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von diesen wieder zu den „Axiomen“ und „Grundsätzen“ zurück: sondern eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr „Sein“ und ihren „Gegenstand“ bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten – und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist[1]. Heinrich Hertz hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine „Prinzipien der Mechanik“ einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht. Er bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: – das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns „innere Scheinbilder oder Symbole“ der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. „Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden … Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgendeine


  1. [1] Näheres hierüber in m. Schrift „Zur Einstein’schen Relativitätstheorie“, Berl. 1921; vgl. bes. den ersten Abschnitt über „Maßbegriffe und Dingbegriffe“.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/21&oldid=- (Version vom 4.8.2020)