Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/188

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Attributivum liegen die Stadien der Handlung, im Sein die der Zeit[1]. Aber neben dieser allgemeinen Betrachtung, die sich in der Einleitung zum Kawi-Werk findet, steht freilich in dem Werke selbst der Hinweis, daß nicht alle Sprachen diese Beziehung in gleicher Deutlichkeit ausprägen. Während wir gewohnt seien, die Beziehung der Zeit nur in Verbindung mit dem Verbum als Teil der Konjugation zu denken, hätten z. B. die malayischen Sprachen einen Gebrauch entwickelt, der sich nicht anders als dadurch erklären lasse, daß sie diese Beziehung an das Nomen anknüpfen[2]. In großer Klarheit tritt dieser Gebrauch dort hervor, wo die Sprache dieselben Mittel, die sie zur Unterscheidung örtlicher Verhältnisse ausgebildet hat, unmittelbar auch für die Unterscheidung zeitlicher Bestimmungen verwendet. Das Somali benutzt die früher erwähnte Differenzierung in den Vokalen des bestimmten Artikels nicht nur, um damit Unterschiede der räumlichen Stellung und Lage, sondern auch um zeitliche Unterschiede zur Darstellung zu bringen. Die Entwicklung und Bezeichnung der Temporalvorstellungen geht hier der der Lokalvorstellungen genau parallel. Mittels der drei Artikelvokale können reine Nomina, die für unsere Vorstellung nicht das Geringste von einer zeitlichen Bestimmung in sich tragen, also z. B. Worte wie „Mann“ oder „Krieg“, mit einem gewissen zeitlichen Index versehen werden. Der Vokal -a dient zur Bezeichnung des zeitlich Gegenwärtigen, der Vokal -o bezeichnet das zeitlich Abwesende, wobei zwischen der Zukunft und der noch wenig entfernten Vergangenheit kein Unterschied gemacht wird. Auf Grund dieser Trennung wird dann erst mittelbar auch am Ausdruck der Handlung scharf unterschieden, ob sie abgeschlossen oder noch nicht abgeschlossen ist, ob sie punktuell ist oder eine größere oder geringere Dauer in sich schließt[3]. Eine solche Ausprägung reiner Temporalcharaktere am Nomen könnte leicht als Beweis eines besonders geschärften und verfeinerten Zeitsinnes aufgefaßt werden – wenn sich nicht auf der anderen Seite zeigte, daß gerade hier Zeitsinn und Ortssinn insofern noch völlig ineinanderfließen, als das Bewußtsein für das Spezifische der zeitlichen Richtungen noch ganz unentwickelt ist. Wie der Inhalt des Hier und Dort, so treten auch der Inhalt des Jetzt und Nicht-Jetzt deutlich auseinander, aber der Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft


  1. [1] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 223).
  2. [2] Kawi-Werk II, 286.
  3. [3] Näheres bei M. v. Tiling, a. a. O., S. 145 f. Solche zeitlichen Indices am Nomen finden sich auch häufig in den amerikanischen Eingeborenensprachen, s. z. B. Boas, Handbook of Americ. Ind. Lang. I, 39; Goddard, Athapascan (ibid. I, 110) u. s.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/188&oldid=- (Version vom 11.10.2022)