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getroffen werden, aber es ist ersichtlich, daß nichtsdestoweniger der reine Begriff des persönlichen Seins und Wirkens scharf erfaßt und in mannigfachen geistigen Abstufungen durchgeführt wird. –

Die außerordentliche Fülle dieser Abstufungen tritt besonders in den reichen Möglichkeiten zutage, die die Sprache zur Unterscheidung der sogen. „Genusunterschiede“ am Verbum besitzt. Vom Standpunkt der rein logischen Analyse des Tuns scheint an ihm auf den ersten Blick nur ein einziger, scharf ausgeprägter Unterschied erfaßbar zu sein: das selbständige Tun steht dem bloßen Erleiden, die aktive Form steht der passiven gegenüber. Schon die Aristotelische Kategorientafel hat daher den grammatischen Unterschied, den wir durch den Gegensatz des „Aktiv“ und „Passiv“ auszudrücken pflegen, zu allgemein logischer und metaphysischer Bedeutung zu erheben gesucht. Aber es ist keineswegs zutreffend, wenn man behauptet hat, daß Aristoteles, indem er in dieser Weise den Grundgegensatz des Wirkens und Leidens, des ποιεῖν und πάσχειν in den Mittelpunkt stellt, sich hierbei lediglich von Tendenzen leiten ließ, die ihm durch die Form und Eigenart der griechischen Sprache unmittelbar gegeben und gewissermaßen aufgedrängt waren. Die Sprache, für sich allein, hätte hier eher einen andern Weg gewiesen: denn gerade im Griechischen ist der Unterschied des „Passivums“ gegen die übrigen Genera des Verbums weder morphologisch noch semasiologisch scharf durchgeführt. Das Passivum hat sich hier auch funktionell erst allmählich teils aus dem Aktiv, teils aus dem Medium entwickelt[1]. Blickt man vollends auf andere Sprachkreise hinüber, so zeigt sich deutlich, daß der einfache Gegensatz des Tuns und Erleidens in der Ausbildung des verbalen Ausdrucks keineswegs allein bestimmend oder ausschlaggebend ist, sondern daß er hier durch eine Fülle anderer Gegensatzmotive beständig gekreuzt wird. Auch dort, wo die Sprachen ihn als solchen klar entwickelt haben, wo sie zwischen „aktiven“ und „passiven“ Formen scharf unterscheiden, ist dieser Unterschied doch nur einer unter vielen: er gehört einer Gesamtheit begrifflicher Stufenfolgen des verbalen Ausdrucks an und wird durch sie vermittelt. In anderen Sprachen wieder kann dieser Gegensatz ganz fehlen, so daß hier, wenigstens formell, kein besonderer passiver Gebrauch des Verbums vorhanden ist. Bestimmungen, für die wir gewohnt sind einen passiven Ausdruck einzusetzen, werden hier durch aktive Verbalformen, insbesondere durch die dritte Person Pluralis des aktiven Verbums umschrieben und ersetzt[2]. In den malayischen Sprachen


  1. [1] Näheres bei Brugmann, Griech. Grammat.³, S. 458 ff.
  2. [2] Beispiele hierfür aus den melanesischen Sprachen bei Codrington, a. a. O. S. 191 f.; [215] aus afrikanischen Sprachen bei Westermann, Sudansprachen, S. 70, Migeod, Mende Language, S. 82. Zum Ersatz des fehlenden Passivum dienen oft auch impersonale Wendungen oder Formen aktiver Prägung, denen aber eine passive Bedeutungsnuance innewohnt. Ein Satz wie „er wird geschlagen“ kann etwa durch Ausdrücke wie ‚er empfängt oder erträgt das Schlagen‘ oder, ganz materiell, durch ‚er ißt Schläge‘ wiedergegeben werden. (Beispiele bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 98.) Das Japanische bildet mittels eines Hilfsverbums, dessen Grundbedeutung ‚bekommen, sich zueignen‘ ist, abgeleitete Verba, die das Sich-Zueignen einer von außen kommenden Wirkung bezeichnen und in diesem Sinne als Verba passiva gebraucht werden können (Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 242). Auch im Chinesischen ist die Bildung des „Passivs“ durch solche Hilfszeitwörter wie ‚sehen, finden, empfangen‘ (z. B. Haß sehen für ‚gehaßt werden‘) häufig, vgl. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. 113, 428 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/230&oldid=- (Version vom 19.12.2022)