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eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.

Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem „mundus sensibilis“ einen anderen Kosmos, den „mundus intelligibilis“ gegenüberzustellen und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. Im wesentlichen aber verlief die Grenze derart, daß die Welt des Intelligiblen durch das Moment des reinen Tuns, die Welt des Sinnlichen durch das Moment des Leidens bestimmt wurde. Dort herrschte die freie Spontaneität des Geistigen, hier die Gebundenheit, die Passivität des Sinnlichen. Für jene „allgemeine Charakteristik“ aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dieser Gegensatz kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. Im Kreis des Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße „Reaktion“ und dem, was reine „Aktion“ ist, zwischen dem, was der Sphäre des „Eindrucks“ und dem, was der Sphäre des „Ausdrucks“ angehört, unterschieden werden. Der dogmatische Sensualismus fehlt nicht nur darin, daß er die Bedeutung und Leistung der rein intellektuellen Faktoren unterschätzt, sondern vor allem auch darin, daß er die Sinnlichkeit selbst, wenngleich er sie als eigentliche Grundkraft des Geistes proklamiert, keineswegs in der ganzen Weite ihres Begriffs und in der Totalität ihrer Leistungen erfaßt. Er entwirft auch von ihr ein ungenügendes und verstümmeltes Bild, sofern er sie lediglich auf die Welt der „Impressionen“, auf die unmittelbare Gegebenheit der einfachen Empfindungen beschränkt. Darin ist verkannt, daß es auch eine Aktivität des Sinnlichen selbst, daß es, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, auch eine „exakte sinnliche Phantasie“ gibt, die sich in den verschiedensten Gebieten geistigen Schaffens als wirksam erweist. In ihnen allen zeigt sich in der Tat dies als das eigentliche Vehikel ihres immanenten Fortgangs, daß sie neben und über der Welt der Wahrnehmung eine eigene freie Bildwelt erstehen lassen: eine Welt, die ihrer unmittelbaren

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/35&oldid=- (Version vom 15.9.2022)