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wenn nämlich eine Handlung bezeichnet werden soll, die schon in der Vergangenheit angefangen hat, sich aber in die Gegenwart fortsetzt und sich unmittelbar in sie erstreckt – andererseits kann das „Imperfektum“, das eine schon im Werden begriffene, aber noch nicht vollendete Handlung ausdrückt, in diesem Sinne für eine Handlung jeder Zeitstufe, für eine künftige sowohl, wie für eine gegenwärtige oder vergangene gebraucht werden[1]. Aber auch dasjenige Sprachgebiet, in dem der reine Relationsbegriff der Zeit und der Ausdruck der reinen Zeitunterschiede der Handlung zur relativ höchsten Durchbildung gelangt ist, hat diese Durchbildung nicht ohne mannigfache Vermittlungen und Zwischenstufen erreicht. Die Entwicklung der indogermanischen Sprachen zeigt, daß auch in ihnen die Unterscheidung der Aktionsarten derjenigen der eigentlichen „Tempora“ vorausgegangen ist. In der indogermanischen Urzeit – so betont z. B. Streitberg – hat es überhaupt keine ‚Tempora‘, d. h. keine formalen Kategorien gegeben, deren ursprüngliche Funktion es war, zur Bezeichnung der relativen Zeitstufen zu dienen. „Die Formenklassen, die wir ‚Tempora‘ zu nennen gewohnt sind, haben an sich mit der relativen Zeitstufe nicht das geringste zu schaffen. Zeitlos sind vielmehr alle Präsensklassen, alle Aoriste, alle Perfecta in allen ihren Modis, und sie unterschieden sich voneinander nur durch die Art der Handlung, die sie charakterisierten. Gegenüber dieser Fülle von Formen, die zur Unterscheidung der Aktionsarten dienten, nehmen sich die Mittel, die das Indogermanische zur Bezeichnung der Zeitstufen in Anwendung brachte, bescheiden, ja ärmlich genug aus. Für die Gegenwart war eine besondere Bezeichnung überhaupt nicht vorhanden, hier genügte die zeitlose Handlung vollauf. Die Vergangenheit aber ward durch ein zur Verbalform tretendes temporales Adverbium ausgedrückt: das Augment … Die Zukunft endlich ward, wie es scheint, in indogermanischer Urzeit nicht auf einheitliche Weise ausgedrückt. Eines dieser Mittel, vielleicht das ursprünglichste, war eine modale Form von wahrscheinlich voluntativischer Bedeutung[2].“ Dieser Vorrang der Bezeichnung der Aktionsart vor der Zeitstufe tritt auch in der Entwicklung der einzelnen indogermanischen


  1. [1] Näheres über den Gebrauch der „Tempora“ in den semitischen Sprachen s. bei Brockelmann, Grundriß II, 144 ff. Auch für die ural-altaischen Sprachen betont H. Winkler (Das Uralaltaische, S. 159), daß in dem uralaltaischen „Verbalnomen“ gegenüber der Fülle determinierender und modaler Bestimmungen, die es enthält, das „ureigentliche Verbalgebiet“, die Zeitenbildung, absolut zurücktrete, daß sie als sekundär, fast nebensächlich erscheine.
  2. [2] Streitberg, Perfektive und imperfektive Aktionsart (Paul-Braune-Beiträge XV [1891], S. 117 f.).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/194&oldid=- (Version vom 22.10.2022)