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Sprachen, wenngleich in verschiedenem Maße, deutlich zutage[1]. Für den Unterschied der momentanen und der dauernden Handlung haben viele dieser Sprachen ein eigenes lautliches Mittel ausgebildet, sofern die Formen, die zum Ausdruck der momentanen Handlung dienten, vom Verbalstamm mit einfachem Wurzelvokal, die Ausdrücke für die dauernde Handlung dagegen vom Verbalstamm mit gesteigertem Wurzelvokal gebildet wurden[2]. Allgemein pflegt man in der Grammatik der indogermanischen Sprachen seit G. Curtius die „punktuelle“ Aktion von der „kursiven“ zu unterscheiden, welcher Unterscheidung dann die weiteren Differenzen der perfektischen, der iterativen, der intensiven, der terminativen Aktion u. a. zur Seite treten[3]. Die einzelnen Sprachen des indogermanischen Kreises weichen hierbei in der Schärfe, mit der sie diese Differenzen ausprägen, sowie in dem Grad der Ausbildung, den ihnen gegenüber die rein temporalen Bestimmungen erhalten, z. T. erheblich voneinander ab[4]; aber immer ist deutlich, daß die scharfe Bezeichnung der relativen Zeitstufe ein verhältnismäßig spätes Ergebnis ist, während die Bezeichnung der allgemeinen „Zeitgestalt“ eines Vorgangs oder einer Handlung einer früheren Schicht des Denkens und Sprechens anzugehören scheint.

Am weitesten entfernt von der primären Stufe der Zeitanschauung


  1. [1] Für das Griechische vgl. z. B. Brugmann, Griech. Grammat. ³, S. 469: „Zur Aktionsart mußte seit urgriechischer Zeit jeder Verbalbegriff in irgendein Verhältnis treten, zu der Kategorie der Zeitstufe nicht. Es gab von uridg. Zeit her sehr viele zeitstufenlose Verbalformationen, aber keine ohne Aktionsart.“ Ein Vergleich der homerischen mit der altattischen Sprache zeigt, daß es erst ganz allmählich im Griechischen mehr und mehr zur Regel wird, das Zeitverhältnis durch das Verbum selbst zu unzweideutigem Ausdruck zu bringen (ibid.).
  2. [2] So werden im Griechischen Stämme wie λαβ, πιθ, φυγ in der ersteren Funktion, dagegen Stämme wie λαμβ, πειθ, φευγ in der zweiten verwendet: näheres bei G. Curtius, Zur Chronologie der indogerm. Sprachforschung, Abh. der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. Phil.-hist. Klasse V (1870), S. 229 ff.
  3. [3] S. G. Curtius, Die Bildung der Tempora und Modi im Griechischen u. Lateinischen. Sprachvergl. Beiträge I (1846), S. 150 ff.
  4. [4] Im Flexionssystem der germanischen Sprachen treten die Unterschiede der Aktionsarten, obwohl sie auch hier in vielen sprachlichen Einzelerscheinungen deutlich erkennbar bleiben (vgl. z. B. H. Paul, Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein, Abh. der k. bayer. Akad. d. Wiss., I. Cl., XXII, 161 ff.) schon früh in ihrer Bedeutung zurück; dagegen erhalten sie sich sehr deutlich in den baltisch-slawischen Sprachen, die insbesondere den Gegensatz der „perfektiven“ und „imperfektiven“ Aktion weiterbilden und ihm gemäß alle Verba in zwei Klassen scheiden. Näheres bei Leskien, Grammatik der altbulgarischen (altkirchenslawischen) Sprache, Heidelb. 1909, S. 215 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/195&oldid=- (Version vom 22.10.2022)