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melior, optimus, im griech. ἀγαθός, ἀμείνων ἄριστος, βελτίων und βέλτιστος κρείττων und κράτιστος der Fall ist) – so hat man dies darauf zurückgeführt, daß hier eine ältere „individualisierende“ Auffassung durch die spätere „gruppierende“ Ansicht noch deutlich hindurchscheine, – daß die ursprüngliche „qualitative Sprachformung“ sich gegenüber der mehr und mehr um sich greifenden Tendenz zur „quantitativen Sprachformung“ behaupte[1]. Statt der Abstraktion eines einheitlich-konzipierten und lautlich einheitlich-bezeichneten Eigenschaftsbegriffs, der sich nur in seiner Gradabstufung unterscheidet, begegnet uns hier eine Grundanschauung, die jedem „Grad“ einer Eigenschaft noch sein eigenes unvertauschbares Sein beläßt, die in ihm also nicht ein bloßes „Mehr“ oder „Weniger“, sondern ein Abgesondertes und „Anderes“ sieht. Klarer noch tritt diese Ansicht in solchen Sprachen heraus, die eine eigene Form der Steigerung des Adjektivums überhaupt nicht entwickelt haben. In der großen Mehrzahl der Sprachen fehlt das, was wir als „Komparativ“ und „Superlativ“ zu bezeichnen pflegen, völlig. Das Verhältnis der Gradunterscheidung kann hier immer nur mittelbar durch Umschreibungen wiedergegeben werden, indem hierfür entweder verbale Ausdrücke, wie „übertreffen“, „überwinden“, „hinausgehen“ gebraucht werden[2] oder die beiden Bestimmungen, zwischen denen der Vergleich vollzogen werden soll, in einfacher Parataxe nebeneinander treten[3]. Auch adverbiale Partikel, die ausdrücken, daß ein Ding im Vergleich mit einem andern oder „gegenüber“ einem andern groß oder schön u. s. w. ist, können in diesem Sinne verwendet werden[4]. Vielen dieser Partikeln haftet ursprünglich ein räumlicher Sinn an, so daß sich hier die qualitative Gradabstufung auf die örtlichen Verhältnisse des Hoch und Tief, des Oben und Unten zu stützen und aus ihr hervorzugehen scheint[5]. Auch hier setzt somit das sprachliche Denken


  1. [1] S. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Heidelberg 1899, S. 49 ff.
  2. [2] Beispiele hierfür insbesondere aus afrikanischen Sprachen bei Meinhof, Bantugrammatik, S. 84; bei Westermann, Ewe-Grammat., S. 102, Golasprache, S. 39, 47, Roehl, Schambala-Grammatik, S. 25.
  3. [3] Beispiele bei Roehl, a. a. O., S. 25; Codrington, Melanes. Languages, S. 274; Gatschet, Klamath-Language, S. 520 f.
  4. [4] S. z. B. Migeod, The Mende Language, London, 1908, S. 65 u. s. – Von den semitischen Sprachen hat nur das Arabische eine besondere Form für die Steigerung der Adjektiva, einen sogen. „Elativ“, entwickelt; nach Brockelmann (Grundriß I, 372, II, 210 ff.) handelt es sich dabei um ganz junge, speziell arabische Bildungen.
  5. [5] In der Nuba-Sprache (vgl. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 31) wird der Komparativ durch eine Postposition umschrieben, die eigentlich „über“ bedeutet; im Fidschi ist in gleicher Funktion ein Adverb, das „aufwärts“ besagt, im Gebrauch (vgl. H. C. v. d. Gabelentz, Melanes. Spr., S. 60 f.). Auch die Komparationssuffixe des Indogermanischen [208] -ero-, -tero- rühren nach Brugmann (Kurze vgl. Grammat., S. 321 ff.) von Adverbien lokaler Bedeutung her.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/223&oldid=- (Version vom 21.11.2022)