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streng einheitlichen Prinzip aufgebauten Ganzen sich durchsetzt, um so mehr wird jede Einzelzahl, statt einen besonderen Inhalt zu repräsentieren, zur bloßen Stelle, die jeder anderen gleichwertig ist. Die Heterogeneität beginnt der reinen Homogeneität zu weichen. Aber es ist begreiflich, daß dieser neue Gesichtspunkt sich weit langsamer innerhalb der persönlichen Sphäre, als innerhalb der bloßen Dingsphäre durchsetzt: denn die erstere ist ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach auf die Form der Heterogeneität gestellt. Das „Du“ ist dem „Ich“ nicht gleichartig, sondern es tritt ihm als sein Gegensatz, als Nicht-Ich gegenüber: der „Zweite“ entsteht hier also nicht aus der einfachen Wiederholung der Einheit, sondern verhält sich zu ihr als der qualitativ „Andere“. Zwar kann auch das „Ich“ und „Du“ zur Gemeinschaft des „Wir“ zusammengehen – aber in dieser Form der Vereinigung zum „Wir“ handelt es sich um etwas völlig anderes, als um eine kollektiv-dingliche Zusammenfassung. Schon Jakob Grimm hat gelegentlich den Unterschied zwischen den dinglichen und den persönlichen Pluralbegriffen, die die Sprache ausbildet, betont; schon er weist darauf hin, daß, während man einen dinglichen Plural als eine Summe gleichartiger Elemente ansehen, die Männer also z. B. als Mann und Mann definieren könne, das „Wir“ keineswegs als eine derartige Summe darzustellen sei, da es nicht sowohl als ‚Ich und Ich‘, als vielmehr als ‚Ich und Du‘, oder als ‚Ich und Er‘ gefaßt werden muß[1]. Das rein „distrubutive“ Motiv der Zahlbildung, das Motiv der reinen Sonderung der Einheiten tritt daher hier noch schärfer, als in jener Form der Zählung hervor, die von der Anschauung der Zeit und der zeitlichen Vorgänge ihren Ausgang nahm[2].

Das gleiche Bestreben, die Elemente, die in die Einheit des „Wir“ zusammengefaßt werden, in dieser nicht einfach aufgehen zu lassen, sondern sie in ihrer Besonderheit und spezifischen Bestimmtheit zu bewahren, bekundet sich in dem Gebrauch, den die Sprache von dem Trial


  1. [1] Vgl. Jak. Grimm, Kleinere Schriften III, 239 ff.
  2. [2] Vgl. Fr. Müller, Grundriß II, 1, 76 f. – S. auch die Bemerkung von G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 296 f.: „Das Familienleben verkörpert, um … grammatisch zu reden, die sämtlichen Personalpronomina, Singularis, Dualis und Pluralis; die Familie oder Sippe fühlt sich als dauernde Einheit anderen Familien gegenüber, „Wir“ treten in Gegensatz zu „Euch“ und „Ihnen“. Ich glaube, das ist nicht bloße Wortspielerei. Wo konnte das persönliche Fürwort besser wurzeln, als in der Gewohnheit eines fortgesetzten Familienlebens? Manchmal ist es sogar, als enthielten die Sprachen Erinnerungen an den Zusammenhang zwischen den Vorstellungen des Weibes und des Du. Das Chinesische bezeichnet beide mit einem Worte … Ähnlich ist es, wenn in Sprachen der Thai-Familie die Silbe me die Bedeutung „Du“ und „Mutter“ in sich vereinigt.“
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/220&oldid=- (Version vom 21.11.2022)