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aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte „Bedeutung“, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des „Wirklichen“. Sie sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt. Faßt man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem heraus, das einen neuen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften erschließt. –

Die „Revolution der Denkart“, die Kant innerhalb der theoretischen Philosophie durchführt, beruht auf dem Grundgedanken, daß das Verhältnis, das bisher zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstande allgemein angenommen wurde, einer radikalen Umwendung bedürfe. Statt vom Gegenstand als dem Bekannten und Gegebenen auszugehen, müsse vielmehr mit dem Gesetz der Erkenntnis als dem allein wahrhaft Zugänglichen und als dem primär Gesicherten begonnen werden; statt die allgemeinsten Eigenschaften des Seins im Sinne der ontologischen Metaphysik zu bestimmen, müsse durch eine Analyse des Verstandes die Grundform des Urteils als der Bedingung, unter welcher Objektivität allein setzbar ist, ermittelt und in allen ihren mannigfachen Verzweigungen bestimmt werden. Diese Analyse erschließt nach Kant erst die Bedingungen, auf denen jedes Wissen vom Sein und auf denen sein reiner Begriff selbst beruht. Aber der Gegenstand, den die transzendentale Analytik auf diese Weise vor uns hinstellt, ist als Korrelat der synthetischen Einheit des Verstandes, selbst ein rein logisch bestimmter Gegenstand. Er bezeichnet daher nicht alle Objektivität schlechthin, sondern nur jene Form der objektiven Gesetzlichkeit, die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft, insbesondere in den Begriffen und Grundsätzen der mathematischen

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/25&oldid=- (Version vom 4.8.2020)