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besteht. Was diese Synthese von dem Verfahren der sogen. „polysynthetischen“ Sprachen unterscheidet, ist dies, daß sie sich auf eine vorangegangene Analyse stützt. Die Verknüpfung, die sich hier vollzieht, ist keine bloße Verschmelzung, kein Ineinanderlaufen der Gegensätze – sondern sie setzt eben diese Gegensätze selbst und deren scharfe Auseinanderhaltung und Sonderung voraus. Mit der Entwicklung der persönlichen Fürwörter hat sich das Gebiet des subjektiven Seins von dem des objektiven im sprachlichen Ausdruck klar geschieden – und doch fassen sich eben die Ausdrücke für das subjektive Sein mit denen für das objektive Geschehen in der Flexion des Verbums wieder zu einer neuen Einheit zusammen. Wo immer man in dieser Zusammenfassung die wesentliche und spezifische Natur des Verbums ausgedrückt findet – da muß man daher folgerecht schließen, daß diese Natur sich erst in der Verknüpfung des verbalen Elements mit den Ausdrücken für das persönliche Sein vollende. „Denn das aktuale Sein, welches in der grammatischen Vorstellung das Verbum charakterisiert,“ – sagt Humboldt – „läßt sich nicht leicht an sich ausdrücken, sondern verkündigt sich nur dadurch, daß es ein Sein auf eine bestimmte Weise in einer bestimmten Zeit und Person ist und daß der Ausdruck dieser Beschaffenheit unzertrennlich in das Grundwort verwebt ist, zum sicheren Zeichen, daß dasselbe nur mit ihnen gedacht und gleichsam in sie versetzt werden soll. Seine (des Verbums) Natur ist gerade diese Beweglichkeit, liegt in der Unmöglichkeit anders, als in einem einzelnen Fall fixiert zu werden.“[1][WS 1] Dennoch gehört sowohl die zeitliche wie die persönliche Bestimmung, die temporale wie die personale Fixierung des Verbalausdrucks, nicht zu seinem anfänglichen Grundbestand, sondern beide bezeichnen ein Ziel, das in der sprachlichen Entwicklung erst relativ spät erreicht wird. Für die Zeitbestimmung hat sich dies bereits ergeben[2] – für die Beziehung auf das Ich kann man sich die allmählichen Übergänge, die hier stattfinden, verdeutlichen, wenn man die Art betrachtet, in der einzelne Sprachen die Sphäre des „transitiven“ Verbalausdrucks von der des „intransitiven“ Ausdrucks, auch durch rein lautliche Mittel, unterscheiden. So wird z. B. in verschiedenen semitischen Sprachen das intransitive oder halbpassive Verbum, welches nicht eine rein tätige Handlung, sondern einen Zustand und ein Leiden ausdrückt, durch eine andere Vokalaussprache bezeichnet. Im Äthiopischen ist, nach Dillmann, diese Unterscheidung der intransitiven Verba durch die Aussprache ganz lebendig geblieben: alle Verba, welche Eigenschaften, leibliche oder geistige


  1. [1] Humboldt, Kawi-Werk, II, 79 f.
  2. [2] Vgl. ob. S. 171 f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Fußnotenziffer ¹ fehlt, die Fußnote wurde anhand des Zitats hier eingefügt.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/258&oldid=- (Version vom 19.1.2023)