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Insbesondere die Geschichte der Wissenschaft bietet für diesen Sachverhalt die mannigfachsten Belege dar – sie zeigt, was es für die Lösung eines bestimmten Problems oder Problemkomplexes bedeutet, wenn es gelingt, sie auf eine feste und klare „Formel“ zu bringen. So sind z. B. weitaus die meisten Fragen, die ihre Lösung im Newtonischen Fluxionsbegriff und im Leibnizischen Algorithmus der Differentialrechnung gefunden haben, schon vor Leibniz und Newton vorhanden gewesen und von den verschiedensten Richtungen her – von Seiten der algebraischen Analysis, der Geometrie und der Mechanik – in Angriff genommen worden. Aber erst indem für sie ein einheitlicher und umfassender symbolischer Ausdruck gewonnen wurde, wurden alle diese Probleme wahrhaft beherrschbar: denn jetzt bildeten sie keine lockere und zufällige Folge bloßer Einzelfragen mehr, sondern es war in einem bestimmten allgemein anwendbaren Verfahren, in einer Grundoperation, deren Regeln feststanden, das gemeinsame Prinzip ihres Ursprungs bezeichnet.

So findet in der symbolischen Funktion des Bewußtseins ein Gegensatz seine Darstellung und seine Vermittlung, der schon in dem einfachen Begriff des Bewußtseins selbst gegeben und gegründet ist. Alles Bewußtsein stellt sich uns in der Form des zeitlichen Geschehens dar – aber mitten in diesem Geschehen sollen sich nun bestimmte Bereiche von „Gestalten“ herausheben. Das Moment der stetigen Veränderung und das Moment der Dauer sollen also ineinander übergehen und ineinander aufgehen. Diese allgemeine Forderung ist es, die sich in den Gebilden der Sprache, des Mythos, der Kunst und in den intellektuellen Symbolen der Wissenschaft auf verschiedene Weise erfüllt. Alle diese Gebilde erscheinen gleichsam noch dem lebendigen, sich ständig erneuernden Prozeß des Bewußtseins unmittelbar angehörig: und doch herrscht in ihnen zugleich das geistige Bestreben, in diesem Prozeß bestimmte Halt- und Ruhepunkte zu gewinnen. So bewahrt in ihnen das Bewußtsein den Charakter des stetigen Fließens; – aber es verfließt dennoch nicht ins Unbestimmte, sondern gliedert sich selbst um feste Form- und Bedeutungsmittelpunkte. Jede solche Form ist nach ihrem reinen „Ansich“ als ein αὐτὸ καθ´ αὑτὸ im Platonischen Sinne, aus dem Strom des bloßen Vorstellungsverlaufs herausgehoben – aber sie muß zugleich, um überhaupt zu erscheinen und um ein Dasein „für uns“ zu gewinnen, in diesem Ablauf in irgendeiner Weise repräsentiert sein. In der Erschaffung und im Gebrauch der verschiedenen Gruppen und Systeme symbolischer Zeichen sind beide Bedingungen insofern erfüllt, als hier in der Tat ein sinnlicher Einzelinhalt, ohne aufzuhören, ein solcher zu sein, die Kraft erlangt, dem Bewußtsein

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/62&oldid=- (Version vom 20.8.2021)