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zu fixieren. Ihre Kraft erweist sich jetzt darin, daß sie die ganze Weite dieses Gegensatzes in einem einzigen Blick zu umfassen und ihn eben damit zu überbrücken vermag: – die Spannung zwischen den beiden Extremen hat sich verschärft, aber zugleich springt jetzt gleichsam der geistige Funke über, der zwischen ihnen den Ausgleich schafft.

Dieser Ansicht von dem relativ komplexen und vermittelten Charakter des reinen Zeitbegriffs scheinen freilich auf den ersten Blick die Angaben zu widersprechen, die sich in der Grammatik „primitiver“ Sprachen über die „Zeitform des Verbum“ finden. Gerade den Sprachen der „Primitiven“ wird vielfach ein überraschender, für uns kaum faßbarer Reichtum an „Tempusformen“ nachgerühmt. Im Sotho werden von Endemann 38 affirmative Tempusformen, dazu 22 im Potential, 4 Formen im Optativ bezw. Final, eine große Zahl partizipialer Bildungen, 40 konditionale Formen u. and. angeführt; im Schambala sind nach der Grammatik von Roehl allein im Indikativ des Aktiv etwa 1000 Verbalformen zu unterscheiden[1]. Die Schwierigkeit, die hierin zu liegen scheint, löst sich indes, wenn man erwägt, daß es sich in solchen Unterscheidungen, nach den Angaben der Grammatiker selbst, um alles andere als um die Bestimmung eigentlich zeitlicher Nuancen handelt. Daß im Schambala gerade die zeitliche Grundnuance, der Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft in keiner Weise entwickelt ist, hat sich bereits gezeigt – und für die sogen. „Tempora“ des Verbums in den Bantusprachen wird ausdrücklich hervorgehoben, daß sie nicht als strenge Zeitformen in dem Sinne zu betrachten seien, daß für sie lediglich die Frage des Früher oder Später in Betracht käme. Was die Fülle dieser Verbalformen ausdrückt, sind demnach nicht reine Zeitcharaktere der Handlung, sondern gewisse qualitative und modale Unterschiede, die an ihr gemacht werden. „Eine Zeitdifferenz“ – so betont z. B. Seler für das Verbum der Indianersprachen – „kommt durch verschiedene Partikeln oder durch Verbindung mit anderen Verben zustande, spielt aber bei weitem nicht die Rolle in der Sprache, die man nach den ausgeführten Konjugationsschematen der verschiedenen geistlichen Grammatiker vermuten sollte. Und weil die Tempusdifferenz etwas Unwesentliches und Akzessorisches ist, darum finden sich auch gerade in der Tempusbildung die größten Verschiedenheiten zwischen sonst eng verwandten Sprachen[2].“ Aber auch dort, wo


  1. [1] S. Roehl, Schambalagrammat., S. 111 ff., u. Meinhof, Vgl. Grammat. der Bantusprachen, S. 68, 75.
  2. [2] Seler, Das Konjugationssystem der Maya-Sprachen, Berlin 1887, S. 30. – Ebenso sagt K. v. d. Steinen von der Bakairi-Sprache (a. a. O. S. 371 f.), daß sie Tempora in [177] unserem Sinne entschieden nicht besitze, dagegen modale Ausdrücke für ihre Verbalflexionen verwende, deren genauer Wert freilich aus dem vorliegenden Material nicht bestimmt werden könne und einem Europäer vielleicht überhaupt unzugänglich bleibe. Von der Fülle solcher modalen Abstufungen gewinnt man ein klares Bild aus der Übersicht, die Roehl (a. a. O. S. 111 ff.) über die Verbalformen des Schambala gegeben hat.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/192&oldid=- (Version vom 18.10.2022)