, in die Urzeit zurückzudringen und hier das Geheimnis der Sprachschöpfung unmittelbar zu belauschen, mehr und mehr aufgegeben. Für sie war der Begriff der „Sprachwurzel“ nicht mehr der Begriff von einer realen geschichtlichen Existenz, sondern sie sah in ihm – wie es übrigens schon Humboldt mit seiner gewohnten kritischen Vorsicht getan hatte – nur das Ergebnis der grammatischen Analyse. So verblaßten die angeblichen „Urformen“ der Sprache zu bloßen Gedankenformen, zu Gebilden der Abstraktion. So lange man an eine eigentliche „Wurzelperiode“ der Sprache glaubte, konnte man den Versuch wagen, die Gesamtheit der sprachlichen Bildungen auf eine „beschränkte Anzahl von Matrizen oder Typen“ zurückzuführen – und indem man diese Ansicht mit der Anschauung verband, daß alles Sprechen seinen Ursprung in gemeinschaftlich-verrichteten menschlichen Tätigkeiten habe, ging man weiterhin dazu über, in der sprachlichen Grundgestalt [229] dieser Typen die Spuren dieses Tuns aufzuweisen. In diesem Sinne hat es z. B. Max Müller, nach dem Vorgang Ludwig Noirés, unternommen, die Wurzeln des Sanskrit auf eine bestimmte Zahl von sprachlichen Urbegriffen, auf die Ausdrücke für die einfachsten menschlichen Tätigkeiten, für das Flechten und Weben, für das Nähen und Binden, für das Schneiden und Teilen, das Graben und Stechen, das Brechen und Schlagen zurückzuführen[190]. Versuche dieser Art schienen jedoch ihren Sinn verloren zu haben, seit man den Begriff der Wurzel nicht mehr inhaltlich, sondern formell faßte, – seit man in ihm nicht sowohl das sachliche Element aller Sprachbildung, als vielmehr ein methodisches Element der Sprachwissenschaft erblickte. Und auch dann, wenn man nicht bis zu dieser völligen methodischen Auflösung des Wurzelbegriffs fortschritt – wenn man ein Recht zu der Annahme zu haben glaubte, daß z. B. im Indogermanischen die Wurzeln in einer vor der Flexion liegenden Zeit reale Existenz hatten –, schien man sich jetzt doch jeder Behauptung über ihre wirkliche Form enthalten zu müssen[191]. Nichtsdestoweniger finden sich auch heute in der empirischen Sprachforschung selbst wieder mannigfache Anzeichen dafür, daß das Problem der Beschaffenheit und Struktur der Urwurzeln sich von neuem zu regen beginnt. Und wieder ist es hier die These des verbalen Ursprungs und des verbalen Charakters dieser Wurzeln, die mit besonderem Nachdruck auftritt. Ein französischer Sprachforscher, der diese alte, schon von Panini verteidigte These kürzlich zu erneuern versucht hat, stützt sich für ihre Durchführung, außer auf sprachgeschichtliche Beobachtungen, ausdrücklich auf Erwägungen, die einer anderen Sphäre, die der allgemeinen Metaphysik angehören. Die Sprache muß nach ihm von der Bezeichnung der Verbalbegriffe ihren Ausgang genommen und von hier erst allmählich zu der der Dingbegriffe fortgeschritten sein, weil nur die Tätigkeiten und Veränderungen sinnfällig wahrgenommen werden, weil nur sie als Erscheinungen gegeben sind, während das Ding, das diesen Veränderungen und Tätigkeiten zugrunde liegt, immer nur mittelbar erfaßt, immer nur als ihr Träger erschlossen werden könne. Wie der Weg des Denkens, so müsse der Weg der Sprache vom Bekannten zum Unbekannten, vom Sinnlich-Wahrgenommenen zum bloß Gedachten, vom „Phänomenon“ zum „Noumenon“ gehen: die Bezeichnung des Verbums und der verbalen Eigenschaftsbegriffe [230] müsse daher den Substanzbezeichnungen, den sprachlichen „Substantiven“ notwendig vorangegangen sein[192].

Aber gerade diese μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, diese überraschende Wendung ins Metaphysische, läßt die methodische Schwäche der Problemstellung, die hier zugrunde liegt, klar erkennen. Auf der einen Seite ruht die gesamte Beweisführung auf einer unverkennbaren quaternio terminorum: der Begriff der Substanz, der hier als Mittelbegriff des Schlusses gebraucht wird, tritt in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen auf, indem er das eine Mal im metaphysischen, das andere Mal im empirischen Sinne genommen wird. Der Vordersatz des Schlusses spricht von der Substanz als dem metaphysischen Subjekt der Veränderungen und Eigenschaften, als dem „Ding an sich“, das „hinter“ allen Qualitäten und Akzidenzen liegt – der Schlußsatz spricht von den Nominalbegriffen der Sprache, die, sofern sie zum Ausdruck von Gegenständen dienen, diese natürlich nicht anders denn als „Gegenstände in der Erscheinung“ nehmen können. Die Substanz im ersteren Sinne ist der Ausdruck einer absoluten Wesenheit, die im zweiten Sinne dagegen stets nur der Ausdruck einer relativen, einer empirischen Beharrlichkeit. Wird aber das Problem in diesem letzteren Sinne gefaßt, so verliert der Schluß, der hier gezogen ist, soweit er sich auf erkenntniskritische Gründe stützt, alle Beweiskraft. Denn die Erkenntniskritik lehrt keineswegs, daß der Gedanke der veränderlichen Eigenschaft oder des veränderlichen Zustandes notwendig früher als der des „Dinges“, als einer relativ beharrlichen Einheit, sei: sie zeigt vielmehr, daß sowohl der Begriff des Dinges, wie der der Eigenschaft oder des Zustandes gleich berechtigte und gleich notwendige Bedingungen im Aufbau der Erfahrungswelt sind. Sie unterscheiden sich nicht als Ausdrücke gegebener Wirklichkeiten und gemäß der Ordnung, in der diese Wirklichkeiten, sei es an sich, sei es mit Bezug auf unsere Erkenntnis, aufeinander folgen – sondern als Formen der Auffassung, als Kategorien, die einander wechselseitig bedingen. Der Gesichtspunkt der Beharrung, der Gesichtspunkt des „Dinges“ ist in diesem Sinne weder vor dem der Veränderung noch nach ihm, sondern schlechterdings nur mit ihm, als sein korrelatives Moment, gegeben. Und diese Betrachtungsweise gilt nun auch in umgekehrter Richtung: sie wendet sich nicht minder als gegen die behauptete notwendige Ursprünglichkeit des Verbums und der Verbalbegriffe, auch gegen die psychologischen Beweisgründe, mit denen man statt dessen vielmehr den Primat der rein gegenständlichen [231] Anschauung und der bloßen Nominalbegriffe zu erhärten versucht hat. „Man kann sich unmöglich denken“, – so bemerkt z. B. Wundt – „der Mensch habe irgend einmal bloß in Verbalbegriffen gedacht. Das Umgekehrte, daß er bloß in gegenständlichen Vorstellungen gedacht habe, könnte man nach den psychologischen Eigenschaften viel eher verstehen; und in der Tat finden sich sehr deutliche Spuren eines solchen Zustandes nicht nur in der Sprechweise des Kindes, sondern auch in zahlreichen wirklich existierenden Sprachen, die einen ursprünglicheren Zustand begrifflicher Entwicklung bewahrt haben[193].“ Auch hier gilt indes, daß die Annahme, der Mensch habe jemals in „bloßen“ Nominalbegriffen gedacht, den gleichen prinzipiellen Mangel in sich birgt, wie die entgegengesetzte These, die die Verbalbegriffe als das zeitliche und sachliche Prius ansieht. Wir stehen hier vor einem jener Probleme, die nicht durch ein einfaches Entweder-Oder beantwortet, sondern die nur durch eine grundsätzliche kritische Berichtigung der Fragestellung selbst entschieden werden können. Das Dilemma, das lange Zeit die Sprachforscher in zwei verschiedene Gruppen und Lager schied, ist letztlich ein Dilemma der Methode. Bleibt man auf dem Boden der Abbildtheorie stehen – nimmt man somit an, daß der Zweck der Sprache in nichts anderem liegen könne, als darin, bestimmte in der Vorstellung gegebene Unterschiede äußerlich zu bezeichnen –, so hat die Frage einen guten Sinn, ob es Dinge oder Tätigkeiten, Zustände oder Eigenschaften gewesen seien, die von ihr zuerst hervorgehoben worden seien. Im Grunde aber verbirgt sich in dieser Art der Fragestellung nur der alte Fehler einer unmittelbaren Verdinglichung der geistig-sprachlichen Grundkategorien. Eine Scheidung, die erst „im“ Geiste, d. h. durch die Gesamtheit seiner Funktionen erfolgt, wird als eine substantiell vorhandene und bestehende dem Ganzen dieser Funktionen vorangestellt. Dagegen gewinnt das Problem sofort einen anderen Sinn, wenn man darauf reflektiert, daß „Dinge“ und „Zustände“, „Eigenschaften“ und „Tätigkeiten“ nicht gegebene Inhalte des Bewußtseins, sondern Weisen und Richtungen seiner Formung sind. Dann zeigt sich, daß weder die einen, noch die anderen unmittelbar wahrgenommen und, gemäß dieser Wahrnehmung, sprachlich bezeichnet werden können, sondern daß nur die zunächst undifferenzierte Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke in der Richtung auf die eine oder die andere Denk- und Sprachform bestimmt werden kann. Diese Bestimmung zum Gegenstand oder zur Tätigkeit, nicht die bloße Benennung des Gegenstandes und der Tätigkeit, ist es, die sich, wie in der logischen [232] Arbeit der Erkenntnis, so auch in der geistigen Arbeit der Sprache ausdrückt. Nicht darum handelt es sich daher, ob der Akt der Benennung zuerst Dinge oder Tätigkeiten als an sich seiende Bestimmtheiten der Wirklichkeit ergreift, sondern darum, ob er im Zeichen der einen oder der anderen sprachlich-gedanklichen Kategorie steht, – ob er gleichsam sub specie nominis oder sub specie verbi erfolgt.

Und es läßt sich von Anfang an erwarten, daß dieser Frage gegenüber eine schlechthin einfache apriorische Entscheidung nicht möglich sein wird. Wird die Sprache nicht mehr als das eindeutige Abbild einer eindeutig-gegebenen Wirklichkeit, sondern wird sie als ein Vehikel in jenem großen Prozeß der „Auseinandersetzung“ zwischen Ich und Welt gefaßt, in dem die Grenzen beider sich erst bestimmt abscheiden, so ist ersichtlich, daß diese Aufgabe eine Fülle verschiedenartiger möglicher Lösungen in sich birgt. Denn das Medium, in dem die Vermittlung vor sich geht, besteht ja nicht von Anfang an in fertiger Bestimmtheit, sondern es ist und wirkt nur dadurch, daß es sich selbst gestaltet. Von einem Kategoriensystem der Sprache und von einer Ordnung und Abfolge der sprachlichen Kategorien in zeitlicher oder logischer Hinsicht kann daher nicht in dem Sinne gesprochen werden, daß darunter die Aufstellung einer Anzahl fester Formen verstanden wird, in denen, wie in einem vorgeschriebenen Geleise, alle Sprachentwicklung ein für allemal verläuft. Wie in der erkenntniskritischen Betrachtung, so kann vielmehr auch hier jede einzelne Kategorie, die wir aussondern und gegen die anderen abheben, immer nur als ein einzelnes Motiv gefaßt und beurteilt werden, das sich, je nach den Beziehungen, in die es zu anderen Motiven tritt, zu sehr verschiedenen konkreten Einzelgestaltungen entfalten kann. Aus dem Ineinander dieser Motive und aus dem verschiedenen Verhältnis, in das sie zueinander treten, ergibt sich die „Form“ der Sprache, die jedoch nicht sowohl als Seinsform, als vielmehr als Bewegungsform, nicht als statische, sondern als dynamische Form zu fassen ist. Es gibt hier demnach keine absoluten, sondern immer nur relative Gegensätze – Gegensätze des Sinnes und der Richtung der Auffassung. Der Nachdruck kann bald auf das eine, bald auf das andere Moment fallen, die dynamischen Akzente zwischen Ding- und Eigenschafts-, Zustands- und Tätigkeitsbegriffen können in der mannigfachsten Weise verteilt werden und erst in diesem Hin und Wieder, in dieser gewissermaßen oszillierenden Bewegung besteht der besondere Charakter jeder sprachlichen Form als schöpferischer Form. Je schärfer man diesen Prozeß in der Besonderung aufzufassen versucht, die er in den Einzelsprachen erfährt, um so deutlicher wird, daß hier die einzelnen [233] Wortklassen, die unsere grammatische Analyse zu unterscheiden pflegt, daß das Substantiv, das Adjektiv, das Pronomen, das Verbum, nicht von Anfang an vorhanden sind und gleich festen substantiellen Einheiten gegeneinander wirken, sondern daß sie sich gleichsam gegenseitig hervortreiben und gegeneinander abgrenzen. Die Bezeichnung entwickelt sich nicht am fertigen Gegenstand, sondern der Fortschritt des Zeichens und die dadurch erreichte immer schärfere „Distinktion“ der Bewußtseinsinhalte ist es, wodurch sich für uns immer klarere Umrisse der Welt, als eines Inbegriffs von „Gegenständen“ und „Eigenschaften“, von „Veränderungen“ und „Tätigkeiten“, von „Personen“ und „Sachen“, von örtlichen und zeitlichen Beziehungen ergibt.

Ist somit der Weg, den die Sprache geht, der Weg zur Bestimmung, so ist zu erwarten, daß diese sich allmählich und stetig aus einem Stadium relativer Unbestimmtheit herausarbeiten und gestalten wird. Die Sprachgeschichte bestätigt diese Vermutung durchaus: denn sie zeigt, daß wir, je weiter wir in der Entwicklung der Sprache zurückgehen können, mehr und mehr zu einer Phase hingeführt werden, in der die Redeteile, die wir in den ausgebildeten Sprachen unterscheiden, sich weder formell noch inhaltlich voneinander abgesondert haben. Ein und dasselbe Wort kann hier grammatisch sehr verschiedene Funktionen erfüllen, kann je nach den besonderen Bedingungen, unter denen es auftritt, als Präposition oder als selbständiges Nomen, als Verbum oder als Substantivum gebraucht werden. Insbesondere bildet die Indifferenz von Nomen und Verbum die durchgehende Regel, die den Bau der Mehrzahl der Sprachen bestimmt. Man hat gelegentlich gesagt, daß zwar die ganze Sprache in den beiden Kategorien des Nomens und des Verbums aufgehe, daß aber andererseits die wenigsten Sprachen ein Verbum in unserem Sinne kennen. Zu einer wirklich scharfen Scheidung beider Formklassen scheinen fast ausschließlich die Sprachen des indogermanischen und des semitischen Kreises gelangt zu sein – und selbst in ihnen finden sich in der Satzgestaltung noch fließende Übergänge zwischen der Form der Nominal- und der Verbalsätze[194]. Humboldt bezeichnet es als ein Charakteristikum des malayischen Sprachstammes, daß in ihm die Grenzen zwischen dem nominalen [234] und verbalen Ausdruck so weit verwischt würden, daß man hier gleichsam ein Gefühl der Abwesenheit des Verbums habe. Ebenso betont er z. B. für eine Sprache, wie das Barmanische, daß sie aller formalen Bezeichnungen für die Verbalfunktion völlig ermangele, so daß in den Sprechenden selbst offenbar keinerlei lebendiges Durchdringen des Gefühls der wahren Kraft des Verbums vorhanden sei[195]. Was hier noch als eine Art Anomalie der Sprachbildung betrachtet zu werden scheint, – das hat sodann die weitere Ausdehnung der Sprachvergleichung als eine allgemein verbreitete Erscheinung aufgewiesen. Immer wieder begegnet statt der scharfen Trennung des Verbums vom Nomen eine mittlere, eine gleichsam amorphe Form[196]. Dies tritt auch darin deutlich zutage, daß die Grenzen der grammatisch-formellen Behandlung der Ding- und Tätigkeitsausdrücke sich erst ganz allmählich gegeneinander abscheiden. „Konjugation“ und „Deklination“ fließen in ihrer sprachlichen Gestaltung zunächst noch vielfach ineinander über. Überall dort, wo die Sprache den Typus der „possessiven Konjugation“ befolgt, ist schon dadurch ein völliger Parallelismus zwischen dem nominalen und dem verbalen Ausdruck gegeben[197]. Ähnliche Beziehungen finden sich zwischen den Tätigkeits- und den Eigenschaftsbezeichnungen: ein und dasselbe System der Abwandlung kann ebenso wie die Verba auch die Adjektiva umfassen[198]. Selbst komplexe [235] sprachliche Gebilde, selbst ganze Sätze können bisweilen in dieser Art „konjugiert“ werden[199]. Wenn wir geneigt sind, derartige Erscheinungen als Beweise der „Formlosigkeit“ einer Sprache aufzufassen, so sollten wir sie vielmehr als Belege des charakteristischen „Werdens zur Form“ betrachten. Denn gerade in der Unbestimmtheit, die der Sprache hier noch anhaftet, in der mangelnden Ausbildung und Trennung ihrer einzelnen Kategorien, liegt vielmehr ein Moment ihrer eigenen Bildsamkeit und ihrer wesentlichen inneren Bildungskraft. Der bestimmungslose Ausdruck enthält noch alle Möglichkeiten der Bestimmung in sich und überläßt es gleichsam der weiteren Entwicklung der besonderen Sprachen, für welche dieser Möglichkeiten sich jede von ihnen entscheiden will.

Ein allgemeines Schema dieser Entwicklung aufstellen zu wollen, scheint freilich ein vergebliches Bemühen, denn gerade darin, daß jede Sprache im Aufbau ihres Kategoriensystems verschieden verfährt, liegt der konkrete Reichtum dieser Entwicklung beschlossen. Nichtsdestoweniger läßt sich diese konkrete Fülle der Ausdrucksformen, ohne ihr Gewalt anzutun, auf gewisse Grundtypen beziehen und um sie gruppieren. Einzelnen Sprachen und Sprachgruppen, die den nominalen Typus in voller Reinheit und Strenge ausgebildet haben, in denen somit der gesamte Aufbau der Anschauungswelt durch die gegenständliche Anschauung beherrscht und geleitet erscheint, stehen andere gegenüber, in denen der grammatische und syntaktische Bau durch das Verbum bestimmt und dirigiert wird. Und auch im letzteren Falle ergeben sich wieder zwei verschiedene Formen sprachlicher Gestaltung, je nachdem der verbale Ausdruck als bloßer Vorgangsausdruck oder als reiner Tätigkeitsausdruck gefaßt wird, je nachdem er sich in den Verlauf des objektiven Geschehens versenkt oder das handelnde Subjekt und seine Energie heraushebt und in den Mittelpunkt rückt. Was den ersten, streng nominalen Typus betrifft, so hat er eine scharfe und deutliche Ausprägung vor allem in den Sprachen des altaischen Kreises erfahren. Hier ist der gesamte Satzbau derart gegliedert, daß sich ein gegenständlicher Ausdruck einfach an den anderen reiht und sich attributiv mit ihm verknüpft, wobei jedoch dieses einfache Prinzip der Gliederung, indem es streng und allseitig durchgeführt wird, eine Fülle höchst komplexer Bestimmungen zur klaren und in sich geschlossenen Darstellung bringen kann. „Ich stehe nicht an“ – so urteilt [236] z. B. H. Winkler über dieses Prinzip, das er an der Struktur des japanischen Verbums veranschaulicht –, „es einen ganz wunderbaren Bau zu nennen. Die Mannigfaltigkeit der Beziehungen aller Art, der feinsten und minutiösesten Schattierungen, die hierbei in kürzester Form zum sprechenden Ausdruck gelangen, ist unerschöpflich: was wir in unseren Sprachen durch zahlreiche Umschreibungen, durch Nebensätze aller Art, relative wie konjunktionale, ausdrücken, wird hier durch einen einzigen Ausdruck oder durch ein einziges regierendes Vollnomen mit einem davon abhängigen anderen Verbalnomen klar wiedergegeben; ein solches Verbalnomen stellt in voller Klarheit nach unserer Auffassung einen Hauptsatz mit zwei, drei Nebensätzen dar, wobei überdies jedes der drei, vier Glieder die mannigfachsten Beziehungen und feinsten Unterschiede der Zeit, des Aktiven oder Passiven, Kausativen, Kontinuativen, kurz der allerverschiedensten Modifikationen der Handlung in sich fassen kann … Und das alles vollzieht sich großenteils unter Verzicht auf die meisten uns geläufigen und unentbehrlich scheinenden Formelemente. Es ist somit das Japanische in unserem Sinne eine formlose Sprache par excellence, womit also in keiner Weise ein Präjudiz bezüglich der Wertung dieser Sprache gegeben werden soll, wohl aber die gewaltige Divergenz des Baues angedeutet[200].“ Diese Divergenz liegt wesentlich darin, daß hier das Gefühl für die begriffliche Nuancierung der Handlung zwar keineswegs fehlt, daß es sich aber sprachlich nur soweit ausdrücken kann, als der Ausdruck der Handlung sich gleichsam um den Gegenstandsausdruck herumrankt und in ihn als nähere Bestimmung eingeht. Den Mittelpunkt der Bezeichnung bildet die Existenz des Dinges – und an sie bleibt aller Ausdruck von Eigenschaften, von Beziehungen und Tätigkeiten angelehnt. Es ist daher eine im eigentlichen Sinne „substantielle“ Auffassung, die wir in dieser Bildung der Sprache vor uns haben. Im japanischen Verbum findet sich sehr häufig eine reine Existenzaussage, wo wir nach unseren Denkgewohnheiten eine prädikative Aussage erwarten würden. Statt eine Verknüpfung zwischen Subjekt und Prädikat auszusagen, wird das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Subjekts oder Prädikats, seine Tatsächlichkeit oder Nicht-Tatsächlichkeit, betont und herausgestellt. Von dieser ersten Festsetzung des Seins oder Nicht-Seins nehmen alle weiteren Bestimmungen des „Was“, des Wirkens und Leidens u. s. f. ihren Ausgang[201]. Am prägnantesten tritt dies in der negativen Wendung heraus, in [237] der selbst das Nichtsein noch gleichsam substantiell gefaßt wird. Die Verneinung einer Handlung lautet derart, daß vielmehr das Nicht-Sein derselben positiv festgestellt wird: es gibt nicht in unserem Sinne ein „nicht Kommen“, sondern nur ein Nichtsein, Nichtvorhandensein des Kommens. Dabei ist der Ausdruck dieses Nichtseins selbst so gefügt, daß er eigentlich „das Sein des Nicht“ besagt. Und wie hier die Relation der Verneinung sich in einen substantiellen Ausdruck wandelt, so gilt das gleiche für die anderen Beziehungsausdrücke. Im Jakutischen wird das Besitzverhältnis derart wiedergegeben, daß von dem besessenen Gegenstand die Existenz oder Nicht-Existenz ausgesagt wird: eine Wendung wie „mein Haus vorhanden“ oder „mein Haus nicht vorhanden“, drückt aus, daß ich ein Haus besitze oder nicht besitze[202]. Auch die Zahlausdrücke sind vielfach so gestaltet, daß die Zahlbestimmung gleich einem selbständigen gegenständlichen Sein erscheint – daß also statt viele oder alle Menschen ‚Mensch der Vielheit‘ oder der Allheit, statt fünf Menschen eigentlich Mensch der Fünfheit, der 5 Stück, der Fünferleiheit u. s. f. gesagt wird[203]. Die modalen oder temporalen Bestimmungen des Verbalnomens werden in der gleichen Weise zum Ausdruck gebracht. Ein substantivischer Ausdruck, wie das Bevorstehen, bezeichnet, indem er attributiv mit dem Verbalnomen verknüpft wird, daß die in ihm bezeichnete Handlung als zukünftig betrachtet wird, das Verbum also im futurischen Sinne zu nehmen ist[204] – ein substantivischer Ausdruck wie Verlangen dient dazu, die sogen. Desiderativform des Verbs zu bilden u. s. f. Auch sonstige modale Nuancen, wie die des Konditionalen, des Konzessiven werden nach dem gleichen Prinzip bezeichnet[205]. Es sind lauter einzelne Seinsbestimmungen, es sind selbständige gegenständliche [238] Fügungen, die die Sprache hier ausprägt, um durch ihr einfaches Nebeneinander die Fülle der möglichen gedanklichen Verknüpfungen und Verknüpfungsformen zur mittelbaren Darstellung zu bringen.

Eine ganz andere geistige Grundauffassung tritt uns dort entgegen, wo die Sprache zwar gleichfalls noch in der ursprünglichen Indifferenz des Nomen-Verbums verharrt, wo sie aber die indifferente Grundform im entgegengesetzten Sinne verwendet und akzentuiert. Wenn in den eben betrachteten Fällen alle sprachliche Bestimmung vom Gegenstand ihren Ausgang nahm, so gibt es andere Sprachen, die ebenso scharf und prägnant die Bezeichnung und Bestimmung des Vorgangs zum Ausgangspunkt nehmen. Wie dort das Nomen, so erscheint hier das Verbum, sofern es reiner Vorgangsausdruck ist, als der eigentliche Mittelpunkt der Sprache: wie dort alle Verhältnisse, auch die des Geschehens und Tuns, sich in Seinsverhältnisse umsetzen, so setzen sich hier umgekehrt auch diese letzteren in Geschehensverhältnisse und Geschehensausdrücke um. In dem einen Falle wird die Form des dynamischen Werdens gleichsam in die des ruhenden statischen Daseins hineingezogen – im anderen wird auch das Dasein nur insofern erfaßt, als es zum Werden in Beziehung steht. Aber diese Form des Werdens hat sich mit der reinen Ichform noch nicht durchdrungen, und sie besitzt daher, bei all ihrer Lebendigkeit selbst noch eine überwiegend objektive, eine unpersönliche Gestalt. Insofern stehen wir auch hier noch in der dinglichen Sphäre – aber das Zentrum derselben hat sich verschoben. Der Nachdruck der sprachlichen Bezeichnung liegt nicht sowohl auf der Existenz, als auf der Veränderung. Zeigte es sich in den früher betrachteten Fällen, daß das Substantivum als Gegenstandsausdruck den Gesamtbau der Sprache beherrschte – so werden wir jetzt erwarten dürfen, das Verbum als Veränderungsausdruck als den eigentlichen Kraftmittelpunkt zu finden. Wie die Sprache dort bemüht war, alle noch so komplexen Beziehungen in die substantivische Form umzuprägen – so wird sie hier alle diese Beziehungen in die Form des verbalen Geschehensausdrucks zusammenzufassen und gleichsam einzufangen versuchen. Eine derartige Gesamtauffassung scheint den meisten Indianersprachen zugrunde zu liegen – und man hat versucht, sie aus den Strukturelementen des indianischen Geistes psychologisch zu erklären[206]. Wie immer man sich indes zu diesem Erklärungsversuch stellen mag, so zeigt jedenfalls schon der reine Bestand dieser Sprachen eine ganz eigene Methodik der Sprachgestaltung. Die allgemeinen Umrisse derselben sind [239] am schärfsten von Humboldt in seiner Darstellung des Einverleibungsverfahrens der mexikanischen Sprache gezeichnet worden. Der Kern dieses Verfahrens besteht bekanntlich darin, daß die Beziehungen, die andere Sprachen im Satz und in der analytischen Gliederung des Satzes zum Ausdruck bringen, hier synthetisch in ein einziges Sprachgefüge, in ein komplexes „Satzwort“ zusammengezogen werden. Den Mittelpunkt dieses Satzwortes bildet der Ausdruck der verbalen Handlung, dem sich aber die mannigfachsten modifizierenden Bestimmungen in reicher Fülle anschließen. Die regierenden und regierten Teile des Verbs, insbesondere die Bezeichnungen für sein näheres oder entfernteres Objekt werden dem Verbalausdruck selbst als notwendiges Komplement eingefügt. „Der Satz“ – so bemerkt Humboldt – „soll, seiner Form nach, schon im Verbum abgeschlossen erscheinen und wird nur nachher, gleichsam durch Apposition näher bestimmt. Das Verbum läßt sich gar nicht ohne diese vervollständigenden Nebenbestimmungen nach Mexikanischer Vorstellungsweise denken. Wenn daher kein bestimmtes Objekt dasteht, so verbindet die Sprache mit dem Verbum ein eigenes, in doppelter Form für Personen und Sachen gebrauchtes unbestimmtes Pronomen: 1
ni
-2
tla
-3
qua
, 1
ich
3
esse
2
etwas
, 1
ni
-2
te
-3
tla
-4
maca
, 1
ich
4
gebe
2
jemandem
3
etwas
…“ Die Einverleibungsmethode drängt somit entweder den Gesamtinhalt der Aussage in einen einzigen Verbalausdruck zusammen, oder sie läßt, wenn dies, bei allzu komplexen Aussagen, nicht möglich ist, aus dem verbalen Mittelpunkte des Satzes „Kennzeichen gleichsam wie Spitzen ausgehen, um die Richtungen anzuzeigen, in welchen die einzelnen Teile, ihrem Verhältnis zum Satze gemäß, gesucht werden müssen“. Auch dort, wo das Verbum nicht den vollständigen Inhalt der Aussage in sich faßt, enthält es daher doch stets das allgemeine Schema der Salzkonstruktion: der Satz soll nicht konstruiert, nicht aus seinen verschiedenartigen Elementen allmählich aufgebaut, sondern als zur Einheit geprägte Form, auf einmal hingegeben werden. Die Sprache stellt zuerst ein verbundenes Ganze hin, das formal vollständig und genügend ist: sie bezeichnet ausdrücklich das noch nicht individuell Bestimmte als ein unbestimmtes Etwas durch ein Pronomen, malt aber nachher dies unbestimmt Gebliebene einzeln aus[207].

Spätere Untersuchungen amerikanischer Sprachen haben das Gesamtbild, das Humboldt hier von dem Einverleibungsverfahren entwirft, in manchen Zügen modifiziert; sie haben gezeigt, daß dieses Verfahren sich in den Einzelsprachen, was die Art, den Grad und die Ausdehnung der [240] Einverleibung betrifft, sehr verschieden gestalten kann[208] – aber die allgemeine Charakteristik der eigentümlichen Denkart, die ihm zugrunde liegt, wird durch solche Feststellungen nicht wesentlich geändert. Man könnte, mit einem mathematischen Bilde, die Methode, die die Sprache hier einschlägt, der Aufstellung einer Formel vergleichen, in der die allgemeinen Verhältnisse von Größen bezeichnet, die besonderen Größenwerte aber unbestimmt gelassen werden. Die Formel gibt zunächst lediglich die allgemeine Verknüpfungsweise, die funktionale Beziehung, die zwischen gewissen Größenarten besteht, in einem einheitlichen zusammenfassenden Ausdruck wieder: zu ihrer Anwendung im einzelnen Falle ist aber erforderlich, daß die in ihr auftretenden unbestimmten Größen x, y, z durch bestimmte Größen ersetzt werden. So wird auch hier im verbalen Satzwort die Form der Aussage gleich anfangs vollständig entworfen und vorweggenommen – und sie erfährt nur dadurch eine materiale Ergänzung, daß die unbestimmten Pronomina, die in das Satzwort eingehen, durch nachträglich hinzugefügte sprachliche Bestimmungen in ihrer Bedeutung näher determiniert werden. Das Verbum als Vorgangsbezeichnung strebt danach, das lebendige Ganze des im Satz ausgedrückten Sinnes in sich zu vereinen und zu konzentrieren; aber je weiter es in dieser Leistung fortschreitet, umsomehr besteht freilich die Gefahr, daß es von der Fülle des immer neu hinzudrängenden Stoffes, den es zu meistern hat, selbst überwältigt wird und in diesem Stoff gleichsam versinkt. Um den verbalen Kern der Aussage spinnt sich jetzt ein so dichtes Netz modifizierender Bestimmungen, die die Art und Weise der Handlung, ihre örtlichen und zeitlichen Nebenumstände, ihr näheres oder entfernteres Objekt angeben, daß es schwer fällt, den Gehalt der Aussage selbst aus dieser Verschlingung herauszulösen und ihn als selbständigen Bedeutungsgehalt zu erfassen. Der Ausdruck der Handlung erscheint hier niemals als generischer, sondern als individuell-determinierter, durch besondere Partikel gekennzeichneter und mit ihnen untrennbar behafteter Ausdruck[209]. Wenn durch die Fülle dieser Partikel die Handlung oder der [241] Vorgang einerseits zwar als konkret-anschauliches Ganze erfaßt wird – so gelangt doch andererseits darin die Einheit des Geschehens und insbesondere die Einheit des Subjekts des Tuns nicht zur scharfen sprachlichen Auszeichnung und Abhebung[210]. Das volle Licht der Sprache trifft gleichsam nur den Inhalt des Geschehens selbst – nicht das Ich, das an ihm tätig beteiligt ist. Dies zeigt sich auch darin, daß z. B. in den meisten Indianersprachen die Flexion des Verbums nicht durch das Subjekt, sondern durch das Objekt der Handlung beherrscht wird. Das transitive Verbum wird seinem Numerus nach nicht durch das Subjekt, sondern durch das direkte Objekt bestimmt: es muß in der Pluralform stehen, wenn es sich auf eine Mehrheit von Gegenständen, auf die gewirkt wird, bezieht. So wird hier das grammatische Objekt des Satzes zu seinem logischen Subjekt, welches das Verbum regiert[211]. Die Gestaltung des Satzes und die gesamte Gestaltung der Sprache nimmt vom Verbum ihren Ausgang, aber dieses selbst verharrt in der Sphäre der objektiven Anschauung: der Eintritt und der Ablauf des Ereignisses, nicht die Energie des Subjekts, die sich in der Handlung bekundet, ist das, was die Sprache als das wesentliche Moment heraushebt und zur Darstellung bringt.

Eine Änderung dieser Grundanschauung stellt sich uns erst in denjenigen Sprachen dar, die zu einer rein personalen Gestaltung der verbalen Handlung übergegangen sind, bei denen also die Konjugation ihrem Grundtypus nach nicht in einer Verbindung des Verbalnomens mit possessiven Suffixen, sondern in einer synthetischen Verknüpfung des verbalen Ausdrucks mit dem Ausdruck für die persönlichen Fürwörter [242] besteht. Was diese Synthese von dem Verfahren der sogen. „polysynthetischen“ Sprachen unterscheidet, ist dies, daß sie sich auf eine vorangegangene Analyse stützt. Die Verknüpfung, die sich hier vollzieht, ist keine bloße Verschmelzung, kein Ineinanderlaufen der Gegensätze – sondern sie setzt eben diese Gegensätze selbst und deren scharfe Auseinanderhaltung und Sonderung voraus. Mit der Entwicklung der persönlichen Fürwörter hat sich das Gebiet des subjektiven Seins von dem des objektiven im sprachlichen Ausdruck klar geschieden – und doch fassen sich eben die Ausdrücke für das subjektive Sein mit denen für das objektive Geschehen in der Flexion des Verbums wieder zu einer neuen Einheit zusammen. Wo immer man in dieser Zusammenfassung die wesentliche und spezifische Natur des Verbums ausgedrückt findet – da muß man daher folgerecht schließen, daß diese Natur sich erst in der Verknüpfung des verbalen Elements mit den Ausdrücken für das persönliche Sein vollende. „Denn das aktuale Sein, welches in der grammatischen Vorstellung das Verbum charakterisiert,“ – sagt Humboldt – „läßt sich nicht leicht an sich ausdrücken, sondern verkündigt sich nur dadurch, daß es ein Sein auf eine bestimmte Weise in einer bestimmten Zeit und Person ist und daß der Ausdruck dieser Beschaffenheit unzertrennlich in das Grundwort verwebt ist, zum sicheren Zeichen, daß dasselbe nur mit ihnen gedacht und gleichsam in sie versetzt werden soll. Seine (des Verbums) Natur ist gerade diese Beweglichkeit, liegt in der Unmöglichkeit anders, als in einem einzelnen Fall fixiert zu werden.“[212][WS 6] Dennoch gehört sowohl die zeitliche wie die persönliche Bestimmung, die temporale wie die personale Fixierung des Verbalausdrucks, nicht zu seinem anfänglichen Grundbestand, sondern beide bezeichnen ein Ziel, das in der sprachlichen Entwicklung erst relativ spät erreicht wird. Für die Zeitbestimmung hat sich dies bereits ergeben[213] – für die Beziehung auf das Ich kann man sich die allmählichen Übergänge, die hier stattfinden, verdeutlichen, wenn man die Art betrachtet, in der einzelne Sprachen die Sphäre des „transitiven“ Verbalausdrucks von der des „intransitiven“ Ausdrucks, auch durch rein lautliche Mittel, unterscheiden. So wird z. B. in verschiedenen semitischen Sprachen das intransitive oder halbpassive Verbum, welches nicht eine rein tätige Handlung, sondern einen Zustand und ein Leiden ausdrückt, durch eine andere Vokalaussprache bezeichnet. Im Äthiopischen ist, nach Dillmann, diese Unterscheidung der intransitiven Verba durch die Aussprache ganz lebendig geblieben: alle Verba, welche Eigenschaften, leibliche oder geistige [243] Bestimmtheiten, Leidenschaften oder unfreie Tätigkeiten bezeichnen, werden anders ausgesprochen, als diejenigen, in denen eine reine und selbständige Aktivität des Ich bezeichnet werden soll[214]. Die lautliche Symbolik dient hier dem Ausdruck jenes grundlegenden geistigen Prozesses, der in der Sprachbildung immer deutlicher heraustritt – sie zeigt, wie das Ich sich im Gegenbild der verbalen Handlung erfaßt und wie es in der immer schärferen Herausarbeitung und Differenzierung derselben auch sich selbst erst wahrhaft findet und sich in seiner Sonderstellung begreift.




  1. [1] „Begreifen geht, wie das einfache greifen, ursprünglich bloß auf die Berührung mit Händen und Füßen, Fingern und Zehen“ (Grimm, Dtsch. Wörterbuch I, Sp. 1307). – Über den räumlichen Grundsinn des Ausdrucks „erörtern“ vgl. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken betr. die Ausübung u. Verbesserung der teutschen Sprache § 54; s. auch Nouv. Essais III, Kap. 1.
  2. [1] S. z. B. Boas über das Kwakiutl: „The rigidity with which location in relation to the speaker is expressed, both in nouns and verbs, is one of the fundamental features of the language“ (Handb. of Amer. Ind. Lang. I, 445); ganz ebenso urteilt Gatschet, Gramm. of the Klamath language, s. bes. S. 396 ff. 433 f., 460.
  3. [2] Crawfurd, History of the Indian Archipelago II, S. 9, vgl. Codrington, Melanesian languages S. 164 f.: Everything and everybody spoken of are viewed as coming or going or in some relation of place, in a way which to the European is by no means accustomed ore natural.“
  4. [3] Vgl. hrz. Boas, Handbook, S. 43 ff.; 446.
  5. [4] Beispiele hierfür bei Westermann, Die Sudansprachen, S. 72; Die Gola-Sprache in Liberia, Hamburg 1921, S. 62 u. a.
  6. [1] Krit. d. r. Vern., 2. Aufl., S. 177 ff.
  7. [1] Näheres bei Wundt, Völkerpsychologie ² I, 333 ff. und bei Clara und William Stern, Die Kindersprache, S. 300 ff.
  8. [2] S. Brugmann, Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen (Abh. der [151] Kgl. Sächs. Gesellsch. der Wissensch.; Philol.-histor. Klasse XXII). Lpz. 1904; vgl. auch Brugmanns Grundriß II, 2, S. 302 ff. –
  9. [1] S. ob. S. 127.
  10. [2] So in der Sprache von Tahiti, s. Humboldt, Kawi-Werk II, 153; für die afrikanischen Sprachen vgl. z. B. die Nama-Sprache und die Mande-Negersprachen s. Meinhof, Lehrb. der Nama-Sprache, S. 61, Steinthal, Mande-Negersprachen, S. 82; für die amerikanischen Eingeborenensprachen vgl. das Klamath (Gatschet, Klamath language, S. 538).
  11. [3] Diese Übereinstimmung tritt besonders deutlich hervor, wenn man den Angaben Brugmanns für das Indogermanische (s. ob. S. 150 Anm. 2) die Angaben Brockelmanns und Dillmanns für den semitischen Sprachkreis gegenüberstellt (s. Brockelmann, Grundriß I, 316 ff. und Dillmann, Äthiop. Grammat. S. 94 ff.); für die ural-altaischen Sprachen vgl. bes. H. Winkler, Das Uralaltaische und seine Gruppen, S. 26 ff.
  12. [1] Der Unterschied in der Bezeichnung eines sichtbaren und unsichtbaren Objekts ist in besonderer Schärfe in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen ausgeprägt (vgl. bes. die Angaben über das Kwakiutl, die Ponca- und die Eskimosprache bei Boas, Handbook S. 41 f., 445 ff., 945 ff. und Gatschet, Klamath language, S. 538). Die Bantusprachen besitzen die Demonstrativa in drei verschiedenen Formen: die eine gibt an, daß das Gezeigte dicht bei dem Redenden ist, die andere, daß es bereits bekannt, also in den Gesichts- und Gedankenkreis des Redenden schon eingetreten ist; die dritte, daß es vom Redenden sehr weit entfernt oder gar nicht zu sehen ist (Meinhof, Bantugrammat., S. 39 f.). Für die Südseesprachen vgl. z. B. Humboldts Angaben über das Tagalische (W. VI, 1, 312 f.)
  13. [1] Krit. d. rein. Vernunft, 2. Aufl., S. 277 f.
  14. [2] Vgl. Brugmann, Grundriß ² II, 2, 475, wonach das Nominativ-s mit dem Demonstrativpronomen *so (ai: sa) identisch ist und das -m des Neutrums wahrscheinlich gleichfalls auf eine ferndeiktische Partikel zurückgeht.
  15. [1] Vgl. hrz. bes. den Abschnitt „vom Artikel“ in Grimms Deutscher Grammatik (I, 366 ff.); zum Slawischen s. Miklosich, Vgl. Grammat. der slawischen Sprachen, ² IV, 125.
  16. [2] S. Dillmann, Grammatik der äthiop. Sprache, S. 333 ff., Brockelmann, Grundriß I, 466.
  17. [3] Vgl. Brugmann, Grundriß ² II, 2, 315.
  18. [4] Näheres bei Westermann, Grammat. der Ewe-Sprache, S. 61.
  19. [1] S. Codrington, Melanes. languages, S. 108 ff.; vgl. bes. Brandstetter, Der Artikel des Indonesischen verglichen mit dem des Indogermanischen, Lpz. 1913.
  20. [2] Boas und Swanton, Siouan (Handb. of Americ. Ind. lang. I, 939 ff.).
  21. [3] Näheres hierüber bei Maria v. Tiling, Die Vokale des bestimmten Artikels im Somali, Zeitschr. für Kolonialsprachen IX, 132 ff.
  22. [1] Steinthal, Mande-Negersprachen, S. 245 ff.
  23. [2] S. Westermann, Sudansprachen, S. 53 ff.; Gola-Sprache, S. 36 f.; Reinisch, Die Nuba-Sprache, Wien 1879, S. 123 ff.; für die Südseesprachen vgl. H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 158, 230 ff., Sidney H. Ray, The Melanesian Possessives and a Study in Method (Americ. Anthropologist XXI, 352 ff.).
  24. [3] Im Ägyptischen, das eigentliche Präpositionen entwickelt hat, zeigt sich der ursprünglich nominale Charakter derselben noch deutlich darin, daß sie mit Possessivsuffixen verbunden werden; die Analyse dieser „Präpositionen“ führt auch hier vielfach unmittelbar auf die Namen von Körperteilen zurück. (Vgl. Erman, Ägypt. Grammat. ³, Berlin 1911, S. 231, 238 f.; Steindorff, Koptische Grammatik ², Berlin 1904, S. 173 ff. Für den ursprünglich nominalen Charakter der semitischen Präpositionen vgl. bes. Brockelmann, Grundriß I, 494 ff.
  25. [4] Eine große Fülle solcher teils spezieller, teils allgemeiner „Lokalsubstantiva“ hat z. B. das Ewe entwickelt; vgl. Westermanns Ewe-Grammatik, S. 52 ff.
  26. [1] Beispiele aus dem Jakutischen bei Boethlingk, a. a. O. S. 391; aus dem Japanischen bei Hoffmann, Japanische Sprachlehre, Leiden 1877, S. 188 ff., 197 ff.; s. auch Heinrich Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, Berlin 1909, S. 147 ff.
  27. [2] S. hrz. G. Curtius, Das Verbum in der griechischen Sprache ² I, 136.
  28. [3] Näheres bei Miklosich, Vergl. Grammat. der slaw. Sprachen, ² IV, 196. Auch in anderen flektierenden Sprachen, z. B. in den semitischen Sprachen, sind solche Neubildungen häufig; vgl. z. B. die Liste der „neuen Präpositionen“, die sich im Semitischen aus den Namen von Körperteilen entwickelt haben, in Brockelmanns Grundriß II, 421 ff.
  29. [4] Näheres hierüber bei Brugmann, Grundriß ² II, 464 ff., 473, 518 u. s. w., bei Delbrück, Vergl. Syntax der indogerman. Spr. I, 188.
  30. [1] S. hrz. Whitney, General considerations on the European case-system, Transact. of the Americ. Philol. Assoc. XIII (1888), S. 88 ff.
  31. [2] Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, Straßb. 1901, S. 130 ff.
  32. [3] Wundt, a. a. O., II, 79 ff.
  33. [1] Vergl. hrz. die Darstellung der indogerman. Kasuslehre bei Delbrück, Vergl. Syntax I, 181 ff.
  34. [2] Zur „Kasusbildung“ der amerikanischen Sprachen s. z. B. die Zusammenstellung aus der Eskimosprache, die Thalbitzer (in Boas’ Handbook I, 1017 ff.) gibt: hier wird u. and. ein Allativ, Lokativ, Ablativ, Prosekutiv unterschieden. Gatschets Grammatik der Klamath-Sprache unterscheidet einen „Inessiv“ und „Adessiv“, einen „Direktiv“ und „Prosekutiv“ sowie eine Fülle anderer Bestimmungen, deren jede durch eine besondere örtliche Kasusendung zum Ausdruck kommt (a. a. O., S. 479 ff., 489).
  35. [3] S. hrz. bes. das sehr reichhaltige Material bei H. Winkler, Das Uralaltaische und seine Gruppen (bes. S. 10 ff) und den Abschnitt „Indogermanische und uralaltaische [161] Kasus“ in Uralaltaische Völker und Sprachen, Berlin 1884, S. 171 ff., vgl. auch Grunzel, Vergl. Grammat. der altaischen Sprachen, S. 49 ff.
  36. [1] Fr. Müller, Grundriß II, 2, 204.
  37. [2] Humboldt, Kawi-Werk II, 164 ff., 341 u. ö.
  38. [1] Für die melanesischen Sprachen vgl. Codrington, Melanes. languages S. 158.
  39. [2] S. hrz. bes. die Beispiele aus dem Athapaskischen bei Goddard, aus dem Haida bei Swanton, aus dem Tsimshian bei Boas (Handbook of Americ. Ind. lang. I, 112 ff., 244 ff., 300 ff.).
  40. [3] Beispiele hierfür finden sich insbesondere bei Humboldt, der auf diesen Unterschied der Ausdrucksformen zuerst hingewiesen hat (Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen W. VI, 1, 311 ff.); vgl. auch Fr. Müller, Reise der österr. Fregatte Novara III, 312.
  41. [1] S. z. B. eine Liste solcher Suffixe im Nikobar bei P. W. Schmidt, Die Mon-Khmer-Völker ein Bindeglied zwischen Völkern Zentralasiens und Austronesiens, Braunschweig 1906, S. 57.
  42. [2] Ein Satz, wie „er arbeitet auf dem Felde“ erhält also in diesen Sprachen durch Anwendung des „Lokal- und Ruheverbums“, das das „Sein an einem Orte“ ausdrückt, etwa die Form: „er arbeitet, ist des Feldes Innerem“; ein Satz, wie ‚die Kinder spielen auf der Straße‘ lautet, wörtlich übersetzt, ‚die Kinder spielen, sind der Straße Fläche‘, s. Westermann, Die Sudansprachen, S. 51 ff.
  43. [3] In den Sudan- und Bantusprachen, sowie im größten Teil der hamitischen Sprachen wird eine Bewegung, die wir nach ihrem Ziel und Resultat bezeichnen, nach ihrem Anfang und ihrem örtlichen Ausgangspunkt bezeichnet, s. die Beispiele bei Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, S. 20 Anm. Über analoge Erscheinungen in den Südseesprachen s. Codrington, Melanes. languages, S. 159 f.
  44. [1] G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 230 f.
  45. [2] Näheres s. bei Brugmann, Demonstrativpronomen, S. 30 ff., 71 f., 129 f. und Grundriß ² II, 2, S. 307 ff., 381 ff.
  46. [3] Für die semitischen Sprachen s. Brockelmann, Grundriß I, 296 ff., sowie Kurzgefaßte vergl. Grammat. der semit. Sprache, Berlin 1908, S. 142 ff.; Dillmann, Äthiop. Grammat., S. 98; für die altaischen Sprachen s. z. B. Grunzel, vergl. Grammat. der altaischen Spr., S. 55 ff.
  47. [4] Vgl. Gatschet, Klamath language, S. 536 f., Matthews, a. a. O., S. 151.
  48. [5] S. Matthews, Languages of the Bungandity Tribe in South Australia (J. and Proc. of the Roy. Soc. of N. S. Wales XXXVII (1903), S. 61).
  49. [1] S. Humboldt, Über den Dualis (W. VI, 1, 23); Fr. Müller, Grundriß II, 1, 224 f.
  50. [2] Boas, Kwakiutl (Handbook I, 527 ff.).
  51. [3] Goddard, Hupa (Handb. I, 117); Boas, Chinook (Handb. I, 574, 617 ff.).
  52. [4] S. Hoffmann, Japanische Sprachlehre, S. 85 ff.
  53. [1] Vgl. hierfür die Beispiele aus der Klamath-Sprache bei Gatschet (a. a. O. S. 582 f.) u. aus den melanesischen Sprachen bei Codrington (a. a. O. S. 164 ff.).
  54. [2] Die Sudansprachen drücken den Umstand, daß ein Subjekt in einer Handlung begriffen ist, im allg. durch eine Wortfügung aus, die eigentlich besagt, daß es sich im Innern dieser Handlung befindet. Da aber auch dies „Innere“ meist ganz materiell bezeichnet wird, so ergeben sich Wendungen wie „ich bin Gehens Innerem, ich bin Gehens [169] Bauch“ für „ich bin im Gehen begriffen“. S. Westermann, Sudansprachen, S. 65, Gola-Sprache, S. 37, 43, 61.
  55. [1] Näheres s. in meiner Schrift „Zur Einstein’schen Relativitätstheorie“, Berlin 1921.
  56. [1] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 223).
  57. [2] Kawi-Werk II, 286.
  58. [3] Näheres bei M. v. Tiling, a. a. O., S. 145 f. Solche zeitlichen Indices am Nomen finden sich auch häufig in den amerikanischen Eingeborenensprachen, s. z. B. Boas, Handbook of Americ. Ind. Lang. I, 39; Goddard, Athapascan (ibid. I, 110) u. s.
  59. [1] Nähere Angaben bei Cl. und W. Stern, Die Kindersprache, S. 231 ff.
  60. [2] Westermann, Ewe-Grammatik, S. 129; die gleiche Erscheinung in vielen amerikanischen Sprachen s. z. B. v. d. Steinen, Die Bakairi-Sprache, Lpz. 1892, S. 355. Im Tlingit wird ein und dasselbe Präfix gu- oder ga- verwendet, um Zukunft und Vergangenheit zu bezeichnen (Boas, Handb. I, 176), wie auch das lat. olim (von ille) die graue Vorzeit und die ferne Zukunft (vgl. das deutsche: ‚einst‘) bezeichnet.
  61. [1] Roehl, Versuch einer systemat. Grammatik der Schambalasprache, Hamburg 1911, S. 108 f.
  62. [2] Vgl. Codrington, Melanesian languages, S. 164 f.
  63. [3] S. hierf. die Beispiele aus dem Ewe und anderen Sudansprachen bei Westermann, Ewe-Grammat., S. 95, u. Sudansprachen, S. 48 ff., aus der Nubasprache bei Reinisch, Die Nuba-Sprache, Wien 1879, S. 52.
  64. [4] S. Steinthal, Die Mande-Negersprache, S. 222.
  65. [1] S. Roehl, Schambalagrammat., S. 111 ff., u. Meinhof, Vgl. Grammat. der Bantusprachen, S. 68, 75.
  66. [2] Seler, Das Konjugationssystem der Maya-Sprachen, Berlin 1887, S. 30. – Ebenso sagt K. v. d. Steinen von der Bakairi-Sprache (a. a. O. S. 371 f.), daß sie Tempora in [177] unserem Sinne entschieden nicht besitze, dagegen modale Ausdrücke für ihre Verbalflexionen verwende, deren genauer Wert freilich aus dem vorliegenden Material nicht bestimmt werden könne und einem Europäer vielleicht überhaupt unzugänglich bleibe. Von der Fülle solcher modalen Abstufungen gewinnt man ein klares Bild aus der Übersicht, die Roehl (a. a. O. S. 111 ff.) über die Verbalformen des Schambala gegeben hat.
  67. [1] Näheres über den Gebrauch der „Tempora“ in den semitischen Sprachen s. bei Brockelmann, Grundriß II, 144 ff. Auch für die ural-altaischen Sprachen betont H. Winkler (Das Uralaltaische, S. 159), daß in dem uralaltaischen „Verbalnomen“ gegenüber der Fülle determinierender und modaler Bestimmungen, die es enthält, das „ureigentliche Verbalgebiet“, die Zeitenbildung, absolut zurücktrete, daß sie als sekundär, fast nebensächlich erscheine.
  68. [2] Streitberg, Perfektive und imperfektive Aktionsart (Paul-Braune-Beiträge XV [1891], S. 117 f.).
  69. [1] Für das Griechische vgl. z. B. Brugmann, Griech. Grammat. ³, S. 469: „Zur Aktionsart mußte seit urgriechischer Zeit jeder Verbalbegriff in irgendein Verhältnis treten, zu der Kategorie der Zeitstufe nicht. Es gab von uridg. Zeit her sehr viele zeitstufenlose Verbalformationen, aber keine ohne Aktionsart.“ Ein Vergleich der homerischen mit der altattischen Sprache zeigt, daß es erst ganz allmählich im Griechischen mehr und mehr zur Regel wird, das Zeitverhältnis durch das Verbum selbst zu unzweideutigem Ausdruck zu bringen (ibid.).
  70. [2] So werden im Griechischen Stämme wie λαβ, πιθ, φυγ in der ersteren Funktion, dagegen Stämme wie λαμβ, πειθ, φευγ in der zweiten verwendet: näheres bei G. Curtius, Zur Chronologie der indogerm. Sprachforschung, Abh. der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. Phil.-hist. Klasse V (1870), S. 229 ff.
  71. [3] S. G. Curtius, Die Bildung der Tempora und Modi im Griechischen u. Lateinischen. Sprachvergl. Beiträge I (1846), S. 150 ff.
  72. [4] Im Flexionssystem der germanischen Sprachen treten die Unterschiede der Aktionsarten, obwohl sie auch hier in vielen sprachlichen Einzelerscheinungen deutlich erkennbar bleiben (vgl. z. B. H. Paul, Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein, Abh. der k. bayer. Akad. d. Wiss., I. Cl., XXII, 161 ff.) schon früh in ihrer Bedeutung zurück; dagegen erhalten sie sich sehr deutlich in den baltisch-slawischen Sprachen, die insbesondere den Gegensatz der „perfektiven“ und „imperfektiven“ Aktion weiterbilden und ihm gemäß alle Verba in zwei Klassen scheiden. Näheres bei Leskien, Grammatik der altbulgarischen (altkirchenslawischen) Sprache, Heidelb. 1909, S. 215 ff.
  73. [1] Proclus in Euclid., S. 64, 18 Friedl. (Diels, Fragm. d. Vorsokr., S. 279).
  74. [1] S. Dedekind, Was sind u. was sollen[WS 1] die Zahlen (1887); vgl. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik (1884); Russell, The Principles of Mathematics I (1903).
  75. [2] Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910), S. 98 f.
  76. [1] Vgl. hrz. weiter unten: Kap. V.
  77. [1] Westermann, Ewe-Grammalik, S. 80.
  78. [2] Reinisch, Nuba-Sprache, S. 36 f.
  79. [3] v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, S. 84 ff.
  80. [4] Vgl. Meinhof, Bantugrammatik, S. 58; ähnliche Beispiele aus dem Gebiet der Papuasprachen bei Ray, Torres-Expedition, S. 373 u. ö. In der Sprache der Eskimo wird das Zahlwort für 20 durch einen Satz „ein Mann ist vollendet“ (d. h. alle seine Finger und Zehen gezählt) wiedergegeben, s. W. Thalbitzer, Eskimo (in Boas Handbook I, S. 1047).
  81. [1] Powell, Evolution of language a. a. O. I, 21; Gatschet, Klamalh language, S. 532 ff.
  82. [2] S. Ray, Torres-Straits-Expedit., S. 364; vgl. bes. das reichhaltige Material bei Levy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, dtsch. Ausg., Wien 1921, S. 159 ff.
  83. [1] Steinthal, Mande-Negersprachen, S. 75 f.
  84. [1] Eine reiche Sammlung von Beispielen hierfür findet sich bei Pott, Die quinare und die vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Weltteile, Halle 1847[WS 2].
  85. [1] Dobritzhoffer, Historia de Abiponibus; vgl. Pott, a. a. O., S. 5, 17 u. s. w.
  86. [2] Zu diesem qualitativen Charakter der primitiven „Zahlen“ und Zählungen vgl. bes. die ausgezeichneten, auf ein reiches Beispielmaterial gestützten Darlegungen Wertheimers, Das Denken der Naturvölker, Zeitschr. für Psychologie, Bd. 60 (1912), S. 321 ff.
  87. [1] H. C. v. d. Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, S. 23; vgl. Codrington, Melanesian Languages, S. 241. Ähnliche Kollektivworte finden sich in den melanesischen Sprachen auf Neu-Guinea, die z. B. je ein eigenes, in sich selbst ungeschiedenes Wort zur Bezeichnung von 4 Bananen oder 4 Kokosnüssen, von 10 Ferkeln, von 10 länglichen Dingen u. s. f. verwenden. Vgl. Ray, Torres-Expedit. III, 475.
  88. [2] Vgl. P. Jos. Meyer im Anthropos I, 228 (cit. von Wertheimer a. a. O., S. 342).
  89. [3] S. Powell, Introduction to the Study of Indian languages, S. 25, und die Zusammenstellung der verschiedenen Klassen von Zahlwörtern (Zahlworte für flache Gegenstände, für runde Gegenstände, für lange Gegenstände, für menschliche Wesen, für Maße) bei Boas, Tsimshian (Handbook I, 396 f.).
  90. [4] Vgl. hrz. bes. die von Levy-Bruhl aus der sprachwissenschaftlichen u. ethnologischen Literatur gesammelten Beispiele (a. a. O. S. 169 ff.).
  91. [1] Näheres hierüber z. B. bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 275, 303; Codrington, Melanes. Languages, S. 148; v. d. Gabelentz, Melanes. Sprachen, S. 23, 255.
  92. [2] Näheres bei Buschmann in seinen Noten zu Humboldts Kawi-Werk II, 269 ff.
  93. [1] Vgl. das System der japanischen und chinesischen „Numerative“ bei Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 149 ff.
  94. [1] S. Fr. Müller, Novara-Reise, S. 274 f.; vgl. für die australischen Sprachen, S. 246 f.; s. auch Fr. Müller, Grundriß II, 2, 114 ff.
  95. [2] Näheres hierüber bei Codrington, Melanesian Languages, S. 148 f.; H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 23, 255.
  96. [3] Vgl. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 340 f.; H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 137; zur „Pluralbildung“ in den altaischen Sprachen s. auch Grunzel, Vergl. Grammat. der altaischen Sprachen, S. 47 ff.
  97. [4] Im Ägyptischen werden, nach Erman (Ägypt. Grammat., S. 108 f.), viele Begriffe, die ihrem Sinne nach rein pluralisch sind, durch kollektive Abstrakta im Singular umschrieben und die Form des verbalen Prädikats gemäß dieser Auffassung umgestaltet. Ebenso sind in den südsemitischen Sprachen nach Brockelmann (Grundriß I, 437 ff., vgl. II, 77 ff.) die Grenzen zwischen Singular, Kollektiv und Plural noch in ständigem Flusse begriffen, so daß Kollektiva bei leichter Verschiebung wieder zum Singular werden und dann einen neuen Plural bilden können. Für den indogermanischen Sprachkreis s. die Beispiele, die Meyer-Lübke, Grammat. der roman. Sprachen II, 69 ff., III, 26 ff. aus den romanischen Sprachen gibt.
  98. [1] In den Singular setzte man, nach Brugmann, seit urindogermanischer Zeit ein Nomen, wenn man seinen Begriffsinhalt als etwas Einheitliches vorstellte und tatsächlich etwa vorhandene Gliederung der Einheit nicht berücksichtigte; andererseits wurde der Plural nicht nur da gebraucht, wo man mehrere Exemplare einer Gattung, mehrere getrennte Vorgänge und Handlungen unterschied, sondern auch, wo bei einem Begriff seine irgendwie mehrheitliche Wesenheit ausgedrückt werden sollte (Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 413; vgl. Griechische Grammat. ³, S. 369 f.).
  99. [2] Dobritzhoffer, Historia de Abiponibus II, 166 ff. (cit. bei Humboldt, Über den Dualis, W. VI, 1, 19 f.).
  100. [3] Näheres bei Brockelmann, Grundriß I, 436 f.
  101. [4] Über den Dualis, a. a. O. VI, 1, 20.
  102. [1] S. Gatschet, Klamath-Language, S. 419, 464, 611.
  103. [1] S. Goddard, Athapascan (Hupa), (in Boas’ Handbook I, 104); vgl. Boas, Kwakiutl (a. a. O. I, 444): „The idea of plurality is not clearly developed. Reduplication of a noun expresses rather the occurence of an object here and there, or of different kinds of a particular object, than plurality. It is therefore rather a distributive than a true plural. It seems that this form is gradually assuming a purely plural significance[WS 3]“.
  104. [2] Vgl. die Anwendung der Reduplikation zur Bezeichnung des „distributiven“ Plurals in den Hamitensprachen s. Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, S. 25, 171.
  105. [1] Näheres s. bei Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus (4. Aufl. Lpz. 1909).
  106. [2] Dies ist also der umgekehrte, aber genau entsprechende Fall, der soeben (S. 196) am Beispiel des Hupa betrachtet wurde. Während dort der Singular des Verbums auch bei einer Mehrheit der Subjekte gebraucht wird, wenn die Handlung selbst (wie etwa die Ausführung eines Tanzes) als eine unteilbare Einheit angesehen wird, so tritt andererseits in den meisten amerikanischen Eingeborenensprachen ein transitives Verbum in den Plural, wenn sein direktes Objekt in der Mehrzahl steht, die Handlung also auf verschiedene Gegenstände gerichtet und dadurch in sich selbst gespalten erscheint. Auch in anderen Sprachen ist der Ausdruck der Mehrheit am Verbum nicht sowohl von der Vielheit der Subjekte, als vielmehr von der der Objekte des Wirkens, oder von beiden zugleich, abhängig. (Beispiele aus dem Kiwai, einer Papuasprache, gibt Ray, Torres-Expedit. III, 311 f.; von den afrikanischen Sprachen unterscheidet z. B. die Nuba-Sprache, ob das Objekt, auf das sich die Tätigkeit bezieht, ein einzelnes ist oder aus einer Mehrheit besteht. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 56 f., 69 f. Die Tagalische Sprache, die von Humboldt im Kawi-Werk eingehend beschrieben wird, wendet beim Verbum oft ein bestimmtes Pluralpräfix an, um dadurch ebensowohl die Mehrheit der Handelnden wie insbesondere eine in der Handlung selbst liegende Vielfältigkeit oder Mehrfachheit zu bezeichnen. Der Begriff der Mehrheit wird in diesem Falle bald auf die Handelnden, bald auf die Handlung oder auch auf die mehr oder weniger häufige Beschäftigung mit ihr bezogen. So bedeutet: mag-súlat (von sulat ‚schreiben‘) sowohl: ‚viele schreiben‘ als gewöhnlicher Plural, wie ein Frequentativum ‚er schreibt viel‘, oder es drückt einen „habituellen Modus“ aus (‚es ist sein Geschäft zu schreiben‘). Näheres bei Humboldt, a. a. O. II, 317, 376 ff.).
  107. [1] Für die amerikanischen Sprachen vgl. z. B. die Darstellung des Maidu durch Roland B. Dixon (in Boas’ Handbook I, 683 ff.): „Ideas of number are unequally developed in Maidu. In nouns, the exact expression of number seems to have been felt as a minor need; whereas, in the case of pronominal forms, number is clearly and accurately expressed“ (S. 708). Auch in den melanesischen, sowie in den polynesischen und indonesischen Sprachen ist es nur beim Pronomen zur Ausbildung einer scharfen Zahlunterscheidung gekommen; näheres bei Codrington, Melanes. languages, S. 110, und bei H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 37. Die Bakairi-Sprache, die weder den Unterschied des Singulars und Duals noch eine allgemeine Pluralbezeichnung kennt, hat Ansätze für eine solche für die erste und zweite Person des Pronomens ausgebildet; vgl. v. d. Steinen, Bakairi-Sprache, S. 324, 349 f.
  108. [2] Dies ist z. B. im Tibetanischen der Fall; vgl. J. J. Schmidt, Grammat. der tibet. Sprache, Petersburg 1839, S. 63 f.
  109. [3] Vielfältige Beispiele für diesen Gebrauch bei Fr. Müller, Grundriß II, 1, 261; II, 1, [200] 314 f., III, 2, 50; – für die melanesischen Sprachen s. v. d. Gabelentz, a. a. O., S. 87. – Im Hupa haben nur wenige Nomina eine Pluralform: es sind solche, die das Alter oder den Stand eines Menschen bezeichnen oder die eine Verwandtschaftsbeziehung ausdrücken. (Goddard, Athapascan in Boas’ Handbook I, 104.) Im Aleütischen gibt es zwei verschiedene Ausdrücke der Mehrheit, deren einer für lebende Wesen, deren anderer für leblose Gegenstände gebraucht wird; s. Victor Henry, Esquisse d’une grammaire raisonnée de la langue aléoute, Paris 1879, S. 13.
  110. [1] S. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 340.
  111. [1] Vgl. Fr. Müller, Grundriß I, 2, 26 f.
  112. [2] Vgl. Sayce, Introduction to the science of language I 412.
  113. [3] Solche Beispiele insbes. aus dem Gebiet der Papuasprachen finden sich bei Ray, Torres-Expedit. III, 46, 288, 331, 345, 373; s. auch Fr. Müller, Die Papuasprachen, Globus, Bd. 72 (1897) S. 140. Im Kiwai wird dasselbe Wort (potoro), das zur Bezeichnung des Trials dient, auch für 4 angewandt: seine Bedeutung ist daher wahrscheinlich ‚wenige‘, während jede Zahl über 3 durch sirio ‚viele‘ wiedergegeben wird (Ray, a. a. O., S. 306). Für die melanesischen Sprachen s. H. C. v. d. Gabelentz, a. a. O., S. 258. Bei den Bakairi bestehen nach K. v. d. Steinen deutliche Anzeichen dafür, daß die 2 die „Grenze der alten Arithmetik“, der Ausdruck der Vielheit schlechthin gewesen ist; das Wort, das hier für sie im Gebrauch ist, wird von ihm auf eine Wortverbindung zurückgeführt, die eigentlich „mit dir“ besagt. (Die Bakairi-Sprache, S. 352 f.).
  114. [4] S. hrz. das Material bei Usener, Dreizahl, Rheinisches Museum, N. F., Bd. 58.
  115. [1] Vgl. Brockelmann, Grundriß I, 484 ff., II, 273 ff.
  116. [2] Vgl. Meillet, Einf. in die vgl. Grammat. der indogerm. Sprachen, S. 252 ff; Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 369 ff.
  117. [3] Von den deutschen Dialekten haben das Westfälische und das Bayerisch-Österreichische bekanntlich noch heute diesen Gebrauch des Duals in Resten bewahrt; näheres z. B. bei Jakob Grimm, Deutsche Grammatik I, 339 ff.
  118. [4] Miklosich, Vergl. Grammat. der slaw. Sprachen IV, 40; über ganz analoge Erscheinungen im Gebiet der finnisch-ugrischen Sprachen s. z. B. Szinnyei, Finnisch-ugrische Sprachwissenschaft, Lpz. 1910, S. 60.
  119. [5] Vgl. über diese Frage Benfey, Das indogermanische Thema des Zahlworts ‚zwei‘ ist du, Göttingen 1876; daß das urindg. *duu̯ō „letztlich wohl auf personale Anschauung zurückgehe“ nimmt auch Brugmann, Grundriß II, 2, 8 ff., an.
  120. [6] Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, S. 308 ff., 355.
  121. [1] S. Meinhof, Bantugrammatik, S. 8 f.
  122. [2] Vgl. Brockelmann, Kurzgef. vgl. Grammat., S. 222.
  123. [3] Brugmann, Griechische Grammatik ³, S. 371; Meillet, a. a. O., S. 6; vgl. auch Fr. Müller, Der Dual im indogermanischen und semitischen Sprachgebiet, Silzungsberichte der Wiener Akad., Philos.-hist. Kl., Bd. XXXV.
  124. [4] Im Altägyptischen ist der Dual noch in weiterem Umfange vorhanden, während er im Koptischen bis auf geringe Reste ausgestorben ist (s. Erman, Ägypt. Grammat., S. 106, Steindorf, Kopt. Grammat., S. 69, 73).
  125. [1] Vgl. Jak. Grimm, Kleinere Schriften III, 239 ff.
  126. [2] Vgl. Fr. Müller, Grundriß II, 1, 76 f. – S. auch die Bemerkung von G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 296 f.: „Das Familienleben verkörpert, um … grammatisch zu reden, die sämtlichen Personalpronomina, Singularis, Dualis und Pluralis; die Familie oder Sippe fühlt sich als dauernde Einheit anderen Familien gegenüber, „Wir“ treten in Gegensatz zu „Euch“ und „Ihnen“. Ich glaube, das ist nicht bloße Wortspielerei. Wo konnte das persönliche Fürwort besser wurzeln, als in der Gewohnheit eines fortgesetzten Familienlebens? Manchmal ist es sogar, als enthielten die Sprachen Erinnerungen an den Zusammenhang zwischen den Vorstellungen des Weibes und des Du. Das Chinesische bezeichnet beide mit einem Worte … Ähnlich ist es, wenn in Sprachen der Thai-Familie die Silbe me die Bedeutung „Du“ und „Mutter“ in sich vereinigt.“
  127. [1] Vgl. Codrington, Melanesian languages, S. 111 f., Ray, Torres-Exped. III, S. 428 u. ö.
  128. [2] Näheres bei Matthews, Aboriginal languages of Victoria (J. and Proceed. of the R. Soc. of N. S. Wales XXXVI, 72) und Languages of some native tribes of Queensland etc., ibid. S. 155 f., 162. Eine Mehrheit der Pluralformen des Personalpronomens findet sich auch in den Munda-Sprachen und im Nikobar (vgl. P. W. Schmidt, Die Mon-Khmer-Völker, S. 50 f.). Für die amerikanischen Eingeborenensprachen s. die verschiedenen Beispiele des Gebrauchs des „Inklusivs“ und „Exklusivs“ in Boas’ Handbook, S. 573 f., 761 f., 815 u. ö., sowie v. d. Steinen, Bakairi-Sprache, S. 349 f.
  129. [3] S. Humboldt, Kawi-Werk II, 39.
  130. [1] S. z. B. G. F. Lipps, Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik. Wundts Philos. Studien, Bd. IX–XI, XIV.
  131. [2] Vgl. hrz. die treffenden Bemerkungen Wertheimers, a. a. O., bes. S. 365 ff.
  132. [1] S. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Heidelberg 1899, S. 49 ff.
  133. [2] Beispiele hierfür insbesondere aus afrikanischen Sprachen bei Meinhof, Bantugrammatik, S. 84; bei Westermann, Ewe-Grammat., S. 102, Golasprache, S. 39, 47, Roehl, Schambala-Grammatik, S. 25.
  134. [3] Beispiele bei Roehl, a. a. O., S. 25; Codrington, Melanes. Languages, S. 274; Gatschet, Klamath-Language, S. 520 f.
  135. [4] S. z. B. Migeod, The Mende Language, London, 1908, S. 65 u. s. – Von den semitischen Sprachen hat nur das Arabische eine besondere Form für die Steigerung der Adjektiva, einen sogen. „Elativ“, entwickelt; nach Brockelmann (Grundriß I, 372, II, 210 ff.) handelt es sich dabei um ganz junge, speziell arabische Bildungen.
  136. [5] In der Nuba-Sprache (vgl. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 31) wird der Komparativ durch eine Postposition umschrieben, die eigentlich „über“ bedeutet; im Fidschi ist in gleicher Funktion ein Adverb, das „aufwärts“ besagt, im Gebrauch (vgl. H. C. v. d. Gabelentz, Melanes. Spr., S. 60 f.). Auch die Komparationssuffixe des Indogermanischen [208] -ero-, -tero- rühren nach Brugmann (Kurze vgl. Grammat., S. 321 ff.) von Adverbien lokaler Bedeutung her.
  137. [1] Diese Auffassung des Pronomens als einer bloßen „idée suppléante“ wird z. B. vertreten von Raoul de la Grasserie, Du Verbe comme générateur des autres parties du discours, Paris 1914. – Der Name des „Pronomens“ oder der ἀντωνυμία bei den antiken Grammatikern geht auf diese Auffassung zurück: vgl. z. B. Apollonius de Syntaxi, L. II, cap. 5.
  138. [2] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 103 f.); vgl. bes. die Abhandl. über den Dualis (W. VI, 1, 26 ff.) und über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen (W. VI, 1, 304 ff.).
  139. [3] Jak. Grimm, Deutsche Grammatik I, 335 ff.; W. Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, S. 215.
  140. [1] Vgl. hrz. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammatik, S. 112 f.
  141. [1] Näheres hierüber bei H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 59 ff., 160 f., bei Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 91 ff. u. bei J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, Petersb. 1831, S. 44 f.
  142. [2] Über das allgemeine Verfahren, das die semitischen Sprachen zum Ausdruck des Reflexivpronomens anwenden, s. Brockelmann, Grundriß II, 228 u. 327; in den meisten Fällen muß das Reflexivum mit dem Wort für ‚Seele‘ oder seinen Synonymen (Mann, Kopf, Wesen) umschrieben werden.
  143. [3] Näheres in Grimms Deutsch. Wörterb. VII, Sp. 1561/62.
  144. [4] Steindorff, Kopt. Grammatik § 88; ähnlich im Altägyptischen vgl. Erman, a. a. O., S. 85.
  145. [5] Vgl. Brandstetter, Indonesisch u. Indogermanisch im Satzbau, Luzern 1914, S. 18.
  146. [6] Whitney, Indische Grammatik, S. 190; Delbrück, Vergl. Syntax I, 477.
  147. [7] Vgl. Wundt, Die Sprache II, 47 f. u. die dort aus Fr. Müller’s Grundriß angeführten Beispiele. – Nicht auf der gleichen Stufe, wie die hier betrachteten Erscheinungen, stehen solche substantivischen oder adjektivischen Umschreibungen der persönlichen Fürwörter, die durch Rücksichten der Etikette und des Zeremoniells bedingt [212] sind, und nach Humboldt (W. VI, 1, 307 f. u. Kawi-Werk II, 335) einem „Zustande halber Zivilisation“ angehören. Hier werden für die zweite, angeredete Person Ausdrücke der Erhabenheit (wie Herrscher, Herrlichkeit), für das eigene Ich Ausdrücke der Erniedrigung (wie Diener, Sklave u. s. f.) gebraucht. Am weitesten hierin ist das Japanische gegangen, in welchem durch solche Höflichkeitsumschreibungen, die nach dem Range des Sprechenden und des Angeredeten aufs genaueste abgestuft werden, der Gebrauch der persönlichen Pronomina völlig verdrängt worden ist. „Die Unterscheidung dreier grammatischer Personen (ich, du, er)“ – sagt Hoffmann (Japan. Sprachlehre, S. 75) hierüber – „ist der japanischen Sprache fremd geblieben. Alle Personen, sowohl die des Sprechenden, als die, zu der oder von der man spricht, werden als Inhalt der Vorstellung, also, nach unserem Idiom, in der dritten Person aufgefaßt und die Etikette hat, die Bedeutung der Eigenschaftswörter betrachtend, zu entscheiden, welche Person mit diesem oder jenem Worte gemeint sei. Die Etikette unterscheidet allein zwischen dem Ich und Nicht-Ich, erniedrigt das eine, erhöht das andere.“
  148. [1] Vgl. hrz. Meinhof, Bantugrammatik, S. 6 f.
  149. [1] Näheres hierüber s. bei Codrington, Melanes. Languages, S. 108 ff. u. bei Brandstetter, Der Artikel des Indonesischen, S. 6, 36, 46. Von den amerikanischen Eingeborenensprachen besitzt z. B. das Hupa ein besonderes Fürwort der dritten Person, das für die erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes, ein anderes, das für Kinder und Greise, für Mitglieder anderer Stämme und für Tiere in Gebrauch ist, s. Goddard, Athapascan in Boas’ Handbook I, 117.
  150. [2] Der einfache, lediglich der Benennung einer Person oder eines Gegenstandes dienende Nominativ unterscheidet sich hier von dem „Nominativus agentis“, der dort zur Verwendung kommt, wo ein transitives Verbum an das Subjekt herantritt. „Wenn man z. B. in der Ferne eine Person wahrnimmt und frägt: Wer ist dies?, so bekommt man die Antwort: kore (ein Mann); will man aber sagen: der Mann hat das Känguruh getötet, so bedient man sich einer anderen Form, der subjektiven Nominativform, welche überall dort eintreten muß, wo das Nomen als wirkend, handelnd hingestellt werden soll.“ S. Fr. Müller, Novara-Reise, S. 247; vgl. bes. Matthews, Aboriginal Languages of Victoria, S. 78, 86, 94.
  151. [3] Vgl. Codrington, Melanes. Languages, S. 183 ff. – Das Bugische, ein indonesisches Idiom, kennt beim Verbum zwei verschiedene „Passivpräfixe“, von denen das eine die Nuance des „Unbeabsichtigten“ enthält, also ein Ereignis bezeichnet, das ohne die Mitwirkung eines tätigen Subjekts „von selbst“ eingetreten ist. S. Brandstetter, Sprachvergleich. Charakteristik eines indones. Idioms, Luzern 1911, S. 37 f. Die Nuba-Sprache macht nach Reinisch (Nuba-Sprache, S. 63 ff.) einen scharfen Unterschied zwischen der Passiv- und der Inchoativform beim Verbum: die erstere wird gebraucht, wenn ein Zustand durch tätiges Eingreifen eines Subjekts, die letztere, wenn er durch bloße Naturbedingungen infolge des regelrechten Laufes der Ereignisse herbeigeführt wird.
  152. [1] Näheres bei Brugmann, Griech. Grammat.³, S. 458 ff.
  153. [2] Beispiele hierfür aus den melanesischen Sprachen bei Codrington, a. a. O. S. 191 f.; [215] aus afrikanischen Sprachen bei Westermann, Sudansprachen, S. 70, Migeod, Mende Language, S. 82. Zum Ersatz des fehlenden Passivum dienen oft auch impersonale Wendungen oder Formen aktiver Prägung, denen aber eine passive Bedeutungsnuance innewohnt. Ein Satz wie „er wird geschlagen“ kann etwa durch Ausdrücke wie ‚er empfängt oder erträgt das Schlagen‘ oder, ganz materiell, durch ‚er ißt Schläge‘ wiedergegeben werden. (Beispiele bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 98.) Das Japanische bildet mittels eines Hilfsverbums, dessen Grundbedeutung ‚bekommen, sich zueignen‘ ist, abgeleitete Verba, die das Sich-Zueignen einer von außen kommenden Wirkung bezeichnen und in diesem Sinne als Verba passiva gebraucht werden können (Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 242). Auch im Chinesischen ist die Bildung des „Passivs“ durch solche Hilfszeitwörter wie ‚sehen, finden, empfangen‘ (z. B. Haß sehen für ‚gehaßt werden‘) häufig, vgl. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. 113, 428 f.
  154. [1] Humboldt, Kawi-Werk II, 80, 85, vgl. die Parallelen aus australischen Sprachen bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 254 f. S. auch Codrington, a. a. O., S. 192.
  155. [1] Vgl. ob. S. 177 ff.
  156. [2] Für diesen Gebrauch des „Stativs“ und „Inchoativs“ sowie des „Habitualis“ vgl. z. B. die Beispiele bei Reinisch, Nuba-Sprache, S. 53 f., 58 ff. u. Hanoteau, Grammaire Kabyle, S. 122 ff.
  157. [3] So besonders die finnisch-ugrischen Sprachen, s. Szinnyei, Finnisch-ugrische Sprachwissenschaft, S. 120 ff. Das Ungarische hat allein acht verschiedene Frequentativsuffixe, cf. Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 284 ff.
  158. [4] So im Indogermanischen, vgl. Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 578 ff.
  159. [5] Eine solche Unterscheidung kennt z. B. das Mongolische, vgl. J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 74. Über den „Prekativ“ des Altindischen vgl. Thumb, Handb. des Sanskrit, Heidelb. 1905, S. 385 f.
  160. [1] S. Powell, The evolution of language (Rep. of the Smithson. Inst. of Washington, I), S. 12.
  161. [2] Beispiele bei Goddard, Athapascan, bei Swanton, Haida und bei Boas, Kwakiutl in Boas’ Handbook I, 105, 124, 247 ff., 443.
  162. [3] Vgl. z. B. Aug. Müller, Türk. Grammatik, S. 71 ff.; für die semitischen Sprachen s. Brockelmann, Grundriß I, 504 ff. Das Äthiopische besitzt nach Dillmann (Äthiop. Grammat., S. 116 ff.) neben dem Grundstamm einen „Steigerungsstamm“ (Intensivstamm) und einen „Einwirkungsstamm“; von allen dreien werden durch ein und dasselbe Bildungsmittel, aber unter Belassung ihrer übrigen Eigentümlichkeiten, wieder drei Kausativstämme abgeleitet.
  163. [1] So bedient sich z. B. die Tagalische Sprache zur Bildung der Kausalverba eines doppelten Präfixes: das eine drückt das einfache Hervorbringen einer Sache, das bloße eigene Bewirken aus, während das andere die Veranlassung einer Handlung durch einen anderen bezeichnet, so daß jetzt zwei handelnde Subjekte eintreten. Vgl. Humboldt, Kawi-Werk II, 143.
  164. [2] Vgl. hrz. etwa die Beispiele aus der Bedauye-Sprache bei Reinisch, Bedauye II, 130 ff.; – eine Kooperativform des Verbs kennt z. B. auch das Jakutische (Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 364 ff.).
  165. [3] So die Sprache von Taoripi, s. Ray, Torres-Strait-Exped. III, 340.
  166. [4] So z. B. die Bungandity-Sprache in Süd-Australien, die von Matthews, J. and Proc. of the Royal Soc. of N. S. Wales, Bd. XXXVII (1903) beschrieben worden ist, s. d. S. 69.
  167. [1] So im semitischen Sprachkreis im Äthiopischen (Dillmann, S. 115, 123) u. im Syrischen (Nöldeke, Syr. Grammat., S. 95 ff.); auch im Türkischen tritt (nach Aug. Müller, Türk. Grammat., S. 76) für das Passiv häufig das Reflexiv ein.
  168. [2] Vgl. J. Stenzel, Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische Begriffsbildung, Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum (1921), S. 152 ff.
  169. [3] Das Medium als Âtmanepadam bei Pânini I, 3, 72–74; als ein besonderes „Genus verbi“ erscheint bei den europäischen Grammatikern das Medium erst bei Dionysius Thrax, vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 73 u. 144.
  170. [4] J. Grimm, Deutsche Grammat., I, 598 f.
  171. [1] Belege hierfür finden sich, außer in den semitischen Sprachen, z. B. im Jakutischen (Boethlingk, S. 291), im Türkischen (Aug. Müller, S. 71 ff.), in der Nuba-Sprache (Reinisch, S. 62 ff.) u. s.
  172. [2] S. Humboldt, Ortsadverbien (W. VI 1, 306 f.).
  173. [1] Vgl. über diese Frage C. und W. Stern, a. a. O., S. 41 u. 245 ff.
  174. [2] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 231). Die „noch vorhandene Identität des Possessiv und Personalpronomens“ wird auch von K. v. d. Steinen für die Bakairi-Sprache betont. Ein und dasselbe Wort (ura) heiße nicht nur ‚ich‘, sondern auch ‚meines‘, ‚das ist mein‘, ‚das gehört mir‘, wie ein anderes ‚du‘ und ‚deines‘, ein drittes ‚er‘ und ‚seines‘ besage (Bakairi-Sprache, S. 348 f., 380).
  175. [1] S. H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 76 f., 171; Beispiele aus anderen Sprachkreisen finden sich in Fr. Müllers Grundriß, z. B. I, 2, 12, I, 2, 116 f., 142, 153. II, 1, 188, III, 2, 278 u. ö.
  176. [2] Wundt, a. a. O., II, 143.
  177. [1] Schopenhauer, Welt als Wille u. Vorstell. I, 151 f., II, 289 f. (Grisebach).
  178. [2] Vgl. Buschmann, der athapaskische Sprachstamm (Abh. der Berl. Akad. d. Wiss. 1854[WS 4]), S. 165, 231; Powell, Introduction to the Study of Indian languages, S. 18. Goddard, Athapascan in Boas’ Handbook I, 103.
  179. [3] K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, S. 22.
  180. [4] Vgl. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 347; selbst im Ungarischen werden nach Simónyi, a. a. O., S. 260, Verwandtschaftsnamen und Namen für Körperteile verhältnismäßig selten ohne possessive Personalsuffixe gebraucht.
  181. [1] Codrington, a. a. O., S. 140 f.
  182. [2] Vgl. z. B. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 45; für die amerikan. Sprachen s. Boas’ Handbook, z. B. I, 103.
  183. [3] S. Schelling, Vom Ich, § 7; S. W. I, 177.
  184. [1] Vgl. hrz. Ray, The Melanesian Possessives, American Anthropologist, XXI (1919), S. 349 ff.
  185. [1] S. Codrington, Melanes. lang., S. 129 f.
  186. [2] Solche Unterschiede der Possessivsuffixe für übertragbaren und unübertragbaren Besitz finden sich z. B. im Haida, im Tsimshian, wo weiterhin zwischen dem übertragbaren Besitz belebter Wesen (mein Hund) und unbelebter Dinge (mein Haus) unterschieden wird, und in den Sprachen der Sioux-Indianer, vgl. Boas’ Handbook I, 258, 393, 946 f.
  187. [3] Vgl. Victor Henry, Langue aleoutique, S. 22; ähnliches gilt für die Eskimosprache, vgl. Thalbitzer in Boas’ Handbook I, 1021 ff. Von den finnisch-ugrischen Sprachen bemerkt Szinnyei (a. a. O., S. 115), daß es hier ursprünglich zwei Paradigmen mit possessiven Suffixen gegeben habe: das eine für singularischen, das andere für pluralischen Besitz. In den meisten Einzelsprachen habe sich aber dieser Unterschied verdunkelt; am besten sei er im Wogulischen erhalten.
  188. [1] So im Türkischen, wo ein Ausdruck wie ‚das Haus des Vaters‘ so gestaltet ist, daß er eigentlich ‚des Vaters sein Haus‘ besagt, vgl. Aug. Müller, Türk. Grammat., S. 64; ähnlich in den finnisch-ugrischen Sprachen, vgl. H. Winkler, Das Ural-altaische u. seine Gruppen, S. 7 ff.
  189. [2] Näheres bei F. N. Finck, Die Haupttypen des Sprachbaus, S. 13 f.
  190. [1] Vgl. Ludwig Noiré, Der Ursprung der Sprache, S. 311 ff., 341 ff., u. Max Müller, Das Denken im Lichte der Sprache, Lpz. 1888, S. 371 ff., 571 ff.
  191. [2] Dies ist z. B. der Standpunkt, den B. Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung, Straßb. 1901, S. 113 ff.) einnimmt.
  192. [1] S. Raoul de la Grasserie, Du Verbe comme générateur des autres parties du discours (du Phénomène au Noumène), Paris 1914.
  193. [1] Wundt, Die Sprache ² I, 594.
  194. [1] Vgl. z. B. Nöldeke, Syrische Grammat., S. 215: „Der Nominalsatz, d. h. der Satz, welcher ein Subst. Adj. oder eine adverbiale Bestimmung zum Prädikat hat, unterscheidet sich im Syrischen vom Verbalsatz nicht allzu scharf. Das sehr viel als Prädikat verwandte, zur reinen Verbalform werdende Partizipium, das doch seine nominale Herkunft nicht verleugnet …, bezeichnet Übergänge vom Nominalsatz zum Verbalsatz. Auch der innere Bau der Nominal- und Verbalsätze ist im Syrischen nicht sehr verschieden.“
  195. [1] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk VII, 1, 222, 280 ff., 305; vgl. bes. das Kawi-Werk selbst II, 81, 129 ff., 287.
  196. [2] Beispiele s. etwa in Fr. Müller’s Grundriß: aus dem Hottentottischen I, 2, 12 ff., den Mande-Sprachen I, 2, 142, dem Samojedischen II, 2, 174, dem Jenissei-Ostjakischen II, 1, 115.
  197. [3] S. oben S. 222.
  198. [4] Vielfältige Beispiele dieser „adjektivischen Konjugation“ s. bei de la Grasserie, a. a. O. S. 32 ff. – Die malayische Sprache erlaubt jedes Wort ohne Ausnahme durch einen Zusatz in ein Verbum zu verwandeln; umgekehrt kann hier jeder Verbalausdruck durch bloße Vorsetzung des bestimmten Artikels als ein Nomen behandelt werden (Humboldt, Kawi-Werk, II, 81, 348 ff.). Im Koptischen trägt das Verbum in seiner Infinitivform sogar den Geschlechtscharakter der substantivischen Hauptwörter an sich: der Infinitiv ist ein Nomen und kann seiner Form nach männlich oder weiblich sein. Diesem seinem nominalen Charakter entsprechend regiert er ursprünglich auch kein Objekt, sondern einen Genitiv, der wie beim Substantivum unmittelbar an das Nomen regens herantritt. (S. Steindorff, Koptische Grammatik, S. 91 f.) Im Jenissei-Ostjakischen, sowie in den Dravida-Sprachen lassen die Verbalformen eine Bekleidung mit Kasus-Suffixen zu und werden demgemäß „dekliniert“ – wie andererseits in manchen Sprachen das Nomen mit einem bestimmten Temporalzeichen versehen und somit „konjugiert“ werden kann. (Vgl. Fr. Müllers Grundriß II, 1, 115, 180 f., III, 1, 198.) In der Sprache von Annatom wird – nach G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissensch., S. 160 f. – nicht das Verbum, sondern das Pronomen personale konjugiert. Dies eröffnet den Satz, zeigt [235] an, ob von der ersten, der zweiten oder einer dritten Person Singularis, Dualis, Trialis oder Pluralis die Rede ist, ob es sich um ein Gegenwärtiges, Vergangenes oder Zukünftiges, Gewolltes usw. handele.
  199. [1] So im Alëutischen, vgl. V. Henry, a. a. O., S. 60 ff.
  200. [1] H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 166 f.
  201. [2] Ein Satz wie „es schneit“ lautet daher im Japanischen so, daß er eigentlich besagt „Schnees Herabfallen (ist)“, ein Satz wie „der Tag hat sich geneigt, es ist dunkel geworden“ [237] lautet so, daß er besagt „des Tages Dunkelgeworden-sein (ist)“. Vgl. Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 66 f.
  202. [1] S. Winkler, a. a. O., S. 199 ff.; Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 348.
  203. [2] Winkler, a. a. O., S. 152, 157 ff.
  204. [3] S. im Jakutischen (Boethlingk, S. 299 f.): mein bevorstehendes Schneiden = der meinem künftigen Schneiden unterliegende Gegenstand, aber auch = „ich werde schneiden“ u. s. f. Vgl. die Tempusbestimmung beim japanischen Verbum, wo die Formen, die zum Ausdruck der Zukunft oder Vergangenheit, der Vollendung oder Dauer dienen, sämtlich Verbindungen eines abhängigen Verbalnomens, das den Inhalt der Handlung bezeichnet, mit einem zweiten regierenden Verbalnomen sind, das die zeitliche Eigenart derselben kennzeichnet. Also Sehens – Streben, Wollen, Werden (für Sehenwerden); Sehens – Fortgehen (für Gesehen haben) usw. Vgl. H. Winkler, a. a. O., S. 176 ff. und Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 214, 227.
  205. [4] Näheres bei Winkler, a. a. O., S. 125 ff., 208 ff., und Uralaltaische Völker u. Sprachen, bes. S. 90 ff.
  206. [1] S. die Bemerkungen von G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 402 f.
  207. [1] Vgl. Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 144 f).
  208. [1] Vgl. bes. die Untersuchungen von Lucien Adam über den „Polysynthetismus“ in der Nahuatl- und Kechua-, der Quiche- und Maya-Sprache (Etudes sur six langues américaines, Paris 1878). S. ferner Brinton, On polysynthesis and incorporation as characteristics of American languages. Transact. of the Americ. Philos. Soc. of Philadelphia XXIII (1885)[WS 5], sowie Boas’ Handbook I, 573, 646 ff. (Chinook), 1002 ff. (Eskimo) u. ö.
  209. [2] Vgl. hierfür z. B. die charakteristischen Bemerkungen, die K. v. d. Steinen über die Bakaïrisprache macht. Unter den Naturvölkern Zentral-Brasil., S. 78 ff., Bakaïri-Sprache, S. IX f.
  210. [1] Für das Verbum der Klamath-Sprache betont Gatschet (a. a. O., S. 572 f.), daß es den verbalen Akt oder Zustand immer nur in der impersonalen und indefiniten Form – vergleichbar unserem Infinitiv – zum Ausdruck bringe. In einer Satzfügung wie Du-brechen-Stock bezeichne daher der verbale Ausdruck nur das Brechen schlechthin ohne Rücksicht auf sein Subjekt. Ebenso besitzen die Maya-Sprachen keine transitiven aktiven Verben in unserem Sinne: sie kennen nur Nomina und absolute Verba, die einen Zustand des Seins, eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit bezeichnen, welche als Prädikate zu einem Personalpronomen oder einer dritten Person als Subjekt konstruiert werden, die aber kein direktes Objekt zu sich nehmen können. Die Worte, die zur Darstellung einer transitiven Handlung dienen, sind wurzelhafte oder abgeleitete Nomina, die als solche mit dem Possessivpräfix verbunden werden. Ein Mayasatz wie „du hast meinen Vater getötet“, „du hast das Buch geschrieben“ besagt daher eigentlich: „dein Getöteter ist mein Vater, dein Geschriebenes ist das Buch“. (Näheres bei Ed. Seler, Das Konjugationssystem der Maya-Sprache, Berlin 1887, S. 9, 17 ff.) Auch im Verbalausdruck der malayischen Sprachen sind solche „impersonale“ Wendungen häufig; man sagt hier: mein Sehen (war) der Stern für: ‚ich sah den Stern‘ u. s. f., vgl. Humboldt, Kawi-Werk II, 80, 350 f., 397.
  211. [2] Vgl. Gatschet, a. a. O., S. 434 u. bes. Ed. Seler, a. a. O.
  212. [1] Humboldt, Kawi-Werk, II, 79 f.
  213. [2] Vgl. ob. S. 171 f.
  214. [1] Dillmann, Äthiop. Grammat., S. 116 f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wollen
  2. Vorlage: 1874
  3. Vorlage: singnificance
  4. Der Aufsatz ist in den Abhandlungen aus dem Jahr 1855 abgedruckt.
  5. Befindet sich in den Proceedings dieser Akademie, Band 23 (1886).
  6. Die Fußnotenziffer ¹ fehlt, die Fußnote wurde anhand des Zitats hier eingefügt.