Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil

Textdaten
Autor: Ernst Cassirer
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Titel: Philosophie der symbolischen Formen
Untertitel: Erster Teil: Die Sprache
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Erscheinungsdatum: 1923
Verlag: Bruno Cassirer
Drucker: Dietsch & Brückner
Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
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Eintrag in der GND: 4197911-4
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[III]
PHILOSOPHIE DER
SYMBOLISCHEN
FORMEN
VON
ERNST CASSIRER

ERSTER TEIL:
DIE SPRACHE
1923

BRUNO CASSIRER VERLAG BERLIN
[IV]
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1923 by Bruno Cassirer
Dietsch & Brückner, Hof-Buch- und -Steindrucker, Weimar
[V]
VORWORT

Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des „Verstehens“ der Welt bestimmt gegen einander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche „Formenlehre“ des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen, daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefunden werden könne. Der Lehre von der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Urteilsbildung, durch die das „Objekt“ der Natur in seinen konstitutiven Grundzügen bestimmt, durch die der „Gegenstand“ der Erkenntnis in seiner Bedingtheit durch die Erkenntnisfunktion erfaßt wird, mußte eine analoge Bestimmung für das Gebiet der reinen Subjektivität zur Seite treten. Diese Subjektivität geht in der erkennenden Betrachtung der Natur und der Wirklichkeit nicht auf, sondern sie erweist sich überall dort wirksam, wo überhaupt das Ganze der Erscheinung unter einen bestimmten geistigen Blickpunkt gestellt und von ihm aus gestaltet wird. Es mußte gezeigt werden, wie jede dieser Gestaltungen je eine eigene Aufgabe [VI] im Aufbau des Geistes erfüllt und je einem besonderen Gesetz untersteht. Aus der Beschäftigung mit diesem Problem entwickelte sich der Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen, wie er in der Einleitung näher dargelegt ist. Was die Durchführung im einzelnen betrifft, so beschränkt sich der vorliegende erste Teil auf eine Analyse der sprachlichen Form; ein zweiter Band, der, wie ich hoffe, etwa in einem Jahre erscheinen wird, soll den Entwurf zu einer Phänomenologie des mythischen und des religiösen Denkens enthalten, während im dritten und letzten Band die eigentliche „Erkenntnislehre“ d. h. die Formenlehre des wissenschaftlichen Denkens zur Darstellung gelangen soll.

Eine Betrachtung der Sprache nach ihrem rein philosophischen Gehalt und unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten philosophischen „Systems“ bedeutet freilich ein Wagnis, das seit den ersten grundlegenden Arbeiten Wilhelm von Humboldts kaum jemals wieder unternommen worden ist. Wenn Humboldt, wie er im Jahre 1805 an Wolf schrieb, die Kunst entdeckt zu haben glaubte, die Sprache als ein Vehikel zu gebrauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren, so schien durch die Richtung, die die Sprachforschung und die Sprachphilosophie im neunzehnten Jahrhundert genommen haben, ein solcher Anspruch mehr und mehr zurückgedrängt zu werden. Statt zu einem Vehikel der philosophischen Erkenntnis schien die Sprache bisweilen zu dem eigentlichen und stärksten Instrument der philosophischen Skepsis zu werden. Aber selbst wenn man von diesen Folgerungen der modernen Sprachkritik, für die die Philosophie der Sprache mit der Bestreitung und Auflösung ihres geistigen Gehalts gleichbedeutend wurde, absieht, so trat doch immer stärker die Überzeugung hervor, daß eine philosophische Grundlegung der Sprache, wenn überhaupt, so nur mit den Mitteln der psychologischen Forschung zu gewinnen sei. Das Ideal einer schlechthin universellen, einer „philosophischen“ Grammatik, dem noch der Empirismus und der Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts auf verschiedenen Wegen nachgegangen waren, schien seit der Grundlegung der wissenschaftlichen Sprachvergleichung ein für allemal zerstört: nun blieb nur übrig, die Einheit der Sprache statt in ihrem logischen Gehalt, in ihrer Entstehung und in den psychologischen Gesetzen dieser Entstehung aufzuweisen. Wundts großes Werk über die Sprache, das nach langer Zeit wieder den Versuch unternahm, die Gesamtheit der Spracherscheinungen zu umfassen und einer bestimmten geistigen Deutung zu unterwerfen, entnimmt das Prinzip dieser Deutung dem Begriff und der Methodik der Völkerpsychologie. In der gleichen [VII] Richtung des Denkens hatte Steinthal in seiner „Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft“ (1871) den Herbartschen Begriff der Apperzeption als das Fundament der Sprachbetrachtung zu erweisen gesucht. Im bewußten und scharfen Gegensatz zu den Grundlagen der Steinthalschen und Wundtschen Sprachansicht kehrt sodann Marty (1908) zu dem Gedanken einer „allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie“ zurück, die er als den Entwurf einer „deskriptiven Bedeutungslehre“ versteht. Aber auch hier wird der Aufbau dieser Bedeutungslehre mit rein psychologischen Mitteln zu vollziehen gesucht; ja die Aufgabe der Sprachphilosophie wird ausdrücklich derart abgegrenzt, daß zu ihr alle auf das Allgemeine und Gesetzmäßige an den sprachlichen Erscheinungen gerichteten Probleme gehören sollen, sofern sie „entweder psychologischer Natur sind oder wenigstens nicht ohne eine vornehmliche Hilfe der Psychologie gelöst werden können“. So schien auf diesem Gebiete – trotz des Widerspruchs, dem diese Anschauung in den Kreisen der Sprachforschung selbst, vor allem bei Karl Vossler, begegnete – der Psychologismus und Positivismus nicht nur als methodisches Ideal festgestellt, sondern fast zu einem allgemeinen Dogma erhoben zu sein. Der philosophische Idealismus freilich hat nicht aufgehört, dieses Dogma zu bekämpfen, aber auch er hat der Sprache die autonome Stellung, die sie bei Wilh. von Humboldt besaß, nicht wiedererobert. Denn statt sie als eine selbständige, auf einem eigentümlichen Gesetz beruhende geistige „Form“ zu verstehen, hat er versucht, sie auf die allgemeine ästhetische Ausdrucksfunktion zurückzuführen. In diesem Sinne hat Benedetto Croce das Problem des sprachlichen Ausdrucks dem Problem des ästhetischen Ausdrucks ein- und untergeordnet, wie auch Hermann Cohens System der Philosophie die Logik, die Ethik und Ästhetik und zuletzt die Religionsphilosophie als selbständige Glieder behandelt hat, auf die Grundfragen der Sprache aber nur gelegentlich und im Zusammenhang mit den Grundfragen der Ästhetik eingeht.

Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß die vorliegende Darstellung sich in philosophischer Hinsicht nicht innerhalb eines fest abgesteckten Gedankenkreises bewegen konnte, sondern daß sie überall versuchen mußte, sich ihren methodischen Weg selbst zu bahnen. Um so reicher waren dagegen die Hilfsquellen, die sich ihr für die Durchführung ihres Themas aus der Entwicklung ergaben, die die Sprachwissenschaft seit der Zeit Wilhelm von Humboldts genommen hat. Wenn der Gedanke einer wahrhaft universellen Sprachbetrachtung bei Humboldt noch als ein Postulat der idealistischen Philosophie erscheinen kann, so scheint dieses Postulat [VIII] sich seither mehr und mehr seiner konkreten wissenschaftlichen Erfüllung genähert zu haben. Die philosophische Betrachtung wird freilich gerade durch diesen Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmaterials vor eine kaum zu überwindende Schwierigkeit gestellt. Denn sie kann ebensowenig auf dieses Detail verzichten, wie sie sich ihm, wenn sie ihrer eigenen Absicht und Aufgabe getreu bleiben will, ganz gefangen geben darf. Diesem methodischen Dilemma gegenüber blieb keine andere Entscheidung übrig, als die Fragen, mit denen hier an die Sprachforschung herangetreten wurde, zwar in systematischer Allgemeinheit zu formulieren, die Antwort auf diese Fragen aber in jedem einzelnen Falle aus der empirischen Forschung selbst zu gewinnen. Es mußte versucht werden, einen möglichst weiten Überblick nicht nur über die Erscheinungen eines einzelnen Sprachkreises, sondern über die Struktur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grundtypus weit von einander abweichenden Sprachkreise zu gewinnen. Der Kreis der sprachwissenschaftlichen Literatur, die bei der Durcharbeitung der Probleme beständig zu Rate gezogen werden mußte, erfuhr hierdurch freilich eine so große Erweiterung, daß das Ziel, das diese Untersuchung sich anfangs gesteckt hatte, immer weiter in die Ferne rückte, ja daß ich mich immer von neuem vor die Frage gestellt sah, ob dieses Ziel für mich überhaupt erreichbar sei. Wenn ich trotzdem auf dem einmal beschrittenen Wege weiter ging, so geschah es, weil ich, je mehr sich mir ein Einblick in die Mannigfaltigkeit der Spracherscheinungen erschloß, um so deutlicher wahrzunehmen glaubte, wie auch hier alles Einzelne sich wechselseitig erhellt und wie es sich gleichsam von selbst einem allgemeinen Zusammenhang einfügt. Auf die Herausarbeitung und Verdeutlichung dieses Zusammenhangs, nicht auf die Betrachtung irgendwelcher Einzelerscheinungen sind die folgenden Untersuchungen gerichtet. Wenn der erkenntniskritische Grundgedanke, an dem sie orientiert sind, sich bewährt, wenn die Darstellung und Charakteristik der reinen Sprachform, wie sie hier versucht worden ist, sich als gegründet erweist, so wird Vieles, was im einzelnen übersehen oder versehen worden ist, bei einer künftigen Bearbeitung des Themas leicht seine Ergänzung und Berichtigung finden können. Ich selbst bin mir bei der Arbeit an dieser Schrift der Schwierigkeit des Gegenstandes und der Grenzen meiner Arbeitskraft zu deutlich bewußt geworden, als daß ich nicht jede Kritik der Fachkenner freudig begrüßen sollte; um diese Kritik zu erleichtern, habe ich überall, wo es sich um die Deutung und Verwertung des sprachwissenschaftlichen Einzelmaterials handelte, meine Gewährsmänner ausdrücklich [IX] genannt und meine Quellen so deutlich bezeichnet, daß dadurch eine unmittelbare Nachprüfung ermöglicht wird.

Es bleibt mir noch übrig, allen denen meinen Dank zu sagen, die mich während der Ausarbeitung dieses Buches durch das Interesse, das sie im allgemeinen an ihm nahmen oder durch ihren speziellen sachkundigen Rat unterstützt haben. Bei dem Versuch, in die Struktur der sogen. „primitiven“ Sprachen einen genaueren Einblick zu gewinnen, haben mir von Anfang an – neben den Schriften von Boas und Seler über die amerikanischen Eingeborenensprachen – die Werke Carl Meinhofs als Führer gedient. Nach meiner Berufung nach Hamburg im Jahre 1919 konnte ich nicht nur die reiche Bibliothek des von Meinhof geleiteten Seminars für afrikanische und Südseesprachen benutzen, sondern ich durfte mich auch in vielen schwierigen Einzelfällen seines stets bereitwillig gewährten und stets außerordentlich fördernden Rates erfreuen. Auch meinen Kollegen Prof. Otto Dempwolff und Prof. Heinrich Junker bin ich für manche Förderung, die ich im Gespräch mit ihnen gewonnen habe, zu Dank verpflichtet. Weit hinaus über das Maß einzelner Anregungen geht sodann dasjenige, was die folgende Darstellung Ernst Hoffmann in Heidelberg und Emil Wolff in Hamburg verdankt. Mit ihnen, die selbst mitten in der philologischen und sprachwissenschaftlichen Einzelarbeit stehen, weiß ich mich vor allem in der Grundanschauung eins, auf der dieses Buch beruht: in der Überzeugung, daß die Sprache, wie alle geistigen Grundfunktionen, ihre philosophische Aufhellung nur innerhalb eines Gesamtsystems des philosophischen Idealismus finden kann. Ernst Hoffmann habe ich ferner herzlich dafür zu danken, daß er trotz eigener starker Arbeitsbelastung die Korrekturen dieses ersten Bandes mitgelesen hat. Einzelne wichtige Hinweise und Ergänzungen, die er hierbei gegeben hat, konnten leider aus technischen Gründen bei der Drucklegung nicht mehr in vollem Umfang berücksichtigt werden; ich hoffe aber sie bei einer späteren Bearbeitung des Themas nutzen zu können.

HAMBURG, im April 1923.

ERNST CASSIRER.

[X]

[XI]
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Einleitung und Problemstellung
I. Der Begriff der symbolischen Form und die Systematik der symbolischen Formen 1
II. Die allgemeine Funktion des Zeichens. – Das Bedeutungsproblem 17
III. Das Problem der „Repräsentation“ und der Aufbau des Bewußtseins 26
IV. Die ideelle Bedeutung des Zeichens. – Die Überwindung der Abbildtheorie 41
Erster Teil: Zur Phänomenologie der sprachlichen Form
Kapitel I : Das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie
I. Das Sprachproblem in der Geschichte des philosophischen Idealismus (Platon, Descartes, Leibniz) 55
II. Die Stellung des Sprachproblems in den Systemen des Empirismus (Bacon, Hobbes, Locke, Berkeley) 73
III. Die Philosophie der französischen Aufklärung (Condillac, Maupertuis, Diderot) 80
IV. Die Sprache als Affektausdruck. – Das Problem des „Ursprungs der Sprache“ (Giambattista Vico, Hamann, Herder, Die Romantik) 89
V. Wilhelm von Humboldt 98
VI. August Schleicher und der Fortgang zur „naturwissenschaftlichen“ Sprachansicht 106
VII. Die Begründung der modernen Sprachwissenschaft und das Problem der „Lautgesetze“ 112
Kapitel II : Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks
I. Die Sprache als Ausdrucksbewegung. – Gebärdensprache und Wortsprache 122
II. Mimischer, analogischer und symbolischer Ausdruck 132
Kapitel III : Die Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks
I. Der Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen 146
II. Die Zeitvorstellung 166
III. Die sprachliche Entwicklung des Zahlbegriffs 180
IV. Die Sprache und das Gebiet der „inneren Anschauung“. – Die Phasen des Ichbegriffs
1. Die Herausarbeitung der „Subjektivität“ im sprachlichen Ausdruck 208
2. Personaler und possessiver Ausdruck 220
3. Der nominale und der verbale Typus des Sprachausdrucks 228

[XII]

Kapitel IV : Die Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. –
Die Form der sprachlichen Begriffs- und Klassenbildung
Seite
I. Die qualifizierende Begriffsbildung 244
II. Grundrichtungen der sprachlichen Klassenbildung 264
Kapitel V : Die Sprache als Ausdruck der logischen Beziehungsformen. –
Die Relationsbegriffe
274