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des Angesprochenen liegt; oder es wird die eine Form für ein dem Redenden nahestehendes, die andere für ein vom Redenden und Angeredeten gleich weit entferntes, eine dritte für ein abwesendes Objekt gebraucht[1].

So bildet auch für die Sprache die genaue Unterscheidung der räumlichen Stellen und der räumlichen Entfernungen den ersten Ansatzpunkt, von dem aus sie zum Aufbau der objektiven Wirklichkeit, zur Bestimmung der Gegenstände fortschreitet. Auf der Differenzierung der Orte gründet sich die Differenzierung der Inhalte – des Ich, Du und Er auf der einen, wie der physischen Objektkreise auf der anderen Seite. Die allgemeine Erkenntniskritik lehrt, daß der Akt der räumlichen Setzung und der räumlichen Sonderung für den Akt der Objektivierung überhaupt, für die „Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand“ die unentbehrliche Vorbedingung ist. Das ist der Kerngedanke, aus dem heraus Kant seine „Widerlegung des Idealismus“, als eines empirisch-psychologischen Idealismus, geschaffen hat. Schon die bloße Form der räumlichen Anschauung trägt in sich den notwendigen Hinweis auf ein objektives Dasein, auf ein Wirkliches „im“ Raume. Die Entgegensetzung eines „Innen“ und „Außen“, auf welcher die Vorstellung vom empirischen Ich beruht, ist selbst nur dadurch möglich, daß zugleich mit ihm ein empirischer Gegenstand gesetzt wird: denn das Ich vermag sich des Wechsels seiner eigenen Zustände nur dadurch bewußt zu werden, daß es ihn auf ein Dauerndes, auf den Raum und auf ein Beharrliches im Raume bezieht. „Nicht allein, daß wir alle Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (die Bewegung), in Beziehung auf das Beharrliche im Raume (z. B. Sonnenbewegung in Ansehung der Gegenstände der Erde) vornehmen können, so haben wir sogar nichts Beharrliches, was wir dem Begriffe einer Substanz als Anschauung unterlegen könnten, als bloß die Materie … Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß


  1. [1] Der Unterschied in der Bezeichnung eines sichtbaren und unsichtbaren Objekts ist in besonderer Schärfe in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen ausgeprägt (vgl. bes. die Angaben über das Kwakiutl, die Ponca- und die Eskimosprache bei Boas, Handbook S. 41 f., 445 ff., 945 ff. und Gatschet, Klamath language, S. 538). Die Bantusprachen besitzen die Demonstrativa in drei verschiedenen Formen: die eine gibt an, daß das Gezeigte dicht bei dem Redenden ist, die andere, daß es bereits bekannt, also in den Gesichts- und Gedankenkreis des Redenden schon eingetreten ist; die dritte, daß es vom Redenden sehr weit entfernt oder gar nicht zu sehen ist (Meinhof, Bantugrammat., S. 39 f.). Für die Südseesprachen vgl. z. B. Humboldts Angaben über das Tagalische (W. VI, 1, 312 f.)
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/168&oldid=- (Version vom 8.10.2022)