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eingetreten ist. Der Unterschied, den die Sprache durch den Singular und Plural ausdrückt, ist an der Gattung nicht aufgehoben, sondern er hat sich an ihr noch nicht in voller Schärfe vollzogen; der quantitative Gegensatz von Einheit und Vielheit ist nicht durch eine übergreifende qualitative Einheit überwunden, weil er zunächst noch gar nicht bestimmt gesetzt ist. Die Einheit der Gattung bedeutet ein distinktes Eins gegenüber der nicht minder distinkten Vielheit der Arten – in der unbestimmten Kollektivbedeutung, aus der sich in einer großen Zahl von Sprachen die Singular- wie die Pluralbedeutung erst herausschält, bildet aber gerade die Indistinktheit das entscheidende Moment. Die Vielheit wird als bloßer Haufe, als Menge oder Masse, also als ein sinnliches, nicht als ein logisches Ganze erfaßt. Ihre Allgemeinheit ist die eines Eindrucks, der sich noch nicht in seine einzelnen Elemente und Komponenten auseinandergelegt hat, nicht die eines übergeordneten Begriffs, der das Besondere, als ein Gesondertes und „Ersondertes“, in sich faßt.

Eben dieses Grundmoment der Sonderung aber ist es, kraft dessen erst aus dem bloßen Begriff der Menge und der Vielheit der strenge Begriff der Zahl erwächst. Die bisherige Betrachtung hat uns zwei Wege und Richtungen kennen gelehrt, in denen sich die Sprache diesem Begriff nähert, den sie gemäß ihrer Eigenart freilich nicht anders als in sinnlicher Hülle erfassen kann. Auf der einen Seite hielt das sprachliche Denken schon in den primitivsten, an den Gliedmaßen des menschlichen Körpers orientierten Zählungen das Moment der „Ordnung in der Folge“ fest. Wenn diese Zählungen zu irgendeinem Ergebnis führen sollten, so mußte im Durchlaufen der einzelnen Glieder nicht willkürlich von dem einen zum andern übergegangen, sondern irgendeine Regel der Abfolge innegehalten werden. Auf der anderen Seite war es der Eindruck der Vielfachheit schlechthin, das Bewußtsein eines zunächst noch unbestimmten Ganzen, das sich in irgendeiner Weise in „Teile“ zerlegt, wodurch sich die Sprache in der Bildung ihrer allgemeinen Kollektivbezeichnungen geleitet zeigte. In beiden Fällen erscheint das Denken der Zahl und ihr sprachlicher Ausdruck an die Grundformen der Anschauung, an die Erfassung des räumlichen und des zeitlichen Seins gebunden. Die erkenntniskritische Analyse zeigt, wie beide Formen zusammenwirken müssen, um den wesentlichen Gehalt des Zahlbegriffs ans Licht zu fördern. Wenn die Zahl sich für die Erfassung des kollektiven „Beisammen“ auf die Anschauung des Raumes stützt, so bedarf sie der Anschauung der Zeit, um das charakteristische Gegenmoment zu dieser Bestimmung, um den Begriff der distributiven Einheit und Einzelheit auszubilden.

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/210&oldid=- (Version vom 12.11.2022)