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dieser Übergang vielfach an ihm noch unmittelbar deutlich machen. Im Indogermanischen läßt sich die Entstehung und Ausbreitung des Artikels geschichtlich noch im einzelnen verfolgen. Er fehlt hier nicht nur dem Altindischen, dem Altiranischen und Lateinischen, sondern auch der älteren griechischen, insbesondere der Homerischen Sprache: erst die attische Prosa wendet ihn regelmäßig an. Auch im Germanischen hat sich der Gebrauch des bestimmten Artikels erst im Mittelhochdeutschen als Regel festgesetzt. Die slawischen Sprachen haben einen abstrakten Artikel mit durchaus konsequenter Anwendung überhaupt nicht entwickelt[1]. Ähnliche Verhältnisse zeigen sich im semitischen Sprachkreis, in welchem der Artikel zwar im allgemeinen verwendet wird, in denen aber einzelne Sprachen, wie das Äthiopische, die hierin auf einer älteren Stufe stehen geblieben sind, gleichfalls keinen Gebrauch von ihm machen[2]. Wo immer aber dieser Gebrauch durchdringt, da ist er deutlich als eine einfache Abspaltung aus dem Kreise der demonstrativen Pronomina zu erkennen. Aus der Form der „Der-Deixis“ geht der bestimmte Artikel hervor – der Gegenstand, auf den er sich bezieht, wird durch ihn als das „Draußen“ und „Dort“ Befindliche, vom „Ich“ und „Hier“ örtlich Geschiedene gekennzeichnet[3].

Aus dieser Genesis des Artikels heraus wird es verständlich, daß er seine allgemeinste sprachliche Funktion, als Ausdruck der Substanzvorstellung zu dienen, nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Reihe von Vermittlungen hindurch, erlangt. Die Kraft der „Substantivierung“, die ihm eignet, bildet sich erst allmählich heraus. In den Sprachen der Naturvölker finden sich gewisse Demonstrativpronomina, die ganz im Sinne des bestimmten Artikels gebraucht werden; aber dieser Gebrauch bleibt nicht eindeutig auf die Klasse der „substantivischen“ Wörter bezogen. Im Ewe steht der Artikel, der hier dem Wort, auf das er hinweist, nachgestellt wird, nicht nur nach Substantiven, sondern auch nach dem absoluten Pronomen, nach Adverbien und nach Konjunktionen[4]. Und auch dort, wo er sich im Kreise der Dingbezeichnung, der eigentlich-„gegenständlichen“ Vorstellung hält, läßt sich noch deutlich verfolgen, daß der allgemeine Ausdruck der „Objektivierung“, den er in sich


  1. [1] Vgl. hrz. bes. den Abschnitt „vom Artikel“ in Grimms Deutscher Grammatik (I, 366 ff.); zum Slawischen s. Miklosich, Vgl. Grammat. der slawischen Sprachen, ² IV, 125.
  2. [2] S. Dillmann, Grammatik der äthiop. Sprache, S. 333 ff., Brockelmann, Grundriß I, 466.
  3. [3] Vgl. Brugmann, Grundriß ² II, 2, 315.
  4. [4] Näheres bei Westermann, Grammat. der Ewe-Sprache, S. 61.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/170&oldid=- (Version vom 8.10.2022)