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scheint überhaupt von einer strengen Systematik dieser Formen keine Rede mehr sein zu können. Als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode bleibt alsdann nur ein rein empirisches Verfahren übrig. Läßt sich kein allgemeines Gesetz aufweisen, kraft dessen die eine geistige Form mit Notwendigkeit aus der anderen hervorgeht, bis schließlich die ganze Reihe der geistigen Gestaltungen gemäß diesem Prinzip durchlaufen ist – so läßt sich, wie es scheint, der Inbegriff dieser Gestaltungen nicht mehr als ein in sich geschlossener Kosmos denken. Die einzelnen Formen stehen dann einfach nebeneinander: sie lassen sich zwar ihrem Umfang nach übersehen und in ihrer Besonderheit beschreiben, aber es drückt sich in ihnen nicht mehr ein gemeinsamer ideeller Gehalt aus. Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte u. s. f. darstellen und spezifizieren würde. Somit ergibt sich an diesem Punkte ein eigentümliches Dilemma. Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest, so droht zuletzt in der Allgemeinheit der logischen Form die Besonderung jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen – versenken wir uns dagegen in eben diese Individualität und bleiben wir bei ihrer Betrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu verlieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu finden. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. Dann ließe sich im Hinblick auf dieses Moment der ideelle Zusammenhang der einzelnen Gebiete – der Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Erkenntnis, des Ästhetischen und des Religiösen – behaupten, ohne daß in ihm die unvergleichliche Eigenheit einer jeden von ihnen verloren ginge. Wenn sich ein Medium finden ließe, durch welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht, und in welchem sie nichtsdestoweniger ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt, – so wäre damit das notwendige Mittelglied für eine Betrachtung gegeben, die dasjenige, was die transzendentale Kritik für die reine Erkenntnis leistet, auf die Allheit der geistigen Formen überträgt. Die nächste Frage, die wir uns zu stellen haben, wird also darin bestehen, ob es in der Tat für die mannigfachen Richtungen des Geistes ein solches mittleres Gebiet und eine vermittelnde Funktion gibt, und ob diese Funktion bestimmte

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/32&oldid=- (Version vom 15.9.2022)