Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/193

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

die Sprache damit beginnt, die zeitlichen Bestimmungen deutlicher auszuprägen, geschieht dies nicht in dem Sinne, daß sie ein scharfes und folgerechtes System der relativen Zeitstufen aufbaut. Die ersten Unterschiede, die sie macht, tragen nicht einen derartig relativen, sondern gewissermaßen einen absoluten Charakter. Was zunächst erfaßt wird, sind, psychologisch gesprochen, gewisse zeitliche „Gestaltqualitäten“, die sich an einem Vorgang oder an einer Handlung vorfinden. Es ist ein anderes, ob eine Handlung „plötzlich“ einsetzt oder ob sie sich allmählich entwickelt, ein anderes, ob sie sich sprunghaft vollzieht oder kontinuierlich abläuft, ein anderes, ob sie ein einziges unzerlegtes Ganzes ausmacht oder sich etwa in gleichartige, rhythmisch sich wiederholende Phasen gliedert. Aber all diese Unterschiede sind für die konkrete Auffassung, der die Sprache folgt, nicht sowohl begriffliche, als anschauliche, nicht sowohl quantitative, als qualitative Differenzen. Die Sprache bringt sie zum Ausdruck, indem sie, früher als sie zur scharfen Unterscheidung der „Tempora“ als eigentlicher Relationsstufen übergeht, die Verschiedenheit der „Aktionsarten“ bestimmt ausprägt. Hier handelt es sich noch keineswegs um die Auffassung der Zeit als einer allgemeinen Beziehungs- und Ordnungsform, die alles Geschehen umfaßt, als eines Inbegriffs von Stellen, deren jede zur anderen ein bestimmtes eindeutiges Verhältnis des ‚Vor‘ und ‚Nach‘, des ‚Früher‘ oder ‚Später‘ besitzt. Vielmehr hat hier noch jeder einzelne Vorgang, der durch eine bestimmte Aktionsart dargestellt wird, gleichsam seine eigene Zeit – eine „Zeit für sich“, an der gewisse Formeigentümlichkeiten, bestimmte Weisen ihrer Gestaltung und ihres Ablaufs hervorgehoben werden. In dem Nachdruck, mit dem die einzelnen Sprachen bald die Unterschiede der relativen Zeitstufe, bald die Unterschiede der reinen Aktionsarten betonen, weichen sie bekanntlich sehr erheblich voneinander ab. Die semitischen Sprachen gehen, statt von der Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von einer einfachen Zweiteilung aus, indem sie lediglich den Gegensatz der vollendeten und der unvollendeten Handlung betrachten. Das Tempus der vollendeten Handlung, das „Perfektum“, kann demnach ebensowohl als Ausdruck der Vergangenheit wie als Ausdruck der Gegenwart benutzt werden,


    unserem Sinne entschieden nicht besitze, dagegen modale Ausdrücke für ihre Verbalflexionen verwende, deren genauer Wert freilich aus dem vorliegenden Material nicht bestimmt werden könne und einem Europäer vielleicht überhaupt unzugänglich bleibe. Von der Fülle solcher modalen Abstufungen gewinnt man ein klares Bild aus der Übersicht, die Roehl (a. a. O. S. 111 ff.) über die Verbalformen des Schambala gegeben hat.

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/193&oldid=- (Version vom 21.10.2022)