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des Bewußtseins, der unmittelbar von dem Licht des Jetzt getroffen wird, für dasselbe im eigentlichen Sinne vorhanden. Das Ganze einer Handlung kann daher nicht anders apperzipiert, nicht anders gedanklich und sprachlich erfaßt werden, als dadurch, daß das Bewußtsein es sich in all seinen Einzelstadien im buchstäblichen Sinne „vergegenwärtigt“, daß es diese Stadien, eins nach dem anderen, gleichsam in die Helle des Jetzt hineinrückt. So entsteht hier eine Fülle von Bezeichnungen; so wird ein Mosaikstift neben den anderen gesetzt: aber das Ergebnis ist nicht die Einheit, sondern nur die Buntheit des Bildes. Denn jede Einzelheit ist für sich genommen, ist nur punktuell bestimmt: aus einem solchen Aggregat von lauter einfachen Gegenwartspunkten aber kann die Vorstellung des echten zeitlichen Kontinuums nicht erwachsen.

Für die Form, die diese Sprachen zum Ausdruck der Bewegung und der Handlung besitzen, gilt daher in der Tat der Zenonische Einwand: hier ruht im Grunde der fliegende Pfeil, weil er in jedem Moment seiner Bewegung nur eine fixe Lage besitzt. Das entwickelte Zeitbewußtsein befreit sich aus dieser Schwierigkeit und Paradoxie, indem es ganz neue Mittel zur Erfassung von zeitlichen „Ganzheiten“ erschafft. Es setzt das Ganze der Zeit nicht mehr als substantielles Ganze aus den einzelnen Augenblicken zusammen, sondern erfaßt es als ein funktionales und als ein dynamisches Ganze: als eine Einheit der Beziehung und als eine Einheit der Wirkung. Die Anschauung der zeitlichen Einheit der Handlung geht einerseits von dem Subjekt aus, das in ihr begriffen ist, andererseits von dem Ziel, auf das sie gerichtet ist. Beide Momente liegen in ganz verschiedenen Ebenen; aber die synthetische Kraft des Zeitbegriffs bewährt sich eben darin, daß er ihre Gegensätzlichkeit in eine wechselseitige Bezüglichkeit verwandelt. Der Prozeß des Tuns kann jetzt nicht mehr in lauter einzelne Phasen auseinanderfallen, da hinter ihm von Anfang an die einheitliche Energie des handelnden Subjekts und vor ihm der einheitliche Zweck des Tuns steht. Indem in dieser Weise die Momente der Handlung sich zu einer kausalen und teleologischen Gesamtreihe, zur Einheit einer dynamischen Verknüpfung und einer teleologischen Bedeutung zusammenschließen, wächst hieraus erst mittelbar die Einheit der zeitlichen Vorstellung hervor. Im vollentwickelten sprachlichen Bewußtsein prägt sich diese neue Gesamtansicht darin aus, daß die Sprache nunmehr, um das Ganze eines Vorgangs oder eines Tuns zu kennzeichnen, nicht mehr der Anschauung aller Einzelheiten seines Verlaufs bedarf, sondern sich damit begnügt, den Anfangs- und Endpunkt, das Subjekt, von dem das Tun ausgeht, und das objektive Ziel, auf das es gerichtet ist,

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/191&oldid=- (Version vom 11.10.2022)