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als ein schlechthin „Accidentelles“, zum Sein hinzutreten lassen. Dann aber zeigt sich alsbald ein eigentümlicher Rückschlag: denn mehr und mehr wird nun deutlich, daß eben dieses „Zufällige“ dasjenige ist, was für die Erkenntnis zugänglich und in ihre Formen faßbar ist, während das nackte „Wesen“, das als Grundlage der besonderen Bestimmungen gedacht werden sollte, sich in die Leere einer bloßen Abstraktion verliert. Was als „All der Realität“, als Inbegriff aller Wirklichkeit verstanden werden sollte, das erweist sich zuletzt als ein Etwas, das nur noch das Moment der bloßen Bestimmbarkeit, aber nichts mehr von selbständiger und positiver Bestimmtheit in sich enthält.

Dieser Dialektik der metaphysischen Seinslehre ist nur dann zu entgehen, wenn „Inhalt“ und „Form“, „Element“ und „Beziehung“ von Anfang an so gefaßt werden, daß beide nicht als voneinander unabhängige Bestimmungen, sondern als miteinander gegeben und in wechselseitiger Determination gedacht erscheinen. Je schärfer sich in der Geschichte des Denkens die moderne „subjektive“ Wendung der Spekulation ausprägte, um so mehr setzte sich diese allgemeine methodische Forderung durch. Denn die Frage nimmt sofort eine neue Gestalt an, wenn sie vom Boden des absoluten Seins auf den des Bewußtseins versetzt wird. Jede „einfache“ Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein „Etwas“ im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein „Anderes“ und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und „Präsenz“ des Inhalts nennen. Dies tritt sofort deutlich hervor, wenn wir auch nur den einfachsten Fall dieser „Präsenz“, wenn wir die zeitliche Beziehung und die zeitliche „Gegenwart“ betrachten. Nichts scheint sicherer zu sein, als daß alles, was wahrhaft unmittelbar im Bewußtsein gegeben ist, sich auf einen einzelnen Zeitpunkt, auf ein bestimmtes „Jetzt“ bezieht und in ihm beschlossen ist. Das Vergangene ist im Bewußtsein „nicht mehr“, das Zukünftige ist in ihm „noch nicht“ vorhanden: beide scheinen also seiner konkreten Wirklichkeit, seiner eigentlichen Aktualität gar nicht anzugehören, sondern in bloße gedankliche Abstraktionen

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/48&oldid=- (Version vom 20.8.2021)