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Fügungen, die die Sprache hier ausprägt, um durch ihr einfaches Nebeneinander die Fülle der möglichen gedanklichen Verknüpfungen und Verknüpfungsformen zur mittelbaren Darstellung zu bringen.

Eine ganz andere geistige Grundauffassung tritt uns dort entgegen, wo die Sprache zwar gleichfalls noch in der ursprünglichen Indifferenz des Nomen-Verbums verharrt, wo sie aber die indifferente Grundform im entgegengesetzten Sinne verwendet und akzentuiert. Wenn in den eben betrachteten Fällen alle sprachliche Bestimmung vom Gegenstand ihren Ausgang nahm, so gibt es andere Sprachen, die ebenso scharf und prägnant die Bezeichnung und Bestimmung des Vorgangs zum Ausgangspunkt nehmen. Wie dort das Nomen, so erscheint hier das Verbum, sofern es reiner Vorgangsausdruck ist, als der eigentliche Mittelpunkt der Sprache: wie dort alle Verhältnisse, auch die des Geschehens und Tuns, sich in Seinsverhältnisse umsetzen, so setzen sich hier umgekehrt auch diese letzteren in Geschehensverhältnisse und Geschehensausdrücke um. In dem einen Falle wird die Form des dynamischen Werdens gleichsam in die des ruhenden statischen Daseins hineingezogen – im anderen wird auch das Dasein nur insofern erfaßt, als es zum Werden in Beziehung steht. Aber diese Form des Werdens hat sich mit der reinen Ichform noch nicht durchdrungen, und sie besitzt daher, bei all ihrer Lebendigkeit selbst noch eine überwiegend objektive, eine unpersönliche Gestalt. Insofern stehen wir auch hier noch in der dinglichen Sphäre – aber das Zentrum derselben hat sich verschoben. Der Nachdruck der sprachlichen Bezeichnung liegt nicht sowohl auf der Existenz, als auf der Veränderung. Zeigte es sich in den früher betrachteten Fällen, daß das Substantivum als Gegenstandsausdruck den Gesamtbau der Sprache beherrschte – so werden wir jetzt erwarten dürfen, das Verbum als Veränderungsausdruck als den eigentlichen Kraftmittelpunkt zu finden. Wie die Sprache dort bemüht war, alle noch so komplexen Beziehungen in die substantivische Form umzuprägen – so wird sie hier alle diese Beziehungen in die Form des verbalen Geschehensausdrucks zusammenzufassen und gleichsam einzufangen versuchen. Eine derartige Gesamtauffassung scheint den meisten Indianersprachen zugrunde zu liegen – und man hat versucht, sie aus den Strukturelementen des indianischen Geistes psychologisch zu erklären[1]. Wie immer man sich indes zu diesem Erklärungsversuch stellen mag, so zeigt jedenfalls schon der reine Bestand dieser Sprachen eine ganz eigene Methodik der Sprachgestaltung. Die allgemeinen Umrisse derselben sind


  1. [1] S. die Bemerkungen von G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 402 f.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/254&oldid=- (Version vom 19.1.2023)