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z. B. H. Winkler über dieses Prinzip, das er an der Struktur des japanischen Verbums veranschaulicht –, „es einen ganz wunderbaren Bau zu nennen. Die Mannigfaltigkeit der Beziehungen aller Art, der feinsten und minutiösesten Schattierungen, die hierbei in kürzester Form zum sprechenden Ausdruck gelangen, ist unerschöpflich: was wir in unseren Sprachen durch zahlreiche Umschreibungen, durch Nebensätze aller Art, relative wie konjunktionale, ausdrücken, wird hier durch einen einzigen Ausdruck oder durch ein einziges regierendes Vollnomen mit einem davon abhängigen anderen Verbalnomen klar wiedergegeben; ein solches Verbalnomen stellt in voller Klarheit nach unserer Auffassung einen Hauptsatz mit zwei, drei Nebensätzen dar, wobei überdies jedes der drei, vier Glieder die mannigfachsten Beziehungen und feinsten Unterschiede der Zeit, des Aktiven oder Passiven, Kausativen, Kontinuativen, kurz der allerverschiedensten Modifikationen der Handlung in sich fassen kann … Und das alles vollzieht sich großenteils unter Verzicht auf die meisten uns geläufigen und unentbehrlich scheinenden Formelemente. Es ist somit das Japanische in unserem Sinne eine formlose Sprache par excellence, womit also in keiner Weise ein Präjudiz bezüglich der Wertung dieser Sprache gegeben werden soll, wohl aber die gewaltige Divergenz des Baues angedeutet[1].“ Diese Divergenz liegt wesentlich darin, daß hier das Gefühl für die begriffliche Nuancierung der Handlung zwar keineswegs fehlt, daß es sich aber sprachlich nur soweit ausdrücken kann, als der Ausdruck der Handlung sich gleichsam um den Gegenstandsausdruck herumrankt und in ihn als nähere Bestimmung eingeht. Den Mittelpunkt der Bezeichnung bildet die Existenz des Dinges – und an sie bleibt aller Ausdruck von Eigenschaften, von Beziehungen und Tätigkeiten angelehnt. Es ist daher eine im eigentlichen Sinne „substantielle“ Auffassung, die wir in dieser Bildung der Sprache vor uns haben. Im japanischen Verbum findet sich sehr häufig eine reine Existenzaussage, wo wir nach unseren Denkgewohnheiten eine prädikative Aussage erwarten würden. Statt eine Verknüpfung zwischen Subjekt und Prädikat auszusagen, wird das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Subjekts oder Prädikats, seine Tatsächlichkeit oder Nicht-Tatsächlichkeit, betont und herausgestellt. Von dieser ersten Festsetzung des Seins oder Nicht-Seins nehmen alle weiteren Bestimmungen des „Was“, des Wirkens und Leidens u. s. f. ihren Ausgang[2]. Am prägnantesten tritt dies in der negativen Wendung heraus, in


  1. [1] H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 166 f.
  2. [2] Ein Satz wie „es schneit“ lautet daher im Japanischen so, daß er eigentlich besagt „Schnees Herabfallen (ist)“, ein Satz wie „der Tag hat sich geneigt, es ist dunkel geworden“ [237] lautet so, daß er besagt „des Tages Dunkelgeworden-sein (ist)“. Vgl. Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 66 f.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/252&oldid=- (Version vom 19.1.2023)