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räumliche Formen, gewisse Komplexe von Linien und Figuren, in dem einen Fall als künstlerisches Ornament, in dem anderen als geometrische Zeichnung auffassen und kraft dieser Auffassung ein und demselben Material einen ganz verschiedenen Sinn verleihen. Die Einheit des Raumes, die wir uns im ästhetischen Schauen und Erzeugen, in der Malerei, in der Plastik, in der Architektur aufbauen, gehört einer ganz anderen Stufe an, als diejenige, die sich in bestimmten geometrischen Lehrsätzen und in einer bestimmten Form der geometrischen Axiomatik darstellt. Hier gilt die Modalität des logisch-geometrischen Begriffs, dort die Modalität der künstlerischen Raumphantasie: – hier wird der Raum als ein Inbegriff von einander abhängiger Bestimmungen, als ein System von „Gründen“ und „Folgen“ gedacht, dort wird er als ein Ganzes, im dynamischen Ineinander seiner Einzelmomente, als anschauliche und gefühlsmäßige Einheit erfaßt. Und damit ist die Reihe der Gestaltungen, die das Raumbewußtsein durchläuft, noch nicht erschöpft: denn auch im mythischen Denken zeigt sich eine ganz eigentümliche Raumansicht, eine Weise der Gliederung und der „Orientierung“ der Welt nach räumlichen Gesichtspunkten, die von der Art, in der sich im empirischen Denken die räumliche Gliederung des Kosmos vollzieht, scharf und charakteristisch geschieden ist[1]. Nicht minder erscheint z. B. die allgemeine Form der „Kausalität“ in völlig verschiedenem Lichte, je nachdem wir sie auf der Stufe des wissenschaftlichen oder des mythischen Denkens betrachten. Auch der Mythos kennt den Begriff der Kausalität: er gebraucht ihn sowohl in seinen allgemeinen Theogonien und Kosmogonien, wie er ihn zur Deutung einer Fülle von Einzelerscheinungen benutzt, die er auf Grund dieses Begriffs mythisch „erklärt“. Aber das letzte Motiv dieser „Erklärung“ ist ein durchaus anderes, als dasjenige, das die kausale Erkenntnis durch theoretisch-wissenschaftliche Begriffe beherrscht. Das Problem des Ursprungs als solches ist der Wissenschaft und dem Mythos gemeinsam; aber die Art und der Charakter, die Modalität des Ursprungs ändert sich, sobald wir von dem einen Gebiet ins andere übertreten, – sobald wir den Ursprung, statt ihn als mythische Potenz zu fassen, als wissenschaftliches Prinzip gebrauchen und ihn als solches verstehen lernen.

So zeigt sich durchweg, daß, um eine bestimmte Beziehungsform in ihrem konkreten Gebrauch und in ihrer konkreten Bedeutung zu charakterisieren, nicht nur die Angabe ihrer qualitativen Beschaffenheit als


  1. [1] Vgl. hrz. m. Studie über die Begriffsform im mythischen Denken (Studien der Bibl. Warburg I, Lpz. 1922).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/46&oldid=- (Version vom 12.12.2020)