Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil/Einleitung

Einleitung und Problemstellung
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aus: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil
Seite: 1–51
von: Ernst Cassirer
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EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG

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I

Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation wird durch den Begriff des Seins bezeichnet. In dem Augenblick, da dieser Begriff sich als solcher konstituiert, da gegenüber der Vielfältigkeit und Verschiedenheit des Seienden das Bewußtsein von der Einheit des Seins erwacht, entsteht erst die spezifisch-philosophische Richtung der Weltbetrachtung. Aber noch auf lange Zeit bleibt diese Betrachtung in dem Umkreis des Seienden, den sie zu verlassen und zu überwinden strebt, gebunden. Der Anfang und Ursprung, der letzte „Grund“ alles Seins soll ausgesprochen werden: aber so klar diese Frage gestellt wird, so wenig reicht die Antwort, die für sie gefunden wird, in ihrer besonderen konkreten Bestimmtheit an diese höchste und allgemeinste Fassung des Problems heran. Was als das Wesen, als die Substanz der Welt bezeichnet wird, das greift nicht prinzipiell über sie hinaus, sondern ist nur ein Auszug aus eben dieser Welt selbst. Ein einzelnes, besonderes und beschränktes Seiende wird herausgegriffen, um aus ihm alles andere genetisch abzuleiten und zu „erklären“. Diese Erklärung verharrt demnach, so wechselvoll sie sich inhaltlich auch gestalten mag, ihrer allgemeinen Form nach, doch stets innerhalb derselben methodischen Grenzen. Anfangs ist es ein selbst noch sinnliches Einzeldasein, ein konkreter „Urstoff“, der als letzter Grund für die Gesamtheit der Erscheinungen aufgestellt wird; dann wendet sich die Erklärung ins Ideelle und an Stelle dieses Stoffes tritt bestimmter ein rein gedankliches „Prinzip“ der Ableitung und Begründung heraus. Aber auch dieses steht, näher betrachtet, noch in einer schwebenden Mitte zwischen dem „Physischen“ und „Geistigen“. So sehr es die Farbe des Ideellen trägt, so ist es doch auf der anderen Seite der Welt des Existierenden aufs engste verhaftet. In diesem Sinne bleibt die Zahl der Pythagoreer, bleibt das Atom Demokrits, so groß der Abstand ist, der beide von dem Urstoff der Ionier trennt, ein methodisches Zwitterwesen, das in sich selbst seine eigentliche Natur noch nicht gefunden und sich gleichsam über seine wahre geistige Heimat noch nicht entschieden hat. Diese innere Unsicherheit wird endgültig erst in der Ideenlehre Platons überwunden. [4] Die große systematische und geschichtliche Leistung dieser Lehre besteht darin, daß in ihr die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philosophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in expliziter Gestalt heraustritt. Was Platon unter dem Namen der „Idee“ sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den Eleaten, bei den Pythagoreern, bei Demokrit als immanentes Prinzip wirksam; aber bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt. Platon selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstanden. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum erstenmal als Problem erkannt worden sei. Er fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegenüber verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen, zu Mythen vom Sein.[1] Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und damit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie seit Parmenides als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und tiefere Bedeutung. Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und Wert des Prinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren „über“ dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt. –

In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich sodann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffenheit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt – da formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des Denkens um. Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch hier geht der Weg nicht einzig von den „Tatsachen“ zu den „Gesetzen“ und [5] von diesen wieder zu den „Axiomen“ und „Grundsätzen“ zurück: sondern eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr „Sein“ und ihren „Gegenstand“ bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten – und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist[2]. Heinrich Hertz hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine „Prinzipien der Mechanik“ einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht. Er bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: – das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns „innere Scheinbilder oder Symbole“ der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. „Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden … Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgendeine [6] weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.“[3]

So fährt die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, auf der Heinrich Hertz fußt, – so fährt die Theorie der „Zeichen“, wie sie zuerst von Helmholtz eingehend entwickelt worden ist, fort, die Sprache der Abbildtheorie der Erkenntnis zu sprechen; – aber der Begriff des „Bildes“ hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren. Denn an die Stelle einer irgendwie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine allgemeine intellektuelle Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der physikalischen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst aus sich heraus erst herstellen. Der Zusammenhang der objektiven Gegenstände und die Art ihrer wechselseitigen Abhängigkeit soll im System der physikalischen Begriffe überschaut werden, – aber diese Überschau wird nur möglich, sofern diese Begriffe schon von Anfang an einer bestimmten einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis angehören. Der Gegenstand läßt sich nicht als ein nacktes Ansich unabhängig von den wesentlichen Kategorien der Naturerkenntnis hinstellen, sondern nur in diesen Kategorien, die seine eigene Form erst konstituieren, zur Darstellung bringen. In diesem Sinne werden für Hertz die Grundbegriffe der Mechanik, insbesondere die Begriffe von Masse und Kraft zu „Scheinbildern“, die, wie sie von der Logik der Naturerkenntnis geschaffen sind, auch den allgemeinen Forderungen dieser Logik unterstehen, unter denen die apriorische Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit der Beschreibung den ersten Platz einnimmt.

Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoffnung und den Anspruch auf eine „unmittelbare“ Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß. Und in dieser Einsicht liegt nun eine weitere und folgenreiche idealistische Konsequenz beschlossen. Wenn die Definition, die Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes immer nur durch das Medium einer eigentümlichen logischen Begriffsstruktur erfolgen kann, so ist die Folgerung nicht abzuweisen, daß einer Verschiedenheit dieser Medien [7] auch eine verschiedene Fügung des Objekts, ein verschiedener Sinn „gegenständlicher“ Zusammenhänge entsprechen muß. Selbst innerhalb des Umkreises der „Natur“ fällt sodann der physikalische Gegenstand nicht schlechthin mit dem chemischen, der chemische nicht schlechthin mit dem biologischen zusammen – weil die physikalische, die chemische, die biologische Erkenntnis je einen besonderen Gesichtspunkt der Fragestellung in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen. Fast kann es den Anschein haben, als sei durch dieses Resultat der idealistischen Gedankenentwicklung die Erwartung, mit der sie begonnen hatte, endgültig vereitelt. Das Ende dieser Entwicklung scheint ihren Anfang zu negieren – denn wieder droht nun die gesuchte und geforderte Einheit des Seins in eine bloße Mannigfaltigkeit des Seienden auseinanderzugehen. Das Eine Sein, an dem das Denken fest hält und von dem es nicht ablassen zu können scheint, ohne seine eigene Form zu zerstören, zieht sich aus dem Gebiet der Erkenntnis mehr und mehr zurück. Es wird zu einem bloßen X, das, je strenger es seine metaphysische Einheit als „Ding an sich“ behauptet, umsomehr aller Möglichkeit des Erkennens entrückt und schließlich völlig ins Gebiet des Unerkennbaren abgedrängt wird. Diesem starren metaphysischen Absolutum aber steht nun das Reich der Erscheinungen, das eigentliche Gebiet des Wiss- und Kennbaren, in seiner unveräußerlichen Vielheit, in seiner Bedingtheit und Relativität gegenüber. Schärfer betrachtet aber ist freilich eben in dieser schlechthin unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig abgewiesen, sondern sie ist hier vielmehr in einer neuen Form gestellt. Die Einheit des Wissens kann jetzt allerdings nicht mehr dadurch verbürgt und sichergestellt werden, daß es in all seinen Formen auf ein gemeinsames „einfaches“ Objekt bezogen wird, das sich zu diesen Formen wie das transzendente Urbild zu den empirischen Abbildern verhält, – aber statt dessen ergibt sich jetzt die andere Forderung, die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen einzelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich wechselseitig bedingen und fordern. Das Postulat einer derartigen rein funktionellen Einheit tritt nunmehr an die Stelle des Postulats der Einheit des Substrats und der Einheit des Ursprungs, von dem der antike Seinsbegriff wesentlich beherrscht wurde. Von hier aus ergibt sich die neue Aufgabe, die der philosophischen Kritik der Erkenntnis gestellt ist. Sie muß den [8] Weg, den die besonderen Wissenschaften im Einzelnen beschreiten, im Ganzen verfolgen und im Ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen. Und wenn diese letztere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip, von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt. –

Aber noch einmal weitet sich an dieser Stelle der Blick, sobald man erwägt, daß die Erkenntnis, so universell und umfassend ihr Begriff auch genommen werden mag, doch im Ganzen der geistigen Erfassung und Deutung des Seins, immer nur eine einzelne Art der Formgebung darstellt. Sie ist eine Gestaltung des Mannigfaltigen, die von einem spezifischen, damit aber zugleich von einem in sich selbst klar und scharf begrenzten Prinzip geleitet wird. Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des „Satzes vom Grunde“ zu unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem es als Glied eines sei es logischen, sei es teleologischen oder kausalen „Gefüges“ erscheint. Auf dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform bleibt die Erkenntnis wesentlich gerichtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich als gewisse Weisen der „Objektivierung“ bezeichnen: d. h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes. Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes [9] aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte „Bedeutung“, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des „Wirklichen“. Sie sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt. Faßt man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem heraus, das einen neuen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften erschließt. –

Die „Revolution der Denkart“, die Kant innerhalb der theoretischen Philosophie durchführt, beruht auf dem Grundgedanken, daß das Verhältnis, das bisher zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstande allgemein angenommen wurde, einer radikalen Umwendung bedürfe. Statt vom Gegenstand als dem Bekannten und Gegebenen auszugehen, müsse vielmehr mit dem Gesetz der Erkenntnis als dem allein wahrhaft Zugänglichen und als dem primär Gesicherten begonnen werden; statt die allgemeinsten Eigenschaften des Seins im Sinne der ontologischen Metaphysik zu bestimmen, müsse durch eine Analyse des Verstandes die Grundform des Urteils als der Bedingung, unter welcher Objektivität allein setzbar ist, ermittelt und in allen ihren mannigfachen Verzweigungen bestimmt werden. Diese Analyse erschließt nach Kant erst die Bedingungen, auf denen jedes Wissen vom Sein und auf denen sein reiner Begriff selbst beruht. Aber der Gegenstand, den die transzendentale Analytik auf diese Weise vor uns hinstellt, ist als Korrelat der synthetischen Einheit des Verstandes, selbst ein rein logisch bestimmter Gegenstand. Er bezeichnet daher nicht alle Objektivität schlechthin, sondern nur jene Form der objektiven Gesetzlichkeit, die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft, insbesondere in den Begriffen und Grundsätzen der mathematischen [10] Physik fassen und darstellen läßt. So erweist er sich schon für Kant selbst, sobald er dazu fortschreitet, in dem Ganzen der drei Kritiken das wahrhafte „System der reinen Vernunft“ zu entwickeln, als zu eng. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Sein erschöpft in seiner idealistischen Fassung und Deutung nicht alle Wirklichkeit, weil in ihm bei weitem nicht alle Wirksamkeit des Geistes und seiner Spontaneität befaßt ist. In dem intelligiblen Reich der Freiheit, dessen Grundgesetz die Kritik der praktischen Vernunft entwickelt, in dem Reich der Kunst und im Reich der organischen Naturformen, wie es sich in der Kritik der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft darstellt, tritt je eine neue Seite dieser Wirklichkeit heraus. Diese allmähliche Entfaltung des kritisch-idealistischen Begriffs der Wirklichkeit und des kritisch-idealistischen Begriffs des Geistes gehört zu den eigentümlichsten Zügen des Kantischen Denkens und ist geradezu in einer Art Stilgesetz dieses Denkens begründet. Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt werden, als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird. Es liegt in der Natur dieses Prozesses, daß sein Anfang und sein Ende nicht nur auseinanderfallen, sondern daß sie einander scheinbar widerstreiten müssen – aber der Widerstreit ist kein anderer, als er zwischen Potenz und Akt, zwischen der bloßen logischen „Anlage“ eines Begriffs und seiner vollständigen Entwicklung und Auswirkung besteht. Vom Standpunkt dieser letzteren nimmt auch die Copernikanische Drehung, mit der Kant begonnen hatte, einen neuen und erweiterten Sinn an. Sie bezieht sich nicht allein auf die logische Urteilsfunktion, sondern greift mit gleichem Grund und Recht auf jede Richtung und auf jedes Prinzip geistiger Gestaltung über. Immer liegt die entscheidende Frage darin, ob wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser „begründet“ sein lassen. Diese Frage bildet das geistige Band, das die verschiedenen Problemgebiete mit einander verknüpft: – sie stellt deren innere methodische Einheit dar, ohne sie jemals in eine sachliche Einerleiheit zusammenfallen zu lassen. Denn das Grundprinzip des kritischen Denkens, das Prinzip des „Primats“ der Funktion von dem Gegenstand, nimmt in jedem Sondergebiet eine neue Gestalt an und verlangt eine neue selbständige Begründung. Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des [11] sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.

Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung. Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. Der Gegenstand der Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Gesetz in irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden – aber er muß nichtsdestoweniger, wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den Grundkategorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein. Geht man dagegen nicht sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus, so gewinnt damit die Frage alsbald eine veränderte Gestalt. Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das „Sein“ ist hier nirgends anders als im „Tun“ erfaßbar. Nur sofern es eine spezifische Richtung der ästhetischen Phantasie und der ästhetischen Anschauung gibt, gibt es ein Gebiet ästhetischer Gegenstände, – und das Gleiche gilt für alle übrigen geistigen Energien, kraft deren für uns die Form und der Umriß eines bestimmten Gegenstandsbereichs sich gestaltet. Auch das religiöse Bewußtsein bildet – so sehr es von der „Realität“, von der Wahrheit seines Gegenstandes überzeugt ist – diese Realität nur auf der untersten Stufe, nur auf der Stufe eines rein mythologischen Denkens, in eine einfache dingliche Existenz um. Auf allen höheren Stufen der Betrachtung dagegen ist es sich mehr oder minder deutlich bewußt, daß es seinen Gegenstand nur dadurch „hat“, daß es sich in einer durchaus eigenartigen, ihm allein zugehörigen Weise auf ihn bezieht. Es ist eine Art des Sich-Verhaltens, es ist die Richtung, die sich der Geist auf ein gedachtes Objektive gibt, in welcher hier die letzte Gewähr eben dieser Objektivität selbst enthalten ist. Das philosophische Denken tritt all diesen Richtungen gegenüber [12] – nicht lediglich in der Absicht, jede von ihnen gesondert zu verfolgen oder sie im Ganzen zu überblicken, sondern mit der Voraussetzung, daß es möglich sein müsse, sie auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf ein ideelles Zentrum zu beziehen. Dieses Zentrum aber kann, kritisch betrachtet, niemals in einem gegebenen Sein, sondern nur in einer gemeinsamen Aufgabe liegen. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.

Denn wie die moderne Sprachphilosophie, um den eigentlichen Ansatzpunkt für eine philosophische Betrachtung der Sprache zu finden, den Begriff der „inneren Sprachform“ aufgestellt hat – so läßt sich sagen, daß eine analoge „innere Form“ auch für die Religion und den Mythos, für die Kunst und für die wissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen und zu suchen ist. Und diese Form bedeutet nicht lediglich die Summe oder die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen dieser Gebiete, sondern das bedingende Gesetz ihres Aufbaus. Freilich gibt es zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen „abstrahieren“; aber eben diese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwendiges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Einzelnen. Die Philosophie ist sich im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer mehr oder weniger bewußt geblieben; aber sie hat zumeist nur Teile dieser Aufgabe, und zwar mehr in negativer als in positiver Absicht, direkt in Angriff genommen. Ihr Bestreben ging in dieser Kritik häufig weniger auf die Darstellung und Begründung der positiven Leistungen jeder Einzelform, als auf die Abwehr falscher Ansprüche. Seit den Tagen der griechischen Sophistik gibt es eine skeptische Sprachkritik, wie es eine skeptische Mythenkritik und Erkenntniskritik gibt. Diese wesentlich negative Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich in Anspruch zu nehmen. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres besonderen Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit [13] sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzudrücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs. Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. Aber indem sie die Sprache als Material und Grundlage benutzt, schreitet sie zugleich notwendig über sie hinaus. Ein neuer „Logos“, der von einem anderen Prinzip als dem des sprachlichen Denkens geleitet und beherrscht wird, tritt nun hervor und bildet sich immer schärfer, immer selbständiger aus. Und an ihm gemessen, erscheinen nun die Bildungen der Sprache nur noch wie Hemmungen und Schranken, die durch die Kraft und Eigenart des neuen Prinzips fortschreitend überwunden werden müssen. Die Kritik der Sprache und der sprachlichen Denkform wird zu einem integrierenden Bestand des vordringenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens. Und auch in den übrigen Gebieten wiederholt sich dieser typische Gang der Entwicklung. Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist. Die Religion und die Kunst stehen in ihrem rein geschichtlichen Wirken einander so nahe und durchdringen sich derart, daß beide bisweilen auch ihrem Gehalt und dem inneren Prinzip des Bildens nach ununterscheidbar zu werden scheinen. Von den Göttern Griechenlands hat man gesagt, daß sie Homer und Hesiod ihre Entstehung verdanken. Und doch scheidet sich andererseits gerade das religiöse Denken der Griechen in seinem weiteren Fortgang immer bestimmter von diesem seinem ästhetischen Anfang und Urgrund. Immer entschiedener lehnt es sich seit Xenophanes gegen den mythisch-dichterischen und gegen den sinnlich-plastischen Gottesbegriff auf, den es als Anthropomorphismus erkennt und verwirft. In derartigen geistigen Kämpfen und Konflikten, wie sie sich in der Geschichte in immer neuer Potenzierung und Steigerung darstellen, scheint von der Philosophie als der höchsten Einheitsinstanz die alleinige letzte Entscheidung zu erwarten zu sein. Aber die dogmatischen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forderung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in dem Kampfe, der sich hier vollzieht, nicht über ihm: sie vertreten trotz [14] aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu begreifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypostasen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab. Der Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: – einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, „transzendenten“ Sein oder Prinzip haben. Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.

An Versuchen und Ansätzen zu einer derartigen Systematik hat es seit den Anfängen der neueren Philosophie und seit der Grundlegung des modernen philosophischen Idealismus nicht gefehlt. Schon Descartes’ methodische Programmschrift, schon die „Regulae ad directionem ingenii“ weisen zwar den Versuch der alten Metaphysik, die Gesamtheit der Dinge zu überblicken und in die letzten Geheimnisse der Natur eindringen zu wollen, als vergeblich ab, aber um so nachdrücklicher bestehen sie darauf, daß es möglich sein müsse, die „universitas“ des Geistes gedanklich zu erschöpfen und auszumessen. „Ingenii limites definire“ das Gesamtgebiet und die Grenzen des Geistes zu bestimmen: dieser Wahlspruch Descartes’ wird nunmehr zum Leitwort der gesamten neueren Philosophie. Aber der Begriff des „Geistes“ ist hierbei in sich selbst noch zwiespältig und zweideutig, da er bald im engeren, bald im weiteren Sinne gebraucht wird. Wie die Philosophie Descartes’ von einem neuen umfassenden Begriff des Bewußtseins ausgeht, dann aber diesen Begriff, im Ausdruck der cogitatio, wieder mit dem reinen Denken zusammenfallen läßt – so fällt für Descartes und für den gesamten Rationalismus auch die Systematik des Geistes mit der des Denkens zusammen. [15] Die universitas des Geistes, seine konkrete Totalität gilt daher erst dann als wahrhaft erfaßt und als philosophisch durchdrungen, wenn es gelingt, sie aus einem einzigen logischen Prinzip zu deduzieren. Damit ist die reine Form der Logik wieder zum Prototyp und Vorbild für jegliches geistige Sein und jegliche geistige Form erhoben. Und wie bei Descartes, der die Reihe der Systeme des klassischen Idealismus beginnt, so steht bei Hegel, der diese Reihe abschließt, dieser methodische Zusammenhang noch einmal in voller Deutlichkeit vor uns. Die Forderung, das Ganze des Geistes als konkretes Ganze zu denken, also nicht bei seinem einfachen Begriff stehen zu bleiben, sondern ihn in die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln, hat Hegel mit einer Schärfe, wie kein Denker vor ihm, gestellt. Und doch soll andererseits die Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung zu erfüllen strebt, damit nur der Logik den Boden und den Weg bereiten. Die Mannigfaltigkeit der geistigen Formen, wie sie die Phänomenologie aufstellt, läuft zuletzt gleichsam in eine höchste logische Spitze aus – und in diesem ihrem Ende findet sie erst ihre vollendete „Wahrheit“ und Wesenheit. So reich und vielgestaltig sie ihrem Inhalt nach ist, so untersteht sie doch ihrer Struktur nach einem einzigen und im gewissen Sinne einförmigen Gesetz – dem Gesetz der dialektischen Methode, das den sich gleichbleibenden Rhythmus in der Selbstbewegung des Begriffs darstellt. Der Geist beschließt alle Bewegung seines Gestaltens im absoluten Wissen, indem er hier das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewinnt. In diesem seinem letzten Ziel sind alle früheren Stadien, die er durchlaufen, zwar noch als Momente enthalten, aber auch zu bloßen Momenten aufgehoben. Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen nur der Form des Logischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis eine echte und wahrhafte Autonomie zu gebühren. Der Begriff ist nicht nur das Mittel, das konkrete Leben des Geistes darzustellen, sondern er ist das eigentliche substantielle Element des Geistes selbst. Demnach wird alles geistige Sein und Geschehen, so sehr es in seiner spezifischen Besonderung erfaßt und in dieser Besonderung anerkannt werden soll, doch zuletzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert – und diese Beziehung ist es erst, in welcher sein tiefster Gehalt und seine eigentliche Bedeutung erfaßt wird.

Und in der Tat scheint diese letzte Zentrierung aller geistigen Formen in der einen logischen Form durch den Begriff der Philosophie selbst und insbesondere durch das Grundprinzip des philosophischen Idealismus notwendig gefordert zu sein. Denn verzichtet man auf diese Einheit, so [16] scheint überhaupt von einer strengen Systematik dieser Formen keine Rede mehr sein zu können. Als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode bleibt alsdann nur ein rein empirisches Verfahren übrig. Läßt sich kein allgemeines Gesetz aufweisen, kraft dessen die eine geistige Form mit Notwendigkeit aus der anderen hervorgeht, bis schließlich die ganze Reihe der geistigen Gestaltungen gemäß diesem Prinzip durchlaufen ist – so läßt sich, wie es scheint, der Inbegriff dieser Gestaltungen nicht mehr als ein in sich geschlossener Kosmos denken. Die einzelnen Formen stehen dann einfach nebeneinander: sie lassen sich zwar ihrem Umfang nach übersehen und in ihrer Besonderheit beschreiben, aber es drückt sich in ihnen nicht mehr ein gemeinsamer ideeller Gehalt aus. Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte u. s. f. darstellen und spezifizieren würde. Somit ergibt sich an diesem Punkte ein eigentümliches Dilemma. Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest, so droht zuletzt in der Allgemeinheit der logischen Form die Besonderung jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen – versenken wir uns dagegen in eben diese Individualität und bleiben wir bei ihrer Betrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu verlieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu finden. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. Dann ließe sich im Hinblick auf dieses Moment der ideelle Zusammenhang der einzelnen Gebiete – der Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Erkenntnis, des Ästhetischen und des Religiösen – behaupten, ohne daß in ihm die unvergleichliche Eigenheit einer jeden von ihnen verloren ginge. Wenn sich ein Medium finden ließe, durch welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht, und in welchem sie nichtsdestoweniger ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt, – so wäre damit das notwendige Mittelglied für eine Betrachtung gegeben, die dasjenige, was die transzendentale Kritik für die reine Erkenntnis leistet, auf die Allheit der geistigen Formen überträgt. Die nächste Frage, die wir uns zu stellen haben, wird also darin bestehen, ob es in der Tat für die mannigfachen Richtungen des Geistes ein solches mittleres Gebiet und eine vermittelnde Funktion gibt, und ob diese Funktion bestimmte [17] typische Grundzüge aufweist, kraft deren sie sich erkennen und beschreiben läßt.

II

Wir greifen hierfür zunächst wieder auf den Begriff des „Symbols“ zurück, wie ihn Heinrich Hertz vom Standpunkt der physikalischen Erkenntnis fordert und kennzeichnet. Was der Physiker in den Erscheinungen sucht ist die Darstellung ihrer notwendigen Verknüpfung. Aber diese Darstellung läßt sich nicht anders vollziehen, als dadurch, daß er die unmittelbare Welt der sinnlichen Eindrücke nicht nur hinter sich läßt, sondern sich scheinbar völlig von ihnen abwendet. Die Begriffe, mit denen er operiert, die Begriffe des Raumes und der Zeit, der Masse und der Kraft, des materiellen Punktes und der Energie, des Atoms oder des Äthers sind freie „Scheinbilder“, die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen und als gesetzlich-geordnete Welt zu übersehen, denen aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht. Aber obwohl keine derartige Entsprechung stattfindet – und vielleicht gerade weil sie nicht stattfindet – ist doch die Begriffswelt der Physik in sich selbst völlig geschlossen. Jeder Einzelbegriff, jedes besondere Scheinbild und Zeichen gleicht dem artikulierten Wort einer in sich bedeutungs- und sinnvollen, nach festen Regeln gegliederten Sprache. Schon in den ersten Anfängen der modernen Physik, schon bei Galilei findet sich der Vergleich, daß das „Buch der Natur“ in mathematischer Sprache verfaßt und nur in mathematischer Chiffreschrift lesbar sei. Und seither zeigt die gesamte Entwicklung der exakten Naturwissenschaft, wie in der Tat jeder Fortschritt ihrer Problemstellung und ihrer Begriffsmittel mit einer zunehmenden Verfeinerung ihres Zeichensystems Hand in Hand ging. Die scharfe Erfassung der Grundbegriffe der Galileischen Mechanik gelang erst, als durch den Algorithmus der Differentialrechnung gleichsam der allgemein logische Ort dieser Begriffe bestimmt und ein allgemeingültiges mathematisch-logisches Zeichen für sie geschaffen war. Und von hier aus, von den Problemen, die mit der Entdeckung der Analysis des Unendlichen zusammenhingen, vermochte Leibniz alsbald das allgemeine Problem, das in der Funktion der Zeichengebung enthalten ist, aufs schärfste zu bestimmen, vermochte er den Plan seiner universellen „Charakteristik“ zu einer wahrhaft philosophischen Bedeutung zu erheben. Die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht, kann nach der Grundüberzeugung, die er vertritt und festhält, von der [18] Logik der Zeichen nicht getrennt werden. Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft desssen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt. Jedes „Gesetz“ der Natur nimmt für unser Denken die Gestalt einer allgemeinen „Formel“ an – jede Formel aber läßt sich nicht anders denn durch eine Verknüpfung allgemeiner und spezifischer Zeichen darstellen. Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderes Naturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt.

Aber dieses Wechselverhältnis bleibt nun nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern geht auch durch alle anderen Grundformen geistigen Schaffens hindurch. Für sie alle gilt, daß sie die ihnen gemäße und eigentümliche Auffassungs- und Gestaltungsweise nur dadurch zur Geltung bringen können, daß sie für sie gleichsam ein bestimmtes sinnliches Substrat erschaffen. So wesentlich ist hier dieses Substrat, daß es bisweilen den gesamten Bedeutungsgehalt, den eigentlichen „Sinn“ dieser Formen zu umschliessen scheint. Die Sprache scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen – die Welt der Kunst und die des Mythos scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich-faßbaren Gestalten, die beide vor uns hinstellen, zu erschöpfen. Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der „allgemeinen Charakteristik“, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen alsdann [19] eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.

Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem „mundus sensibilis“ einen anderen Kosmos, den „mundus intelligibilis“ gegenüberzustellen und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. Im wesentlichen aber verlief die Grenze derart, daß die Welt des Intelligiblen durch das Moment des reinen Tuns, die Welt des Sinnlichen durch das Moment des Leidens bestimmt wurde. Dort herrschte die freie Spontaneität des Geistigen, hier die Gebundenheit, die Passivität des Sinnlichen. Für jene „allgemeine Charakteristik“ aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dieser Gegensatz kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. Im Kreis des Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße „Reaktion“ und dem, was reine „Aktion“ ist, zwischen dem, was der Sphäre des „Eindrucks“ und dem, was der Sphäre des „Ausdrucks“ angehört, unterschieden werden. Der dogmatische Sensualismus fehlt nicht nur darin, daß er die Bedeutung und Leistung der rein intellektuellen Faktoren unterschätzt, sondern vor allem auch darin, daß er die Sinnlichkeit selbst, wenngleich er sie als eigentliche Grundkraft des Geistes proklamiert, keineswegs in der ganzen Weite ihres Begriffs und in der Totalität ihrer Leistungen erfaßt. Er entwirft auch von ihr ein ungenügendes und verstümmeltes Bild, sofern er sie lediglich auf die Welt der „Impressionen“, auf die unmittelbare Gegebenheit der einfachen Empfindungen beschränkt. Darin ist verkannt, daß es auch eine Aktivität des Sinnlichen selbst, daß es, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, auch eine „exakte sinnliche Phantasie“ gibt, die sich in den verschiedensten Gebieten geistigen Schaffens als wirksam erweist. In ihnen allen zeigt sich in der Tat dies als das eigentliche Vehikel ihres immanenten Fortgangs, daß sie neben und über der Welt der Wahrnehmung eine eigene freie Bildwelt erstehen lassen: eine Welt, die ihrer unmittelbaren [20] Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt, die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinnlichkeit darstellt. Hier handelt es sich nicht um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden.

So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es „benennen“ und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen ganz neuen „Bestand“, weil eine neue geistige Artikulation. Die Unterscheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über die bloße Unmittelbarkeit der sogen. sinnlichen Qualitäten erhoben sind. So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiterhin in der Bildung des Begriffs, als wissenschaftlichen Begriffs, als bestimmter logischer Formeinheit äußert. Hier liegt der erste Anfang jener allgemeinsten Funktion des Trennens und Verknüpfens, die ihren höchsten bewußten Ausdruck in den Analysen und Synthesen des wissenschaftlichen Denkens findet. Und neben der Welt der Sprach- und Begriffszeichen steht nun, mit ihr unvergleichbar und ihr dennoch dem geistigen Ursprung nach verwandt, jene Gestaltenwelt, die der Mythos oder die Kunst erschafft. Denn auch die mythische Phantasie ist, so stark sie im Sinnlichen wurzelt, doch über die bloße Passivität des Sinnlichen hinaus. Mißt man sie an den gewöhnlichen empirischen Maßstäben, wie sie die sinnliche Erfahrung uns darbietet, so müssen ihre Gebilde als schlechthin „unwirklich“ erscheinen, aber gerade in dieser Unwirklichkeit bekundet sich die Spontaneität und die innere Freiheit der mythischen Funktion. Und diese Freiheit fällt keineswegs mit einer völlig gesetzlosen Willkür zusammen. Die Welt des Mythos ist kein bloßes Gebilde der Laune oder des Zufalls, sondern sie hat ihre eigenen Fundamentalgesetze des Bildens, die durch alle ihre besonderen Äußerungen hindurchwirken. Im Gebiet der künstlerischen Anschauung wird es sodann vollends deutlich, daß alle Auffassung einer ästhetischen Form am Sinnlichen nur dadurch möglich wird, daß wir selbst die Grundelemente der Form bildend erzeugen. Alles Verständnis [21] räumlicher Gestalten z. B. ist zuletzt an diese Tätigkeit ihrer inneren Produktion und an die Gesetzmäßigkeit dieser Produktion gebunden. So zeigt sich durchweg, wie gerade die höchste und reinste geistige Aktivität, die das Bewußtsein kennt, durch bestimmte Weisen der sinnlichen Aktivität bedingt und vermittelt ist. Auch hier haben wir das eigentliche und wesentliche Leben der reinen Idee immer nur am farbigen Abglanz der Erscheinungen. Das System der mannigfachen Äußerungen des Geistes ist für uns nicht anders erfaßbar, als dadurch, daß wir die verschiedenen Richtungen seiner ursprünglichen Bildkraft verfolgen. In dieser erblicken wir im Reflex die Wesenheit des Geistes – denn diese kann sich für uns nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen Materials betätigt.

Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten. Sie alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewußtseinserscheinungen hinaus; – sie beanspruchen ihnen gegenüber ein Allgemeingültiges hinzustellen. Dieser Anspruch mag sich vor einer späteren kritisch-philosophischen Betrachtung und vor ihrem entwickelten und durchgebildeten Wahrheitsbegriff möglicherweise als hinfällig erweisen; – aber daß er überhaupt erhoben wird, gehört zum Wesen und Charakter der einzelnen Grundformen selbst. Sie selbst sehen ihre Gebilde nicht nur überhaupt als objektiv-gültig, sondern zumeist geradezu als den eigentlichen Kern des Objektiven, des „Wirklichen“ an. So ist es für die ersten gleichsam naiven und unreflektierten Äußerungen des sprachlichen Denkens, wie für das Denken des Mythos bezeichnend, daß sich für sie der Inhalt der „Sache“ und der des „Zeichens“ nicht deutlich scheidet, sondern daß beides in völliger Indifferenz in einander überzugehen pflegt. Der Name einer Sache und diese selbst sind untrennbar mit einander verschmolzen; – das bloße Wort oder Bild birgt in sich eine magische Kraft, durch die sich uns das Wesen des Dinges zu eigen gibt. Und man braucht diese Anschauung nur vom Reellen ins Ideelle, vom Dinglichen ins Funktionale zu wenden, um in ihr in der Tat einen berechtigten Kern zu entdecken. Denn wirklich bildet in der immanenten Entwicklung des Geistes der Gewinn des Zeichens stets einen ersten und notwendigen Schritt für die Gewinnung der objektiven Wesenserkenntnis. Das Zeichen bildet gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen [22] Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und herausgehoben wird. Kein bloßer Inhalt des Bewußtseins kehrt als solcher, nachdem er einmal vergangen und durch andere ersetzt ist, in streng-identischer Bestimmtheit wieder. Er ist als das, was er war, ein für alle mal dahin, sobald er aus dem Bewußtsein geschwunden ist. Aber diesem unaufhörlichen Wechsel der inhaltlichen Qualitäten stellt nun das Bewußtsein die Einheit seiner selbst und seiner Form gegenüber. Seine Identität beweist sich nicht in dem, was es ist oder hat, sondern in dem, was es tut, erst wahrhaft. Durch das Zeichen, das mit einem Inhalt verknüpft wird, gewinnt dieser in sich selbst einen neuen Bestand und eine neue Dauer. Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes „Allgemeines“ darstellt. In der symbolischen Funktion des Bewußtseins, wie sie sich in der Sprache, in der Kunst, im Mythos betätigt, heben sich zuerst aus dem Strom des Bewußtseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begrifflicher, teils rein anschaulicher Natur heraus; an die Stelle des verfließenden Inhalts tritt die in sich geschlossene und in sich beharrende Einheit der Form.

Dabei aber handelt es sich nicht um einen bloßen Einzelakt, sondern um einen stetig fortschreitenden Prozeß der Bestimmung, der der gesamten Entwicklung des Bewußtseins sein Gepräge gibt. Auf der ersten Stufe scheint die Fixierung, die dem Inhalt durch das sprachliche Zeichen, durch das mythische oder künstlerische Bild zuteil wird, über sein Festhalten in der Erinnerung, also über seine einfache Reproduktion nicht hinauszugehen. Das Zeichen scheint hier dem Inhalt, auf den es sich bezieht, nichts hinzuzufügen, sondern ihn einfach seinem reinen Bestand nach festzuhalten und zu wiederholen. Selbst in der psychologischen Entwicklungsgeschichte der Kunst hat man eine Phase der bloßen „Erinnerungskunst“ nachweisen zu können geglaubt, in der alle künstlerische Gestaltung noch in der einzigen Richtung wirkt, daß bestimmte Züge des Sinnlich-Wahrgenommenen hervorgehoben und in einem selbstgeschaffenen Bilde der Erinnerung dargeboten werden[4]. Aber je klarer die einzelnen Grundrichtungen in ihrer spezifischen Energie hervortreten, um so deutlicher wird zugleich, daß auch alle [23] scheinbare „Reproduktion“ für das Bewußtsein stets eine ursprüngliche und autonome Leistung zur Voraussetzung hat. Die Reproduzierbarkeit des Inhalts selbst ist an die Produktion eines Zeichens für ihn gebunden, in welcher das Bewußtsein frei und selbständig verfährt. Damit gewinnt auch der Begriff der „Erinnerung“ einen reicheren und tieferen Sinn. Um sich eines Inhalts zu erinnern, muß ihn sich das Bewußtsein zuvor auf eine andere Weise als in der bloßen Empfindung oder Wahrnehmung innerlich zu eigen gemacht haben. Hier genügt nicht die bloße Wiederholung des Gegebenen in einem anderen Zeitpunkt, sondern in ihr muß sich zugleich eine neue Art der Auffassung und Formung geltend machen. Denn jede „Reproduktion“ des Inhalts schließt schon eine neue Stufe der „Reflexion“ in sich. Schon indem das Bewußtsein ihn nicht mehr einfach als gegenwärtigen hinnimmt, sondern ihn als etwas Vergangenes und dennoch für es selbst nicht Verschwundenes im Bilde vor sich hinstellt, hat es durch dies veränderte Verhältnis, in das es zu ihm tritt, sich und ihm eine veränderte ideelle Bedeutung gegeben. Und diese tritt nun immer bestimmter und reicher hervor, je mehr die eigene Bildwelt des Ich sich differenziert. Das Ich übt jetzt nicht nur eine ursprüngliche Aktivität des Bildens aus, sondern es lernt sie zugleich tiefer und tiefer verstehen. Und damit treten die Grenzen der „subjektiven“ und der „objektiven“ Welt erst wahrhaft klar und scharf heraus. Es ist eine der wesentlichen Aufgaben der allgemeinen Erkenntniskritik, die Gesetze aufzuweisen, nach denen diese Abgrenzung sich innerhalb des rein theoretischen Gebiets, mit den Methoden des wissenschaftlichen Denkens, vollzieht. Sie zeigt, daß das „subjektive“ und das „objektive“ Sein nicht von Anfang an als starr geschiedene, inhaltlich völlig bestimmte Sphären einander gegenüberstehen, sondern daß beide erst im Prozeß der Erkenntnis und gemäß den Mitteln und Bedingungen desselben ihre Bestimmtheit gewinnen. So erweist sich die kategoriale Scheidung zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“ als eine durchgreifende, beständig wirksame Funktion des theoretischen Denkens, während die Art, wie diese Funktion ihre Erfüllung findet, wie also die Inhalte des „subjektiven“ und des „objektiven“ Seins sich gegen einander begrenzen, je nach der erreichten Erkenntnisstufe verschieden ist. Das „Objektive“ der Erfahrung sind, für die theoretisch-wissenschaftliche Weltbetrachtung, ihre beständigen und notwendigen Elemente – welchen Inhalten aber diese Beständigkeit und Notwendigkeit zuerkannt wird, das hängt einerseits von dem allgemeinen methodischen Maßstab ab, den das Denken an die Erfahrung anlegt, andererseits ist es durch den jeweiligen Stand der Erkenntnis, durch die [24] Gesamtheit ihrer empirisch und theoretisch gesicherten Einsichten bedingt. Die Art, in der wir den begrifflichen Gegensatz des „Subjektiven“ und „Objektiven“ in der Gestaltung der Erfahrungswelt, im Aufbau der Natur zur Anwendung und Durchführung bringen, zeigt sich, in diesem Zusammenhang betrachtet, nicht sowohl als die Lösung des Erkenntnisproblems, als vielmehr als der vollständige Ausdruck desselben[5]. Aber in seinem ganzen Reichtum und in seiner inneren Vielgestaltigkeit erscheint dieser Gegensatz erst dann, wenn wir ihn über die Grenzen des theoretischen Denkens und seiner spezifischen Begriffsmittel hinaus verfolgen. Nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Sprache, dem Mythos, der Kunst, der Religion ist es eigen, daß sie die Bausteine liefern, aus denen sich für uns die Welt des „Wirklichen“, wie die des Geistigen, die Welt des Ich aufbaut. Auch sie können wir nicht als einfache Gebilde in eine gegebene Welt hineinstellen, sondern wir müssen sie als Funktionen begreifen, kraft deren je eine eigentümliche Gestaltung des Seins und je eine besondere Teilung und Scheidung desselben sich vollzieht. Ebenso wie die Mittel verschieden sind, deren sich jede Funktion hierbei bedient, wie es ganz verschiedene Maßstäbe und Kriterien sind, die von jeder einzelnen vorausgesetzt und zur Anwendung gebracht werden, so ist auch das Ergebnis ein verschiedenes. Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist – so wahr es ein besonderes und unvergleichliches Grundverhältnis ist, das in ihnen zwischen „Innen“ und „Außen“, zwischen dem Sein des Ich und der Welt nicht sowohl bezeichnet, als vielmehr gestiftet wird. Ehe zwischen all diesen mannigfachen, einander kreuzenden und einander widersprechenden Ansichten und Ansprüchen entschieden werden kann, müssen sie zunächst in kritischer Genauigkeit und Strenge unterschieden werden. Die Leistung jeder einzelnen muß an ihr selbst, nicht an den Maßstäben und Forderungen irgendeiner anderen, gemessen werden – und erst am Ende dieser Betrachtung kann sich die Frage erheben, ob und wie alle diese verschiedenen Formen der Welt- und Ich-Auffassung miteinander vereinbar sind – ob sie zwar nicht ein und dasselbe, an sich bestehende „Ding“ abbilden, wohl aber sich zu einer Totalität und zu einer einheitlichen Systematik des geistigen Tuns ergänzen. –

Für die Philosophie der Sprache ist diese Betrachtungsweise zuerst von Wilh. v. Humboldt in voller Klarheit erfaßt und durchgeführt [25] worden. Für Humboldt ist das Lautzeichen, das die Materie aller Sprachbildung darstellt, gleichsam die Brücke zwischen dem Subjektiven und Objektiven, weil sich in ihm die wesentlichen Momente beider vereinen. Denn der Laut ist auf der einen Seite gesprochener und insofern von uns selbst hervorgebrachter und geformter Laut; auf der anderen Seite aber ist er, als gehörter Laut, ein Teil der sinnlichen Wirklichkeit, die uns umgibt. Wir erfassen und kennen ihn daher als ein zugleich „Inneres“ und „Äußeres“ – als eine Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren ausprägt und objektiviert. „Indem in der Sprache das geistige Bestreben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eigenen Ohr zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurückkehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich … Denn die Sprache kann ja nicht als ein daliegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer Stoff, sondern muß als ein sich ewig erzeugendes angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und gewissermaßen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben … Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten[6].“ In dieser kritisch-idealistischen Auffassung der Sprache ist zugleich ein Moment bezeichnet, das für jede Art und für jede Form der Symbolgebung gültig ist. In jedem von ihm frei entworfenen Zeichen erfaßt der Geist den „Gegenstand“, indem er dabei zugleich sich selbst und die eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt. Und diese eigentümliche Durchdringung bereitet erst der tieferen Bestimmung der Subjektivität wie der Objektivität den Boden. Auf der ersten Stufe dieser Bestimmung hat es den Anschein, als ob die beiden gegensätzlichen Momente noch einfach getrennt neben und gegen einander stünden. Die Sprache etwa kann in ihren frühesten Bildungen gleich sehr als reiner Ausdruck des Inneren, wie des Äußeren, als Ausdruck der bloßen Subjektivität, wie der bloßen Objektivität gefaßt werden. In der ersteren Hinsicht scheint der Sprachlaut nichts anderes als den Erregungs- und Affektlaut, in der zweiten nichts anderes als den einfachen Nachahmungslaut zu bedeuten. Die [26] verschiedenen spekulativen Ansichten, die über den „Ursprung der Sprache“ geäußert worden sind, bewegen sich in der Tat zwischen diesen beiden Extremen, deren keines jedoch den Kern und das geistige Wesen der Sprache selbst trifft. Denn durch sie wird weder ein einseitig Subjektives, noch ein einseitig Objektives bezeichnet und zum Ausdruck gebracht, sondern es tritt in ihr eine neue Vermittlung, eine eigentümliche Wechselbestimmung zwischen beiden Faktoren ein. Weder die bloße Entladung des Affekts, noch die Wiederholung objektiver lautlicher Reize stellt demgemäß schon den charakteristischen Sinn und die charakteristische Form der Sprache dar: diese entsteht vielmehr erst dort, wo beide Enden sich in eins verknüpfen und dadurch eine neue vorher nicht gegebene Synthese von „Ich“ und „Welt“ geschaffen wird. Und eine analoge Beziehung stellt sich weiterhin in jeder wahrhaft selbständigen und ursprünglichen Richtung des Bewußtseins her. Auch die Kunst kann so wenig als der bloße Ausdruck des Inneren, wie als die Wiedergabe der Gestalten einer äußeren Wirklichkeit bestimmt und begriffen werden, sondern auch in ihr liegt das entscheidende und auszeichnende Moment in der Art, wie durch sie das „Subjektive“ und das „Objektive“, wie das reine Gefühl und die reine Gestalt ineinander aufgehen und eben in diesem Aufgehen einen neuen Bestand und Inhalt gewinnen. Noch schärfer, als es in der Beschränkung auf die rein intellektuelle Funktion möglich ist, tritt in all diesen Beispielen hervor, daß wir in der Analyse der geistigen Formen nicht mit einer feststehenden dogmatischen Abgrenzung des Subjektiven gegen das Objektive beginnen können, sondern daß ihre Begrenzung und die Feststellung ihres Bereichs erst durch diese Formen selbst vollzogen wird. Jede besondere geistige Energie trägt in besonderer Weise zu dieser Feststellung bei und wirkt demgemäß an der Konstituierung des Ichbegriffs, wie des Weltbegriffs mit. Die Erkenntnis wie die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen des äußeren oder des inneren Seins, so wie sie sich in ihm erzeugen, einfach zurückwirft, sondern sie sind statt solcher indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung.

III

Das erste Problem, das uns in der Analyse der Sprache, der Kunst, des Mythos entgegentritt, besteht in der Frage, wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen „Bedeutung“ gemacht werden kann. Begnügt man sich damit, alle diese Gebiete [27] rein ihrem materiellen Bestand nach aufzufassen, also die Zeichen, deren sie sich bedienen, lediglich ihrer physischen Beschaffenheit nach zu beschreiben, so wird man auf einen Inbegriff besonderer Empfindungen, auf einfache Qualitäten des Gesichts-, Gehörs- oder Tastsinns als letzte Grundelemente zurückgeführt. Aber nun begibt sich das Wunder, daß diese einfache sinnliche Materie durch die Art, in der sie betrachtet wird, ein neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt. Indem der physische Laut, der sich als solcher nur durch Höhe und Tiefe, durch Intensität und Qualität unterscheidet, sich zum Sprachlaut formt, bestimmt er sich damit zum Ausdruck der feinsten gedanklichen und gefühlsmäßigen Differenzen. Was er unmittelbar ist, tritt jetzt völlig zurück gegenüber dem, was er mittelbar leistet und „besagt“. Auch die konkreten Einzelelemente, aus denen das Werk der Kunst sich aufbaut, zeigen deutlich dieses Grundverhältnis. Kein künstlerisches Gebilde läßt sich als die einfache Summe dieser Elemente verstehen, sondern in jedem wirkt ein bestimmtes Gesetz und ein spezifischer Sinn ästhetischer Formgebung. Die Synthese, in der das Bewußtsein eine Folge von Tönen zur Einheit einer Melodie verknüpft, ist von derjenigen, kraft deren eine Mannigfaltigkeit von Sprachlauten sich für uns zur Einheit eines „Satzes“ zusammenfügt, offenbar völlig verschieden. Aber gemeinsam ist ihnen das Eine, daß in beiden Fällen die sinnlichen Einzelheiten nicht für sich stehen bleiben, sondern daß sie sich einem Bewußtseins-Ganzen einfügen und von diesem erst ihren qualitativen Sinn erhalten. –

Versuchen wir, die Gesamtheit der Beziehungen, durch welche die Einheit des Bewußtseins bezeichnet und als solche konstituiert wird, in einem ersten allgemeinen Überblick vor uns hinzustellen, so werden wir zunächst auf eine Reihe bestimmter Grundrelationen geführt, die als eigentümliche und selbständige „Weisen“ der Verknüpfung einander gegenüberstehen. Das Moment des „Nebeneinander“, wie es sich in der Form des Raumes, das Moment des Nacheinander, wie es sich in der Form der Zeit darstellt – die Verknüpfung von Seinsbestimmungen in der Art, daß die eine als „Ding“, die andere als „Eigenschaft“ gefaßt wird, oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als Ursache des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ursprünglichen Beziehungsarten. Der Sensualismus versucht vergeblich, sie aus dem unmittelbaren Inhalt der einzelnen Impressionen herzuleiten und zu erklären. „Fünf Töne auf einer Flöte“ mögen immerhin, nach Humes bekannter psychologischer Theorie, die Vorstellung der Zeit „ergeben“ – aber dies Resultat ist nur dann möglich, wenn das charakteristische Beziehungs- [28] und Ordnungsmoment des „Nacheinander“ schon stillschweigend in den Inhalt der Einzeltöne mit aufgenommen und damit also die Zeit ihrer allgemeinen Strukturform nach bereits vorausgesetzt wird. Für die psychologische wie für die erkenntniskritische Analyse erweisen sich daher die eigentlichen Grundformen der Beziehung schließlich als ebensoviele einfache und auf einander nicht reduzierbare „Qualitäten“ des Bewußtseins, als es die einfachen Sinnesqualitäten, die Elemente der Gesichts-, der Gehörs- oder Tastempfindung sind. Und doch kann sich auf der anderen Seite das philosophische Denken nicht dabei beruhigen, die Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen lediglich als solche, als einfachen faktischen Tatbestand hinzunehmen. Bei den Empfindungen mögen wir uns damit begnügen, ihre verschiedenen Grundklassen einfach aufzuzählen und sie als unverbundene Vielheit vor uns hinzustellen: – was dagegen die Relationen betrifft, so scheint das, was sie als Einzelformen der Verknüpfungen leisten, nur dann für uns faßbar und verständlich zu werden, wenn wir sie selbst wieder durch eine Synthesis höherer Art miteinander verknüpft denken. Seit Platon im Sophistes dieses Problem der κοινωνία τῶν γενῶν, der systematischen „Gemeinschaft“ der reinen Ideen und Formbegriffe aufgestellt hat, ist es in der Geschichte des philosophischen Denkens nicht wieder zur Ruhe gekommen. Die kritische und die metaphysisch-spekulative Lösung dieses Problems aber unterscheiden sich darin, daß beide einen verschiedenen Begriff des „Allgemeinen“ und damit einen verschiedenen Sinn des logischen Systems selber voraussetzen. Die erstere Betrachtung geht auf den Begriff des Analytisch-Allgemeinen zurück, die zweite zielt auf den des Synthetisch-Allgemeinen hin. Dort begnügen wir uns damit, die Mannigfaltigkeit der möglichen Verknüpfungsformen in einem höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen unterzuordnen; hier suchen wir zu verstehen, wie sich aus einem einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen entwickelt. Wenn die letztere Betrachtungsweise nur einen Anfangspunkt und einen Zielpunkt zuläßt, die beide durch die stete Anwendung ein und desselben methodischen Prinzips im synthetisch-deduktiven Beweisgang mit einander verknüpft und vermittelt werden – so duldet die andere nicht nur, sondern sie fordert geradezu eine Mehrheit verschiedener „Dimensionen“ der Betrachtung. Sie stellt das Problem einer Einheit, die von Anfang an auf Einfachheit verzichtet. Die verschiedenen Weisen der geistigen Formung werden als solche anerkannt, ohne daß der Versuch gemacht wird, sie einer einzigen, einfach-fortschreitenden [29] Reihe einzuordnen. Und doch wird, gerade in einer solchen Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformen unter sich keineswegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt der Gedanke des Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eines einfachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt. Jede Form wird sozusagen einer besonderen Ebene zugeteilt, innerhalb welcher sie sich auswirkt und in der sie ihre spezifische Eigenart völlig unabhängig entfaltet – aber gerade in der Gesamtheit dieser ideellen Wirkungsweisen treten nun zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische Verhaltungsweisen hervor, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen.

Als erstes Moment tritt uns hierbei ein Unterschied entgegen, den wir als den der Qualität und der Modalität der Formen bezeichnen können. Unter der „Qualität“ einer bestimmten Beziehung soll hierbei die besondere Verknüpfungsart verstanden werden, kraft deren sie innerhalb des Bewußtseinsganzen Reihen schafft, die einem speziellen Gesetz der Zuordnung ihrer Glieder unterstehen. So bildet etwa das „Beisammen“ gegenüber dem „Nacheinander“, die Form der simultanen gegenüber der der successiven Verknüpfung eine solche selbständige Qualität. Nun kann aber andererseits ein und dieselbe Beziehungsform auch dadurch eine innere Wandlung erfahren, daß sie innerhalb eines anderen Formzusammenhangs steht. Jede einzelne Beziehung gehört – unbeschadet ihrer Besonderheit – immer zugleich einem Sinnganzen an, das selbst wieder seine eigene „Natur“, sein in sich geschlossenes Formgesetz besitzt. So ist z. B. diejenige allgemeine Relation, die wir „Zeit“ benennen, gleich sehr ein Element der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie ein wesentliches Moment für bestimmte Gebilde des ästhetischen Bewußtseins darstellt. Die Zeit, wie sie bei Newton im Beginn der Mechanik als beharrliche Basis alles Geschehens und als das in sich gleichförmige Maß aller Veränderungen erklärt wird, scheint mit der Zeit, wie sie im musikalischen Kunstwerk und in seinen rhythmischen Maßen waltet, zunächst kaum mehr als den Namen gemein zu haben – und doch schließt diese Einheit der Benennung wenigstens insofern eine Einheit der Bedeutung in sich, als in beiden jene allgemeine und abstrakte Qualität gesetzt ist, die wir durch den Ausdruck des „Nacheinander“ bezeichnen. Aber es ist freilich je eine besondere „Weise“, je ein eigener Modus des Nacheinander, der im Bewußtsein der Naturgesetze als Gesetzen von der Zeitform des Geschehens und der in der Erfassung der rhythmischen Maße eines Tongebildes waltet. Analog können wir gewisse [30] räumliche Formen, gewisse Komplexe von Linien und Figuren, in dem einen Fall als künstlerisches Ornament, in dem anderen als geometrische Zeichnung auffassen und kraft dieser Auffassung ein und demselben Material einen ganz verschiedenen Sinn verleihen. Die Einheit des Raumes, die wir uns im ästhetischen Schauen und Erzeugen, in der Malerei, in der Plastik, in der Architektur aufbauen, gehört einer ganz anderen Stufe an, als diejenige, die sich in bestimmten geometrischen Lehrsätzen und in einer bestimmten Form der geometrischen Axiomatik darstellt. Hier gilt die Modalität des logisch-geometrischen Begriffs, dort die Modalität der künstlerischen Raumphantasie: – hier wird der Raum als ein Inbegriff von einander abhängiger Bestimmungen, als ein System von „Gründen“ und „Folgen“ gedacht, dort wird er als ein Ganzes, im dynamischen Ineinander seiner Einzelmomente, als anschauliche und gefühlsmäßige Einheit erfaßt. Und damit ist die Reihe der Gestaltungen, die das Raumbewußtsein durchläuft, noch nicht erschöpft: denn auch im mythischen Denken zeigt sich eine ganz eigentümliche Raumansicht, eine Weise der Gliederung und der „Orientierung“ der Welt nach räumlichen Gesichtspunkten, die von der Art, in der sich im empirischen Denken die räumliche Gliederung des Kosmos vollzieht, scharf und charakteristisch geschieden ist[7]. Nicht minder erscheint z. B. die allgemeine Form der „Kausalität“ in völlig verschiedenem Lichte, je nachdem wir sie auf der Stufe des wissenschaftlichen oder des mythischen Denkens betrachten. Auch der Mythos kennt den Begriff der Kausalität: er gebraucht ihn sowohl in seinen allgemeinen Theogonien und Kosmogonien, wie er ihn zur Deutung einer Fülle von Einzelerscheinungen benutzt, die er auf Grund dieses Begriffs mythisch „erklärt“. Aber das letzte Motiv dieser „Erklärung“ ist ein durchaus anderes, als dasjenige, das die kausale Erkenntnis durch theoretisch-wissenschaftliche Begriffe beherrscht. Das Problem des Ursprungs als solches ist der Wissenschaft und dem Mythos gemeinsam; aber die Art und der Charakter, die Modalität des Ursprungs ändert sich, sobald wir von dem einen Gebiet ins andere übertreten, – sobald wir den Ursprung, statt ihn als mythische Potenz zu fassen, als wissenschaftliches Prinzip gebrauchen und ihn als solches verstehen lernen.

So zeigt sich durchweg, daß, um eine bestimmte Beziehungsform in ihrem konkreten Gebrauch und in ihrer konkreten Bedeutung zu charakterisieren, nicht nur die Angabe ihrer qualitativen Beschaffenheit als [31] solcher, sondern auch die Angabe des Gesamtsystems, in dem sie steht, erforderlich ist. Bezeichnen wir etwa schematisch die verschiedenen Relationsarten – wie die Relation des Raumes, der Zeit, der Kausalität u. s. f. – als R1, R2, R3 … so gehört zu jeder noch ein besonderer „Index der Modalität“ μ1, μ2, μ3 …, der angibt, innerhalb welches Funktions- und Bedeutungszusammenhangs sie zu nehmen ist. Denn jeder dieser Bedeutungszusammenhänge, die Sprache wie die wissenschaftliche Erkenntnis, die Kunst wie der Mythos, besitzt sein eigenes konstitutives Prinzip, das allen besonderen Gestaltungen in ihm gleichsam sein Siegel aufdrückt. Es ergibt sich hieraus eine außerordentliche Mannigfaltigkeit von Formverhältnissen, deren Reichtum und deren innere Verwicklungen sich jedoch erst in der genauen Analyse jeder einzelnen Gesamtform überblicken lassen. Aber auch abgesehen von dieser Besonderung führt schon die allgemeinste Betrachtung des Bewußtseinsganzen auf gewisse grundlegende Einheitsbedingungen, auf Bedingungen der Verknüpfbarkeit, der geistigen Zusammenfassung und der geistigen Darstellung überhaupt, zurück. Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird. Kant hat einmal – in seiner Schrift über die negativen Größen – das Problem der Kausalität dahin formuliert, wie es zu verstehen sei, daß, weil etwas ist, darum zugleich etwas anderes, von ihm völlig Verschiedenes sein solle und sein müsse. Wenn man mit der dogmatischen Metaphysik seinen Ausgangspunkt vom Begriff des absoluten Daseins nimmt – so muß in der Tat diese Frage zuletzt als unlösbar erscheinen. Denn ein absolutes Sein fordert auch letzte absolute Elemente, deren jedes in substantieller Starrheit für sich ist und für sich begriffen werden muß. Aber dieser Begriff der Substanz weist nun keinen notwendigen, ja nicht einmal einen begreiflichen Übergang zur Vielheit der Welt, zur Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit ihrer besonderen Erscheinungen auf. Auch bei Spinoza wird der Übergang von der Substanz als dem, was in se est et per se concipitur, zu der Reihe der einzelnen abhängigen und veränderlichen Modi nicht sowohl deduziert, als vielmehr erschlichen. Überhaupt sieht sich die Metaphysik, wie ihre Geschichte lehrt, immer deutlicher vor ein gedankliches Dilemma gestellt. Sie muß entweder mit dem Grundbegriff des absoluten Daseins vollen begrifflichen Ernst machen, womit alle Relationen sich zu verflüchtigen, alle Vielheit des Raumes, der Zeit, der Kausalität sich in bloßen Schein aufzulösen droht – oder sie muß diese Beziehungen, indem sie sie anerkennt, als ein bloß Äußeres und Zufälliges, [32] als ein schlechthin „Accidentelles“, zum Sein hinzutreten lassen. Dann aber zeigt sich alsbald ein eigentümlicher Rückschlag: denn mehr und mehr wird nun deutlich, daß eben dieses „Zufällige“ dasjenige ist, was für die Erkenntnis zugänglich und in ihre Formen faßbar ist, während das nackte „Wesen“, das als Grundlage der besonderen Bestimmungen gedacht werden sollte, sich in die Leere einer bloßen Abstraktion verliert. Was als „All der Realität“, als Inbegriff aller Wirklichkeit verstanden werden sollte, das erweist sich zuletzt als ein Etwas, das nur noch das Moment der bloßen Bestimmbarkeit, aber nichts mehr von selbständiger und positiver Bestimmtheit in sich enthält.

Dieser Dialektik der metaphysischen Seinslehre ist nur dann zu entgehen, wenn „Inhalt“ und „Form“, „Element“ und „Beziehung“ von Anfang an so gefaßt werden, daß beide nicht als voneinander unabhängige Bestimmungen, sondern als miteinander gegeben und in wechselseitiger Determination gedacht erscheinen. Je schärfer sich in der Geschichte des Denkens die moderne „subjektive“ Wendung der Spekulation ausprägte, um so mehr setzte sich diese allgemeine methodische Forderung durch. Denn die Frage nimmt sofort eine neue Gestalt an, wenn sie vom Boden des absoluten Seins auf den des Bewußtseins versetzt wird. Jede „einfache“ Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein „Etwas“ im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein „Anderes“ und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und „Präsenz“ des Inhalts nennen. Dies tritt sofort deutlich hervor, wenn wir auch nur den einfachsten Fall dieser „Präsenz“, wenn wir die zeitliche Beziehung und die zeitliche „Gegenwart“ betrachten. Nichts scheint sicherer zu sein, als daß alles, was wahrhaft unmittelbar im Bewußtsein gegeben ist, sich auf einen einzelnen Zeitpunkt, auf ein bestimmtes „Jetzt“ bezieht und in ihm beschlossen ist. Das Vergangene ist im Bewußtsein „nicht mehr“, das Zukünftige ist in ihm „noch nicht“ vorhanden: beide scheinen also seiner konkreten Wirklichkeit, seiner eigentlichen Aktualität gar nicht anzugehören, sondern in bloße gedankliche Abstraktionen [33] aufzugehen. Und doch gilt andererseits, daß der Inhalt, den wir als das „Jetzt“ bezeichnen, nichts als die ewig fließende Grenze ist, die das Vergangene vom Zukünftigen scheidet. Diese Grenze ist, unabhängig von dem, was durch sie begrenzt wird, gar nicht setzbar: sie existirt nur im Akt der Scheidung selbst, nicht als etwas, was vor diesem Akt und losgelöst von ihm gedacht werden könnte. Nicht als starres substantielles Dasein, sondern nur als der schwebende Übergang vom Vergangenen zum Künftigen, vom Nicht-Mehr zum Noch-Nicht ist der einzelne zeitliche Augenblick, sofern er eben als zeitlicher bestimmt werden soll, zu fassen. Wo das Jetzt anders, wo es absolut genommen wird, da bildet es in Wahrheit nicht mehr das Element, sondern die Negation der Zeit. Die zeitliche Bewegung erscheint dann in ihm angehalten und dadurch vernichtet. Für ein Denken, das wie das Denken der Eleatik lediglich auf das absolute Sein hinzielt und in ihm zu verharren strebt, ruht der fliegende Pfeil – weil ihm in jedem unteilbaren „Jetzt“ immer nur eine einzige, eindeutige bestimmte und unteilbare „Lage“ zukommt. Soll dagegen der zeitliche Moment der zeitlichen Bewegung zugehörig gedacht, soll er, statt aus ihr herausgehoben und ihr entgegengesetzt zu werden, wahrhaft in sie hineingestellt werden: so ist dies nur dadurch möglich, daß in dem Moment als einzelnem zugleich der Prozeß als Ganzes mitgedacht wird und daß beide, Moment und Prozeß, für das Bewußtsein in eine vollkommene Einheit zusammengehen. Die Form der Zeit selbst kann für uns in keiner anderen Weise „gegeben“ sein, als dadurch, daß sich im Zeitelement die Zeitreihe nach vorwärts und nach rückwärts darstellt. Denken wir uns einen einzelnen Querschnitt des Bewußtseins, so können wir ihn als solchen nur dadurch erfassen, daß wir nicht lediglich bei ihm selbst verweilen, sondern in den verschiedenen Beziehungsrichtungen kraft bestimmter räumlicher, zeitlicher oder qualitativer Ordnungsfunktionen über ihn hinausgehen. Weil wir in dieser Weise im aktualen Sein des Bewußtseins ein Nicht-Seiendes, im Gegebenen ein Nicht-Gegebenes festzuhalten vermögen – darum allein gibt es für uns jene Einheit, die wir auf der einen Seite als die subjektive Einheit des Bewußtseins, auf der anderen Seite als die objektive Einheit des Gegenstandes bezeichnen.

Auch die psychologische und erkenntniskritische Analyse des Raumbewußtseins führt auf die gleiche Urfunktion der Repräsentation zurück. Denn zunächst setzt alle Erfassung eines räumlichen „Ganzen“ die Bildung zeitlicher Gesamtreihen voraus: die „simultane“ Synthesis des Bewußtseins kann sich, wenngleich sie einen eigenen und ursprünglichen Wesenszug von ihm ausmacht, doch immer nur auf Grund der [34] successiven Synthesis vollenden und darstellen. Sollen bestimmte Elemente zu einem räumlichen Ganzen vereinigt werden, so müssen sie zuvor im Nacheinander des Bewußtseins durchlaufen und gemäß einer bestimmten Regel aufeinander bezogen werden. Weder die sensualistische Psychologie der Engländer, noch die metaphysische Psychologie Herbarts hat freilich begreiflich zu machen vermocht, wie aus dem Bewußtsein der zeitlichen Verknüpfung das der räumlichen entsteht – wie aus der bloßen Folge von Gesichts-, Tast- und Muskelempfindungen oder aus einem Komplex einfacher Vorstellungsreihen das Bewußtsein des „Beisammen“ sich bildet. Aber das eine ist jedenfalls in diesen Theorien, die von ganz verschiedenen Ausgangspunkten herkommen, übereinstimmend anerkannt, daß der Raum in seiner konkreten Gestaltung und Gliederung nicht als fertiger Besitz der Seele „gegeben“ ist, sondern daß er erst im Prozeß des Bewußtseins und gleichsam in seiner Gesamtbewegung für uns zustande kommt. Nun würde aber eben dieser Prozeß selbst für uns in lauter isolierte, gegeneinander beziehungslose Einzelheiten zerfallen und daher gar nicht die Zusammenfassung zu einem Ergebnis erlauben, wenn nicht auch hier die allgemeine Möglichkeit bestünde, das Ganze bereits im Element, wie das Element im Ganzen zu erfassen. Der „Ausdruck des Vielen im Einen“, die multorum in uno expressio, als welche Leibniz das Bewußtsein überhaupt charakterisiert, tritt somit auch hier bestimmend hervor. Zur Anschauung bestimmter räumlicher Gebilde gelangen wir nur, indem wir einerseits Gruppen sinnlicher Wahrnehmungen, die sich im unmittelbaren sinnlichen Erlebnis wechselseitig verdrängen, in einer Vorstellung vereinigen und indem wir andererseits diese Einheit wieder in die Verschiedenheit ihrer einzelnen Komponenten auseinandergehen lassen. In solchem Wechselspiel der Konzentration und der Analyse baut sich erst das räumliche Bewußtsein auf. Die Gestalt erscheint hierbei ebensowohl als mögliche Bewegung, wie die Bewegung als mögliche Gestalt erscheint.

Berkeley hat in seinen Untersuchungen zur Theorie des Sehens, die einen Anfangspunkt der modernen physiologischen Optik bilden, die Entwicklung der Raumwahrnehmung der Entwicklung der Sprache verglichen. Es ist eine Art natürliche Sprache, d. h. eine feste Zuordnung von Zeichen und Bedeutungen, durch die nach ihm die räumliche Anschauung erst gewonnen und erst befestigt werden kann. Nicht indem wir ein fertig-vorhandenes dingliches Urbild des „absoluten Raumes“ in unserer Vorstellung abbilden, sondern indem wir die verschiedenen, an sich unvergleichlichen Eindrücke der mannigfachen Sinnesgebiete, insbesondere [35] des Gesichts- und des Tastsinns, als Repräsentanten und Zeichen für einander gebrauchen lernen, entstehe für uns die Welt des Raumes als eine Welt miteinander systematisch verknüpfter und aufeinander bezogener Perzeptionen. Berkeley hat hierbei, seiner sensualistischen Grundvoraussetzung gemäß, versucht, die Sprache des Geistes, die er als eine Bedingung der räumlichen Anschauung nachweist, ausschließlich als eine Sprache der Sinne zu verstehen. Aber dieser Versuch hebt, näher betrachtet, sich selbst auf. Denn es liegt schon im Begriff der Sprache selbst, daß sie niemals bloß sinnlich sein kann, sondern eine eigentümliche Durchdringung und Wechselwirkung sinnlicher und begrifflicher Faktoren darstellt, sofern in ihr stets die Erfüllung der individuellen sinnlichen Zeichen mit einem allgemeinen gedanklichen Bedeutungsgehalt vorausgesetzt wird. Das gleiche gilt auch für jede andere Art der „Repräsentation“ – der Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes. Denken wir uns die sinnliche Grundlage für den Aufbau der Raumvorstellung in bestimmten Gesichts-, Bewegungs- und Tastempfindungen gegeben, so enthält doch eben die Summe dieser Empfindungen nichts von jener charakteristischen Einheitsform, die wir „Raum“ nennen. Diese äußert sich vielmehr erst in einer derartigen Zuordnung, daß dadurch von jeder einzelnen dieser Qualitäten zu ihrer Gesamtheit übergegangen werden kann. Wir denken auf diese Weise in jedem Element, sofern wir es als räumliches setzen, schon eine Unendlichkeit möglicher Richtungen gesetzt und der Inbegriff dieser Richtungen macht erst das Ganze der räumlichen Anschauung aus. Das räumliche „Bild“, das wir von einem einzelnen empirischen Gegenstand, etwa von einem Hause, besitzen, kommt nur dadurch zustande, daß wir eine einzelne relativ begrenzte perspektivische Ansicht in diesem Sinne erweitern; daß wir sie nur als Ausgangspunkt und Anregung benutzen, um von ihr aus ein sehr komplexes Ganze räumlicher Relationen aufzubauen. In diesem Sinne verstanden ist der Raum nichts weniger als ein ruhendes Gefäß und Behältnis, in das die „Dinge“, als gleichfalls fertige, eingehen, er stellt vielmehr einen Inbegriff ideeller Funktionen dar, die sich gegenseitig zur Einheit eines Ergebnisses ergänzen und bestimmen. Wie wir im einfachen „Jetzt“ der Zeit zugleich das Früher und Später, also die Grundrichtungen des zeitlichen Fortgangs ausgedrückt fanden, so setzen wir in jedem „Hier“ schon ein „Da“ und ein „Dort“. Die einzelne Stelle ist nicht vor dem Stellensystem, sondern nur im Hinblick auf dasselbe und in korrelativer Beziehung zu ihm gegeben.

Eine dritte Form der Einheit, die sich über der räumlichen und zeitlichen [36] Einheit erhebt, ist die Form der gegenständlichen Verknüpfung. Wenn wir einen Inbegriff bestimmter Eigenschaften zum Ganzen eines beharrlichen Dinges mit mannigfachen und wechselnden Merkmalen zusammenschließen, so setzt dieser Zusammenschluß die Verknüpfung im Neben- und Nacheinander voraus, ohne doch in ihr aufzugehen. Das relativ Konstante muß vom Veränderlichen unterschieden, – bestimmte räumliche Konfigurationen müssen festgehalten werden, damit der Begriff vom Dinge, als dem bleibenden „Träger“ der wandelbaren Eigenschaften, sich bilden kann. Auf der anderen Seite aber fügt der Gedanke dieses „Trägers“ zur Anschauung des räumlichen Beisammen und des zeitlichen Nacheinander ein eigenes und neues Moment von selbständiger Bedeutung hinzu. Die empiristische Analyse der Erkenntnis hat freilich immer wieder versucht, diese Selbständigkeit zu bestreiten. Sie sieht im Gedanken des Dinges nichts anderes als eine rein äußerliche Verknüpfungsform; sie sucht zu zeigen, daß Inhalt und Form des „Gegenstandes“ sich in der Summe seiner Eigenschaften erschöpft. Aber es tritt hierbei alsbald derselbe Grundmangel hervor, der der empiristischen Zergliederung des Ichbegriffs und des Ichbewußtseins anhaftet. Wenn Hume das Ich als ein „Bündel von Perzeptionen“ erklärt, so hebt diese Erklärung – abgesehen davon, daß in ihr nur die Tatsache der Verbindung überhaupt festgehalten, aber über die besondere Form und Art der Synthese zum „Ich“ nicht das geringste ausgesagt ist – sich schon darum selbst auf, weil im Begriff der Perzeption der Begriff des Ich, der scheinbar analysiert und in seine Bestandteile zerlegt werden sollte, noch vollständig unzerlegt enthalten ist. Was die einzelne Perzeption zur Perzeption macht, was sie als Qualität der „Vorstellung“ etwa von einer beliebigen Dingqualität unterscheidet, das ist eben ihre „Zugehörigkeit zum Ich.“ Diese entsteht nicht erst in der nachträglichen Zusammenfassung einer Mehrheit von Perzeptionen, sondern ist schon jeder einzelnen ursprünglich eigen. Ein ganz analoges Verhältnis besteht in der Verknüpfung der vielfältigen „Eigenschaften“ zur Einheit eines „Dinges“. Wenn wir die Empfindungen des Ausgedehnten, des Süßen, des Rauhen, des Weißen zur Vorstellung des „Zuckers“, als eines einheitlichen dinglichen Ganzen, vereinen, so ist dies nur möglich, sofern schon jede einzelne dieser Qualitäten ursprünglich mit Rücksicht auf dieses Ganze bestimmt gedacht wird. Daß die Weiße, die Süße u. s. f. nicht lediglich als Zustand in mir, sondern als „Eigenschaft“, als gegenständliche Qualität gefaßt wird, – dies schließt die gesuchte Funktion und den Gesichtspunkt des ‚Dinges‘ schon vollständig in sich. In der Setzung des [37] Einzelnen waltet also hier bereits ein allgemeines Grundschema, das dann, in der fortschreitenden Erfahrung vom „Ding“ und seinen „Eigenschaften“, nur mit immer neuem konkreten Inhalt erfüllt wird. Wie der Punkt als einfache und einzelne Lage immer nur „im“ Raume, d. h. logisch gesprochen unter Voraussetzung eines Systems aller Lagebestimmungen möglich ist – wie der Gedanke des zeitlichen „Jetzt“ nur in Rücksicht auf eine Reihe von Momenten und auf die Ordnung und Folge des Nacheinander, die wir „Zeit“ nennen, sich bestimmen läßt – so gilt das gleiche auch für das Ding- und Eigenschaftsverhältnis. In all diesen Verhältnissen, deren nähere Bestimmung und Zergliederung Sache der speziellen Erkenntnistheorie ist, zeigt sich derselbe Grundcharakter des Bewußtseins, daß das Ganze hier nicht erst aus den Teilen gewonnen wird, sondern daß jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen, nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form nach bereits in sich schließt. Jedes Einzelne gehört hier schon ursprünglich einem bestimmten Komplex an und bringt die Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck. Erst die Gesamtheit dieser Regeln aber macht die wahrhafte Einheit des Bewußtseins als Einheit der Zeit, des Raumes, der gegenständlichen Verknüpfung u. s. f. aus.

Die traditionelle psychologische Begriffssprache bietet für die Bezeichnung dieses Sachverhalts kaum einen völlig zutreffenden Ausdruck dar, weil die Psychologie sich erst spät, erst in ihrem Übergang zur modernen „Gestaltpsychologie“, von den Voraussetzungen der sensualistischen Grundansicht losgerungen hat. Für diese letztere, die alle Objektivität im „einfachen“ Eindruck beschlossen sein läßt, besteht alle Verknüpfung in nichts anderem als in der bloßen Zusammenfassung, in der „Association“ der Eindrücke. Dieser Terminus ist weit genug, um alle Möglichkeiten der Beziehung, die im Bewußtsein bestehen, gleichmäßig zu umfassen; aber er macht zugleich, in dieser seiner Weite, ihre Besonderheit und Eigenart unkenntlich. Beziehungen der verschiedensten Qualität und Modalität werden unterschiedslos durch ihn bezeichnet „Association“ heißt die Vereinigung von Elementen zur Einheit der Zeit oder des Raumes, zur Einheit des Ich oder des Gegenstandes, zum Ganzen eines Dinges oder einer Folge von Ereignissen – zu Reihen, deren Glieder durch den Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung und zu solchen, die durch den Gesichtspunkt von „Mittel“ und „Zweck“ miteinander verbunden sind. „Association“ gilt ferner als der hinreichende Ausdruck für das logische Gesetz der Verknüpfung des Einzelnen zur begrifflichen Einheit der Erkenntnis, wie etwa für die Formen der Gestaltung, die [38] sich im Aufbau des ästhetischen Bewußtseins als wirksam erweisen. Aber eben hierin tritt sofort hervor, daß dieser Begriff allenfalls nur den nackten Tatbestand der Verbindung überhaupt bezeichnet, ohne das geringste über ihre spezifische Art und Regel zu verraten. Die Verschiedenheit der Wege und Richtungen, durch die das Bewußtsein zu seinen Synthesen gelangt, wird hierdurch völlig verdeckt. Nennen wir die „Elemente“ a, b, c, d u. s. f., so gibt es, wie sich gezeigt hat, ein genau abgestuftes und in sich differenziertes System mannigfacher Funktionen F (a, b), ψ (c, d) u. s. f., in denen sich ihre Verknüpfung ausspricht, das aber in dem angeblichen Gattungsbegriff der Association nicht sowohl zum Ausdruck, als vielmehr zum Verschwinden, weil zur völligen Nivellierung gebracht wird. Und noch ein anderer wesentlicher Mangel haftet dieser Bezeichnung an. Die Inhalte, die man miteinander in Association treten läßt, bleiben, so eng sie sich auch verknüpfen und so innig sie miteinander „verschmelzen“ mögen, doch ihrem Sinn und Ursprung nach trennbare Inhalte. Sie werden im Fortschritt der Erfahrung zu immer festeren Verbänden und Gruppen zusammengefügt; aber ihr Bestand als solcher ist nicht erst durch die Gruppe, sondern schon vor ihr gegeben. Gerade dieses Verhältnis des „Teils“ zum „Ganzen“ ist es jedoch, was in den echten Synthesen des Bewußtseins prinzipiell überwunden ist. In ihnen entsteht das Ganze nicht erst aus den Teilen, sondern es konstituiert dieselben und gibt ihnen ihre wesentliche Bedeutung. So denken wir, wie sich gezeigt hat, in jedem begrenzten Ausschnitt des Raumes die Richtung auf das Ganze des Raumes in jedem einzelnen zeitlichen Augenblick die allgemeine Form des Nacheinander mitgesetzt, wie auch die Setzung jeder besonderen Eigenschaft das allgemeine Verhältnis von „Substanz“ und „Accidens“ und damit die charakteristische Dingform in sich faßt. Eben diese Durchdringung, dieses intensive „Durch-einander-Bedingtsein“ aber läßt die Association, als Ausdruck des bloßen Beieinander der Vorstellungen, unerklärt. Die empirischen Regeln über den bloßen Ablauf der Vorstellungen, die sie aufstellt, machen die spezifischen Grundgebilde und Grundgestalten, zu denen die Vorstellungen sich zusammenschließen, und die Einheit des „Sinnes“, die sich zwischen ihnen herstellt, nicht verständlich.

Die Selbständigkeit dieses „Sinnes“ zu retten und zu erweisen ist dagegen die Aufgabe, die die rationalistische Theorie der Erkenntnis sich stellt. Es ist eines der wesentlichen geschichtlichen Verdienste dieser Theorie, daß durch sie, kraft ein und derselben gedanklichen Wendung, eine neue und tiefere Ansicht vom Bewußtsein überhaupt und ein neuer [39] Begriff vom „Gegenstand“ der Erkenntnis begründet wird. So bewährt sich das Wort Descartes’, daß die Einheit des Objektiven, die Einheit der Substanz nicht in der Wahrnehmung, sondern nur in der Reflexion des Geistes auf sich selbst, in der inspectio mentis erfaßt werden könne. Es ist der schärfste Gegensatz zur empiristischen Theorie der „Association“, der sich in dieser Grundlehre des Rationalismus ausspricht – und doch ist auch hier die innere Spannung zwischen zwei grundverschiedenen Wesenselementen des Bewußtseins, zwischen seiner bloßen „Materie“ und seiner reinen „Form“, nicht aufgehoben. Denn der Grund für die Verknüpfung der Bewußtseinsinhalte wird auch hier in einer Tätigkeit gesucht, die irgendwie von außen her zu den einzelnen Inhalten hinzutritt. Die „Ideen“ der äußeren Wahrnehmung, die Ideen des Hellen und Dunklen, des Rauhen und Glatten, des Farbigen und Tönenden sind nach Descartes an und für sich nur als Bilder in uns (velut picturae) und in diesem Sinne als bloß subjektive Zuständlichkeiten gegeben. Was uns über diese Stufe hinausführt, was uns ermöglicht, von der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der Eindrücke zur Einheit und Konstanz des Gegenstandes fortzuschreiten, ist die von diesen Eindrücken völlig unabhängige Funktion des Urteils und des „unbewußten Schließens“. Die objektive Einheit ist eine rein formale Einheit, die als solche weder gehört noch gesehen, sondern nur im logischen Fortgang des reinen Denkens erfaßt werden kann. Der metaphysische Dualismus Descartes’ wurzelt letzten Endes in diesem seinen methodischen Dualismus: die Lehre von der absoluten Scheidung zwischen der ausgedehnten und der denkenden Substanz ist nur der metaphysische Ausdruck für einen Gegensatz, der bei ihm schon in der Darstellung der reinen Bewußtseinsfunktion selbst sichtbar wird. Und selbst bei Kant zeigt, im Beginn der Kritik der reinen Vernunft, dieser Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen den „materialen“ und den „formalen“ Grundbestimmungen des Bewußtseins noch seine alte unverminderte Kraft – wenngleich hier sofort der Gedanke auftritt, daß beide vielleicht in einer gemeinsamen, wenngleich uns unbekannten Wurzel zusammenhängen möchten. Gegen diese Formulierung des Problems aber ist vor allem einzuwenden, daß eben die Entgegensetzung, die hier vorgenommen wird, erst ein Werk der Abstraktion, der logischen Schätzung und Bewertung der einzelnen Erkenntnisfaktoren ist, während die Einheit der Bewußtseins-Materie und der Bewußtseinsform, des „Besonderen“ und des „Allgemeinen“, der sinnlichen „Gegebenheitsmomente“ und der reinen „Ordnungsmomente“ eben jenes ursprünglich-gewisse und ursprünglich-bekannte [40] Phänomen bildet, von dem jede Analyse des Bewußtseins ausgehen muß. Will man diesen Sachverhalt, der an sich freilich über die Grenzen des Mathematischen hinausgeht, mit einem mathematischen Gleichnis und Sinnbild verdeutlichen, so könnte man, im Gegensatz zur bloßen „Association“, den Ausdruck der „Integration“ wählen. Das Bewußtseinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein extensiver Teil zur Summe der Teile, sondern wie ein Differential zu seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese selbst ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitgegeben denken: – jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eigenen und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen, die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind. Alles „Dasein“ im Bewußtsein besteht eben darin und ist nur dadurch, daß es alsbald in solchen verschiedenartigen Richtungen der Synthesis über sich hinausgeht. Wie das Bewußtsein des Augenblicks schon den Hinweis auf die Zeitreihe, das Bewußtsein einer einzelnen räumlichen Stelle schon den Hinweis auf „den“ Raum als Inbegriff und Allheit der möglichen Lagebestimmungen in sich schließt, so waltet allgemein eine Fülle von Beziehungen, durch welche im Bewußtsein des Einzelnen zugleich die Form des Ganzen ausgedrückt ist. Nicht aus der Summe seiner sinnlichen Elemente (a, b, c, d …), sondern gleichsam aus der Gesamtheit seiner Beziehungs- und Formdifferentiale (dr1, dr2, dr3, …) baut sich das „Integral“ des Bewußtseins auf. Die volle Aktualität des Bewußtseins bringt nur das zur Entfaltung, was der „Potenz“ und der allgemeinen Möglichkeit nach schon in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt. Damit erst ist die allgemeinste kritische Lösung für jene Frage Kants erreicht, wie es zu denken sei, daß weil „etwas“ ist, dadurch zugleich ein „Anderes“, von ihm völlig Verschiedenes sein müsse. Das Verhältnis, das, vom Standpunkt des absoluten Seins betrachtet, um so paradoxer erscheinen mußte, je schärfer es betrachtet und analysiert wurde, ist das notwendige, das aus sich unmittelbar verständliche, wenn es vom Standpunkt des Bewußtseins gesehen wird. Denn hier gibt es von Anfang an kein abstraktes „Eines“, dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein „Anderes“ gegenübersteht, sondern das Eine ist hier „im“ Vielen, wie das Viele „im“ Einen ist: in dem Sinne, daß beide sich wechselseitig bedingen und sich wechselseitig repräsentieren.

[41]
IV

Die bisherigen Erwägungen gingen darauf aus, eine Art erkenntniskritischer „Deduktion“, eine Begründung und Rechtfertigung des Begriffs der Repräsentation zu geben, sofern die Repräsentation, die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden sollte. Aber nicht auf diese allgemeinste logische Bedeutung der repräsentativen Funktion sind die folgenden Betrachtungen gerichtet. In ihnen soll das Problem des Zeichens nicht nach rückwärts in seine letzten „Gründe“, sondern nach vorwärts in die konkrete Entfaltung und Ausgestaltung, die es in der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kulturgebiete erfährt, verfolgt werden. Für diese Betrachtung ist jetzt ein neues Fundament gewonnen. Auf die „natürliche“ Symbolik, auf jene Darstellung des Bewußtseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik, wenn wir die „willkürlichen“ Zeichen begreifen wollen, die sich das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft. Die Kraft und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. Daß ein sinnlich-Einzelnes, wie es z. B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein geistigen Bedeutung werden kann – dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird. Weil jeder Sonderinhalt des Bewußtseins in einem Netzwerk mannigfacher Beziehungen steht, kraft deren er, in seinem einfachen Sein und seiner Selbstdarstellung, zugleich den Hinweis auf andere und wieder andere Inhalte in sich schließt, kann und muß es auch bestimmte Gebilde des Bewußtseins geben, in denen diese reine Form des Hinweisens sich gleichsam sinnlich verkörpert. Daraus ergibt sich sofort die eigentümliche Doppelnatur dieser Gebilde: ihre Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt. In jedem sprachlichen „Zeichen“, in jedem mythischen oder künstlerischen „Bild“ erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder Tastbaren umgesetzt. Es tritt eine selbständige Gestaltungsweise, [42] eine spezifische Aktivität des Bewußtseins auf, die sich von aller Gegebenheit der unmittelbaren Empfindung oder Wahrnehmung unterscheidet, um sich dann doch eben dieser Gegebenheit selbst als Vehikel, als Mittel des Ausdrucks zu bedienen. Damit wird die „natürliche“ Symbolik, die wir im Grundcharakter des Bewußtseins selbst angelegt fanden, auf der einen Seite benutzt und festgehalten, während sie auf der anderen Seite überboten und verfeinert wird. Denn in dieser „natürlichen“ Symbolik war es immer ein gewisser Teilbestand des Bewußtseins, der, aus dem Ganzen herausgehoben, dennoch die Kraft behielt, eben dieses Ganze zu vertreten und es durch diese Vertretung im gewissen Sinne wiederherzustellen. Ein vorhandener Inhalt besaß die Fähigkeit, außer sich selbst zugleich ein anderes, nicht unmittelbar Gegebenes, sondern nur durch ihn Vermitteltes vorstellig zu machen. Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, „sind“ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf. Hier ist das Bewußtsein, um das Ganze im Einzelnen zu erfassen, nicht mehr auf die Anregung des Einzelnen selbst, das als solches gegeben sein muß, angewiesen, sondern hier erschafft es sich selbst bestimmte konkret-sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe. Weil diese Inhalte, als selbstgeschaffene, auch ganz in der Gewalt des Bewußtseins sind, darum vermag es durch sie, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, auch alle jene Bedeutungen immer von neuem mit Freiheit „hervorzurufen“. Indem wir z. B. eine gegebene Anschauung oder Vorstellung mit einem willkürlichen Sprachlaut verknüpfen, scheinen wir zunächst ihrem eigentlichen Inhalt nicht das geringste hinzugefügt zu haben. Und doch nimmt, schärfer betrachtet, in dieser Schaffung des Sprachzeichens auch der Inhalt selbst für das Bewußtsein einen neuen „Charakter“, weil eine neue Bestimmtheit, an. Seine scharfe und klare geistige „Reproduktion“ erweist sich geradezu an den Akt der sprachlichen „Produktion“ gebunden. Denn nicht dies ist die Aufgabe der Sprache, Bestimmungen und Unterschiede, die in der Vorstellung schon vorhanden sind, lediglich zu wiederholen, sondern sie als solche erst zu setzen und kenntlich zu machen. Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für [43] uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle der passiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbständige Prägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythos und die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem Sinne Prägungen zum Sein: sie sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert, – als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.

Blickt man auf dieses Ziel voraus, so wird damit auch die besondere Bestimmung der verschiedenen Zeichensysteme und der Gebrauch, den das Bewußtsein von ihnen macht, erst verständlich. Wäre das Zeichen nichts anderes als die Wiederholung eines bestimmten, in sich fertigen Einzelinhalts der Anschauung oder Vorstellung, so wäre weder abzusehen, was mit einer solchen schlichten Kopie des Vorhandenen geleistet werden, noch wie sie in wirklicher Strenge erreicht werden sollte. Denn es liegt auf der Hand, daß die Nachahmung an das Original niemals heranreichen, es für die geistige Betrachtung niemals ersetzen könnte. Unter der Voraussetzung einer derartigen Norm wird man daher notwendig zu einer prinzipiellen Skepsis gegen den Wert des Zeichens überhaupt geführt. Wird es etwa als die eigentliche und wesentliche Aufgabe der Sprache betrachtet, jene Wirklichkeit, die wir in den einzelnen Empfindungen und Anschauungen bereits fertig vor uns liegen haben, nur in dem fremden Medium des Sprachlauts nochmals zum Ausdruck zu bringen – so zeigt sich sofort, wie unendlich weit alles Sprechen hinter dieser Aufgabe zurückbleiben muß. Der unbegrenzten Fülle und Mannigfaltigkeit der anschaulichen Wirklichkeit gegenüber müssen alle sprachlichen Symbole als leer, ihrer individuellen Bestimmtheit gegenüber müssen sie als abstrakt und vag erscheinen. In dem Augenblick, in dem die Sprache mit der Empfindung oder Anschauung in dieser Hinsicht in Wettstreit zu [44] treten versucht, muß sich demnach ihre Ohnmacht unverkennbar erweisen. Aber das πρῶτον ψεῦδος der skeptischen Sprachkritik liegt eben darin, daß dieser Maßstab als der allein gültige, als der einzig-mögliche vorausgesetzt wird. In Wahrheit aber zeigt die Analyse der Sprache – insbesondere wenn man nicht von der bloßen Einzelheit des Wortes, sondern von der Einheit des Satzes ausgeht –, daß jeder sprachliche Ausdruck, weit entfernt, ein bloßer Abdruck der gegebenen Empfindungs- oder Anschauungswelt zu sein, vielmehr einen bestimmten selbständigen Charakter der „Sinngebung“ in sich faßt. Und das gleiche Verhältnis tritt bei den Zeichen der verschiedensten Art und Herkunft hervor. Von ihnen allen läßt sich in gewissem Sinne sagen, daß sie ihren Wert nicht sowohl in dem besitzen, was sie vom konkret-sinnlichen Einzelinhalt und seinem unmittelbaren Bestand festhalten, als in dem, was sie von diesem unmittelbaren Bestand unterdrücken und fallen lassen. Auch die künstlerische Zeichnung wird zu dem, was sie ist und wodurch sie sich von einer bloß mechanischen Reproduktion unterscheidet, erst durch das, was sie am „gegebenen“ Eindruck wegläßt. Sie ist nicht die Wiedergabe des letzteren in seiner sinnlichen Totalität, sondern sie hebt an ihm bestimmte „prägnante“ Momente heraus, d. h. Momente, durch die das Gegebene über sich selbst erweitert und die künstlerisch-aufbauende, die synthetische Raumphantasie in eine bestimmte Richtung geleitet wird. Was hier, wie in anderen Gebieten, die eigentliche Kraft des Zeichens ausmacht, ist somit eben dies: daß in dem Maße, als die unmittelbaren Inhaltsbestimmungen zurücktreten, die allgemeinen Form- und Relationsmomente zu um so schärferer und reinerer Ausprägung gelangen. Das Einzelne als solches wird scheinbar beschränkt; aber eben damit vollzieht sich um so bestimmter und kräftiger jene Leistung, die wir als „Integration zum Ganzen“ bezeichnet haben. Daß alles Einzelne des Bewußtseins nur dadurch „besteht“, daß es das Ganze potentiell in sich schließt und gleichsam im steten Übergang zum Ganzen begriffen ist, hat sich bereits gezeigt. Der Gebrauch des Zeichens aber befreit diese Potentialität erst zur wahrhaften Aktualität. Jetzt schlägt in der Tat ein Schlag tausend Verbindungen, die alle in der Setzung des Zeichens zum mehr oder minder kräftigen und deutlichen Mitschwingen gelangen. In dieser Setzung löst sich das Bewußtsein mehr und mehr von dem direkten Substrat der Empfindung und der sinnlichen Anschauung los: aber gerade darin beweist es um so entschiedener die in ihm liegende ursprüngliche Kraft der Verknüpfung und Vereinheitlichung.

Am klarsten tritt vielleicht diese Tendenz in der Funktion der wissenschaftlichen [45] Zeichensysteme heraus. Die abstrakte chemische „Formel“ etwa, die als Bezeichnung eines bestimmten Stoffes gebraucht wird, enthält nichts mehr von dem, was die direkte Beobachtung und die sinnliche Wahrnehmung uns an diesem Stoffe kennen lehrt; – aber statt dessen stellt sie den besonderen Körper in einen außerordentlich reichen und fein gegliederten Beziehungskomplex ein, von dem die Wahrnehmung als solche überhaupt noch nichts weiß. Sie bezeichnet den Körper nicht mehr nach dem, was er sinnlich „ist“ und als was er sich uns unmittelbar sinnlich gibt, sondern sie faßt ihn als einen Inbegriff möglicher „Reaktionen“, möglicher kausaler Zusammenhänge, die durch allgemeine Regeln bestimmt werden. Die Gesamtheit dieser gesetzlichen Verknüpfungen ist es, die in der chemischen Konstitutionsformel mit dem Ausdruck des Einzelnen verschmilzt, und durch die nun dieser Ausdruck ein durchaus neues charakteristisches Gepräge erhält. Hier wie in anderen Fällen dient das Zeichen dazu, eine Vermittlung für den Übergang vom bloßen „Stoff“ des Bewußtseins zu seiner geistigen „Form“ zu schaffen. Eben weil es selbst ohne eigene sinnliche Masse auftritt, weil es sozusagen in einem reinen Äther der Bedeutung schwebt, besitzt es in sich die Fähigkeit, statt bloßer Einzelheiten des Bewußtseins seine komplexen Gesamtbewegungen zur Darstellung zu bringen. Es ist nicht die Widerspiegelung eines festen Bewußtseinsbestandes, sondern die Richtlinie einer solchen Bewegung. So ist das Wort der Sprache seiner physischen Substanz nach ein bloßer Lufthauch; aber in diesem Hauch waltet eine außerordentliche Kraft für die Dynamik der Vorstellung und des Gedankens. Diese Dynamik wird durch das Zeichen ebensowohl gesteigert, als geregelt. Schon der Leibnizische Entwurf der „Charakteristica gereralis“ hebt es als einen wesentlichen und allgemeinen Vorzug des Zeichens hervor, daß es nicht nur der Darstellung, sondern vor allem der Entdeckung bestimmter logischer Zusammenhänge dient, – daß es nicht nur eine symbolische Abkürzung des bereits Bekannten bietet, sondern neue Wege ins Unbekannte, nicht-Gegebene erschließt. Hierin bewährt sich von einer neuen Seite her die synthetische Kraft des Bewußtseins überhaupt, die sich darin äußert, daß jede Konzentration seines Gehalts, die es erreicht, ihm zugleich zum Antrieb wird, seine bisherigen Grenzen zu erweitern. Die Zusammenfassung, die im Zeichen gegeben ist, gewährt daher neben dem bloßen Rückblick immer zugleich einen neuen Ausblick. Sie setzt einen relativen Abschluß, der jedoch unmittelbar die Aufforderung zum Weiterschreiten enthält und der die Bahn für diesen weiteren Fortschritt frei macht, indem er seine allgemeine Regel erkennen läßt. [46] Insbesondere die Geschichte der Wissenschaft bietet für diesen Sachverhalt die mannigfachsten Belege dar – sie zeigt, was es für die Lösung eines bestimmten Problems oder Problemkomplexes bedeutet, wenn es gelingt, sie auf eine feste und klare „Formel“ zu bringen. So sind z. B. weitaus die meisten Fragen, die ihre Lösung im Newtonischen Fluxionsbegriff und im Leibnizischen Algorithmus der Differentialrechnung gefunden haben, schon vor Leibniz und Newton vorhanden gewesen und von den verschiedensten Richtungen her – von Seiten der algebraischen Analysis, der Geometrie und der Mechanik – in Angriff genommen worden. Aber erst indem für sie ein einheitlicher und umfassender symbolischer Ausdruck gewonnen wurde, wurden alle diese Probleme wahrhaft beherrschbar: denn jetzt bildeten sie keine lockere und zufällige Folge bloßer Einzelfragen mehr, sondern es war in einem bestimmten allgemein anwendbaren Verfahren, in einer Grundoperation, deren Regeln feststanden, das gemeinsame Prinzip ihres Ursprungs bezeichnet.

So findet in der symbolischen Funktion des Bewußtseins ein Gegensatz seine Darstellung und seine Vermittlung, der schon in dem einfachen Begriff des Bewußtseins selbst gegeben und gegründet ist. Alles Bewußtsein stellt sich uns in der Form des zeitlichen Geschehens dar – aber mitten in diesem Geschehen sollen sich nun bestimmte Bereiche von „Gestalten“ herausheben. Das Moment der stetigen Veränderung und das Moment der Dauer sollen also ineinander übergehen und ineinander aufgehen. Diese allgemeine Forderung ist es, die sich in den Gebilden der Sprache, des Mythos, der Kunst und in den intellektuellen Symbolen der Wissenschaft auf verschiedene Weise erfüllt. Alle diese Gebilde erscheinen gleichsam noch dem lebendigen, sich ständig erneuernden Prozeß des Bewußtseins unmittelbar angehörig: und doch herrscht in ihnen zugleich das geistige Bestreben, in diesem Prozeß bestimmte Halt- und Ruhepunkte zu gewinnen. So bewahrt in ihnen das Bewußtsein den Charakter des stetigen Fließens; – aber es verfließt dennoch nicht ins Unbestimmte, sondern gliedert sich selbst um feste Form- und Bedeutungsmittelpunkte. Jede solche Form ist nach ihrem reinen „Ansich“ als ein αὐτὸ καθ´ αὑτὸ im Platonischen Sinne, aus dem Strom des bloßen Vorstellungsverlaufs herausgehoben – aber sie muß zugleich, um überhaupt zu erscheinen und um ein Dasein „für uns“ zu gewinnen, in diesem Ablauf in irgendeiner Weise repräsentiert sein. In der Erschaffung und im Gebrauch der verschiedenen Gruppen und Systeme symbolischer Zeichen sind beide Bedingungen insofern erfüllt, als hier in der Tat ein sinnlicher Einzelinhalt, ohne aufzuhören, ein solcher zu sein, die Kraft erlangt, dem Bewußtsein [47] ein Allgemeingültiges darzustellen. Hier verliert daher ebensowohl der sensualistische Grundsatz „Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu“, wie seine intellektualistische Umkehrung seine Geltung. Denn es handelt sich nicht mehr um ein Voraufgehen oder Nachfolgen des „Sinnlichen“ gegenüber dem „Geistigen“, sondern um die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint es als Einseitigkeit des abstrakten „Empirismus“, wie des abstrakten „Idealismus“, daß in beiden eben dieses Grundverhältnis nicht zur vollen Klarheit entwickelt ist. Auf der einen Seite wird ein Begriff vom Gegebenen und Einzelnen aufgestellt, ohne daß erkannt ist, daß jeder solche Begriff, explizit oder implizit, immer schon die Momente und Bestimmungen irgendeines Allgemeinen in sich fassen muß – auf der anderen Seite wird die Gültigkeit und Notwendigkeit dieser Bestimmungen behauptet, ohne daß das Medium bezeichnet wird, kraft dessen sie sich in der psychologischen Gegebenheit des Bewußtseins allein darzustellen vermögen. Geht man dagegen statt von irgendwelchen abstrakten Postulaten von der konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst aus, so erscheint dieser dualistische Gegensatz als aufgehoben. Der Schein einer ursprünglichen Trennung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, zwischen „Idee“ und „Erscheinung“ verschwindet. Denn freilich blieben wir auch hier in einer Welt der „Bilder“ befangen – aber es handelt sich nicht um solche Bilder, die irgendeine an sich bestehende Welt der „Sachen“ wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist. Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die „Wirklichkeit“ nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns. In der Totalität seiner eigenen Leistungen und in der Erkenntnis der spezifischen Regel, durch die jede von ihnen bestimmt wird, sowie in dem Bewußtsein des Zusammenhangs, der alle diese besonderen Regeln wieder zur Einheit einer Aufgabe und einer Lösung vereint: in alledem besitzt nunmehr der Geist die Anschauung seiner selbst und die der Wirklichkeit. Auf die Frage aber, was das absolut Wirkliche außerhalb dieser Gesamtheit der geistigen Funktionen, was das „Ding an sich“ in diesem Sinne sein möge – auf diese Frage erhält er freilich keine Antwort mehr, es sei denn, daß er sie mehr und mehr als ein falsch gestelltes Problem, als ein Trugbild des Denkens erkennen lernt. Der echte Begriff der Realität läßt sich nicht in die bloße abstrakte Seinsform hineinpressen, sondern er [48] geht in die Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen des geistigen Lebens auf – aber eines solchen Lebens, dem selbst das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist. In diesem Sinne bedeutet jede neue „symbolische Form“, bedeutet nicht nur die Begriffswelt der Erkenntnis, sondern auch die anschauliche Welt der Kunst, wie die des Mythos oder der Sprache nach dem Wort Goethes eine von dem Inneren an das Äußere ergehende Offenbarung, eine „Synthese von Welt und Geist“, die uns der ursprünglichen Einheit beider erst wahrhaft versichert. –

Und damit fällt zugleich neues Licht auf einen letzten fundamentalen Gegensatz, mit dem die moderne Philosophie seit ihren ersten Anfängen immer wieder gerungen und den sie immer schärfer durchgebildet hat. Die „subjektive“ Wendung, die sich in ihr vollzog, führte sie mehr und mehr dazu, die Gesamtheit ihrer Probleme statt in der Einheit des Seinsbegriffs im Begriff des Lebens zu zentrieren. Aber wenn damit der Gegensatz der Subjektivität und Objektivität in der Form, in der er in der dogmatischen Ontologie auftrat, beschwichtigt und seine endgültige Versöhnung angebahnt schien – so trat jetzt, im Umkreis des Lebens selbst, ein um so radikalerer Gegensatz hervor. Die Wahrheit des Lebens scheint nirgends anders als in seiner reinen Unmittelbarkeit gegeben und in ihr beschlossen zu sein – alles Begreifen und Erfassen des Lebens aber scheint eben diese Unmittelbarkeit zu bedrohen und aufzuheben. Geht man vom dogmatischen Seinsbegriff aus, so tritt freilich auch hier der Dualismus von Sein und Denken, je weiter die Betrachtung fortschreitet, um so deutlicher hervor – aber es scheint nichtsdestoweniger die Möglichkeit und die Hoffnung zurückzubleiben, daß in dem Bilde, welches die Erkenntnis vom Sein entwirft, wenigstens ein Rest der Wahrheit des Seins aufbehalten ist. Es scheint, als ginge das Sein zwar nicht vollständig und adäquat, aber doch mit einem Teil seiner selbst in dieses Bild der Erkenntnis ein – als greife es mit seiner eigenen Substanz in die des Erkennens über, um in ihr eine mehr oder minder getreue Spiegelung von sich selbst zu erzeugen. Die reine Unmittelbarkeit des Lebens aber läßt keine derartige Teilung und Zerfällung zu. Sie kann, wie es scheint, nur ganz oder gar nicht geschaut werden: sie tritt in die mittelbaren Darstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondern bleibt als ein prinzipiell Anderes, ihnen Entgegengesetztes außerhalb ihrer stehen. Nicht in irgendeiner Form der Repräsentation, sondern nur in der reinen Intuition läßt sich der ursprüngliche Gehalt des Lebens erfassen. Alle Auffassung des Geistigen hat daher, wie es scheint, zwischen [49] diesen beiden Extremen zu wählen. Es gilt die Entscheidung, ob wir das Substantielle des Geistes in seiner reinen Ursprünglichkeit, die allen mittelbaren Gestaltungen vorausliegt, suchen – oder ob wir uns der Fülle und Vielfältigkeit eben dieser Vermittlungen hingeben wollen. Nur in der ersteren Auffassung scheinen wir an den eigentlichen, den echten Kern des Lebens zu rühren, der aber als ein schlechthin einfacher, in sich selbst verschlossener Kern erscheint – während wir in der zweiten zwar das gesamte Schauspiel der Entwicklungen des Geistes vor uns vorüberziehen lassen, das sich jedoch, je tiefer wir uns in dasselbe versenken, um so deutlicher in ein bloßes Schauspiel, in ein reflektiertes Abbild ohne selbständige Wahrheit und Wesenheit, auflöst. Die Kluft zwischen diesen beiden Gegensätzen läßt sich – so scheint es – durch keine Bemühung des vermittelnden Denkens, das selbst ganz auf der einen Seite des Gegensatzes verharrt, jemals überbrücken: je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß-Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition.

Nicht nur die philosophische Mystik hat immer wieder vor diesem Problem und diesem Dilemma gestanden, sondern auch die reine Logik des Idealismus hat es wiederholt aufs schärfste erfaßt und bezeichnet. Platons Darlegungen im siebenten Brief über das Verhältnis der „Idee“ zum „Zeichen“ und über die notwendige Inadäquatheit, die zwischen der einen und dem anderen besteht, schlagen ein Motiv an, das fortan in den mannigfachsten Variationen wiederkehrt. In Leibniz’ Methodenlehre der Erkenntnis ist die „intuitive Erkenntnis“ von der bloß „symbolischen“ durch einen scharfen Schnitt getrennt. Und gegenüber der Intuition, als der reinen Schau, als der eigentlichen „Sicht“ der Idee, sinkt selbst für ihn, den Urheber des Gedankens der „allgemeinen Charakteristik“, alle Erkenntnis durch bloße Symbole auf die Stufe der „blinden Erkenntnis“ (cogitatio caeca) herab[8]. Die menschliche Erkenntnis zwar kann der Bilder und Zeichen nirgends entraten; aber sie ist eben hierdurch als menschliche, d. h. als begrenzte und endliche charakterisiert, der das Ideal des vollkommenen, des urbildlichen und göttlichen Verstandes gegenübersteht. Und selbst bei Kant, der diesem Ideal seinen genauen logischen Ort angewiesen hat, indem er es als bloßen Grenzbegriff der Erkenntnis bestimmte, und der es damit kritisch bewältigt zu haben glaubte, selbst bei ihm wird – an einer Stelle, die den rein methodischen Höhepunkt der „Kritik der Urteilskraft“ bildet – der Gegensatz zwischen dem [50] „intellectus archetypus“ und dem „intellectus ectypus“, zwischen dem intuitiven, urbildlichen und dem diskursiven, „der Bilder bedürftigen“ Verstand noch einmal in höchster prinzipieller Schärfe herausgearbeitet. Vom Standpunkt dieses Gegensatzes scheint sich notwendig zu ergeben, daß je reicher der Symbolgehalt der Erkenntnis oder irgendeiner anderen geistigen Form wird, um so mehr ihr reiner Wesensgehalt verkümmern muß. Die Fülle der Bilder bezeichnet nicht, sondern verdeckt und verhüllt das bildlos-Eine, das hinter ihnen steht und auf das sie, wenngleich vergeblich, abzielen. Nur die Aufhebung aller bildlichen Bestimmtheit, nur die Rückkehr zu dem „lauteren Nichts“, wie es in der Sprache der Mystik heißt, kann uns zu dem echten Ur- und Wesensgrund zurückführen. Anders gefaßt stellt sich eben dieser Gegensatz als ein Widerstreit und als eine ständige Spannung zwischen „Kultur“ und „Leben“ dar. Denn eben dies ist das notwendige Schicksal der Kultur, daß all das, was sie in ihrem ständig weiterschreitenden Prozeß der Gestaltung und „Bildung“ erschafft, uns von der Ursprünglichkeit des Lebens fortschreitend entfernt. Je reicher und energischer der Geist sich bildend betätigt, um so weiter scheint ihn eben dieses sein Tun von dem Urquell seines eigenen Seins abzuziehen. Mehr und mehr zeigt er sich jetzt in seinen eigenen Schöpfungen – in den Worten der Sprache, in den Bildern des Mythos oder der Kunst, in den intellektuellen Symbolen der Erkenntnis – befangen, die sich gleich einem zarten und durchsichtigen, aber nichtsdestoweniger unzerreißbaren Schleier um ihn legen. Die eigentliche, die tiefste Aufgabe einer Philosophie der Kultur, einer Philosophie der Sprache, der Erkenntnis, des Mythos u. s. f. aber scheint eben darin zu bestehen, diesen Schleier aufzuheben – von der vermittelnden Sphäre des bloßen Bedeutens und Bezeichnens wieder in die ursprüngliche des intuitiven Schauens zurückzudringen. Aber auf der anderen Seite widerstreitet gerade das eigentümliche Organ, über welches die Philosophie allein verfügt, der Lösung dieser Aufgabe. Für sie, die sich erst in der Schärfe des Begriffs und in der Helle und Klarheit des „diskursiven“ Denkens vollendet, ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit, verschlossen. Hier bleibt daher für sie kein anderer Ausweg, als die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden. Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt [51] zu machen. In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt des Lebens zu seiner echten Form. Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus: es bleibt ebensowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des „Geistes“. Die Negation der symbolischen Formen würde daher in der Tat, statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden erweist. Geht man dagegen den umgekehrten Weg, – verfolgt man nicht das Ideal einer passiven Schau der geistigen Wirklichkeiten, sondern versetzt man sich mitten in ihre Aktivität selbst – faßt man sie nicht als die ruhende Betrachtung eines Seienden, sondern als Funktionen und Energien des Bildens, so lassen sich zuletzt an diesem Bilden selbst, so verschieden und ungleichartig die Gestalten sein mögen, die aus ihm hervorgehen, doch gewisse gemeinsame und typische Grundzüge der Gestaltung selbst herausheben. Wenn es der Philosophie der Kultur gelingt, solche Grundzüge zu erfassen und sichtbar zu machen, so hat sie damit ihre Aufgabe, gegenüber der Vielheit der Äußerungen des Geistes die Einheit seines Wesens zu erweisen, in einem neuen Sinne erfüllt – denn diese letztere erweist sich eben darin am deutlichsten, daß die Mannigfaltigkeit seiner Produkte der Einheit seines Produzierens keinen Eintrag tut, sondern sie vielmehr erst bewährt und bestätigt.




  1. [1] Vgl. bes. Sophistes 243 C ff.
  2. [1] Näheres hierüber in m. Schrift „Zur Einstein’schen Relativitätstheorie“, Berl. 1921; vgl. bes. den ersten Abschnitt über „Maßbegriffe und Dingbegriffe“.
  3. [1] H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Lpz. 1894, S. 1 ff.
  4. [1] Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. III: Die Kunst, 2. Aufl., S. 115 ff.
  5. [1] Zur Ergänzung und näheren Begründung vgl. die Darstellung in m. Schrift: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, Cap. VI.
  6. [1] S. Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk, S.-W. (Akademie-Ausg.), VII, 55 ff.
  7. [1] Vgl. hrz. m. Studie über die Begriffsform im mythischen Denken (Studien der Bibl. Warburg I, Lpz. 1922).
  8. [1] Vgl. Meditationes de cognitione, veritate et ideis, Leibniz’ Philos. Schriften (Gerhardt), IV, 422 ff.