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Die große systematische und geschichtliche Leistung dieser Lehre besteht darin, daß in ihr die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philosophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in expliziter Gestalt heraustritt. Was Platon unter dem Namen der „Idee“ sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den Eleaten, bei den Pythagoreern, bei Demokrit als immanentes Prinzip wirksam; aber bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt. Platon selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstanden. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum erstenmal als Problem erkannt worden sei. Er fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegenüber verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen, zu Mythen vom Sein.[1] Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und damit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie seit Parmenides als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und tiefere Bedeutung. Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und Wert des Prinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren „über“ dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt. –

In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich sodann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffenheit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt – da formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des Denkens um. Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch hier geht der Weg nicht einzig von den „Tatsachen“ zu den „Gesetzen“ und


  1. [1] Vgl. bes. Sophistes 243 C ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/20&oldid=- (Version vom 4.8.2020)